Dreizehn Jahre alt
Am nächsten Tag gehe ich nicht zur Schule. Meine Sitzung mit Queenie war ermüdend, und ich habe schlecht geschlafen. Ich stehe erst spät auf und fühle mich noch immer müde. Ich will wissen, wie es Lavender geht und mich vergewissern, ob alles okay ist. Meine Eltern haben mein Handy konfisziert, weshalb es keine andere Möglichkeit gibt, um mit ihr in Kontakt zu treten, als zu ihr zu gehen. Maverick ist mein bester Freund, also bin ich häufig dort, aber ich befürchte, das könnte sich ändern.
Womit ich recht habe.
Als ich nach unten gehe, sitzen meine Eltern und Lavenders Eltern um die Kücheninsel herum. Ihr im Flüsterton geführtes Gespräch erstirbt, sobald sich meine Mom zu mir umdreht. »Guten Morgen, Schätzchen, hast du gut geschlafen?«
Ich zucke mit den Achseln. Ich hatte Albträume, in denen ich Fetzen von Lavenders Kleid und ihre zerbrochene Brille vor einer Tür finde, die ich nicht öffnen kann. Jedes Mal, wenn ich ihren Namen rufen wollte, kam nur ein Flüstern heraus. Es fühlt sich an, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen.
Meine Mom steht auf und kommt um die Insel herum, um mich zu umarmen. Normalerweise wäre mir das in Gegenwart Dritter peinlich, aber heute Morgen brauche ich es. Ich mag es nicht, wenn sich meine Eltern über mich ärgern, und gestern Abend haben sie das getan. Ich bin bereits größer als meine Mom, also muss ich mich hinunterbeugen. Als sie mich wieder loslässt, glänzen ihre Augen, als versuchte sie, nicht zu weinen.
»Was ist los?«
Sie streicht mir die Haare aus der Stirn. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Das haben wir doch gestern Abend gemacht.« Mein Magen krampft sich zusammen.
»Ich weiß, aber wir dachten, es wäre das Beste, wenn alle anwesend sind, und Queenie kommt auch.«
Ich blicke zu den anderen hinüber. Sie sehen müde und traurig aus. »Was ist mit Lavender?«
»Queenie bringt sie mit. Du solltest dich anziehen, sie sind bald da. Ich mache dir einen Toast, okay?«
»Okay.« Ich nicke benommen und gehe wieder nach oben, um mich anzuziehen. Das alles fühlt sich falsch an.
Zwanzig Minuten später sitze ich am Tisch mit einem Glas Orangensaft und gebuttertem Toast, den ich sowieso nicht essen kann, so nervös bin ich – vor allem, weil Lavender mir gegenüber am Tisch sitzt, ihre Eltern zu ihrer Rechten wie auch meine neben mir.
Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, was das Blau noch mehr leuchten lässt. Sie verschränkt die Hände auf dem Tisch und fährt ein ums andere Mal mit den Zähnen an der Narbe auf ihrer Unterlippe entlang. Ihre Lippen sind gerötet und wund.
Queenie sitzt am Kopfende des Tisches. Ihre Augen sind sanft und voller Mitgefühl, aber heute sieht sie ebenfalls nervös aus und so, als wäre ihr ein wenig unbehaglich.
»Wisst ihr, warum wir alle hier sind?«, fragt sie.
»Wegen mir«, sagt Lavender leise.
Ihre Mom legt ihre Hand auf Lavenders, drückt sie aber nicht.
»Hier geht es nicht nur um dich, Lavender. Wenn das so wäre, wärst nur du hier«, erklärt Queenie. »Was gestern passiert ist, hat uns deutlich gemacht, wie diese Situation außer Kontrolle geraten ist. Wir dürfen uns nicht von einer anderen Person abhängig machen, um unsere Ängste zu besänftigen.«
»Das ist nur, wenn es ganz schlimm ist«, erwidere ich. »Und ich sorge dafür, dass sie aufhören.«
»Lavenders Panikattacken haben an Häufigkeit und Intensität zugenommen in den letzten Monaten«, sagt Queenie.
»Das liegt daran, dass Courtney sie drangsaliert. Und die Mittelstufe ist anders. Es war für mich auch schwer am Anfang«, kontere ich.
»Ich stimme zu, dass die Mittelstufe anders ist, und Lavender hat mir von dem Mobbing erzählt, mit dem wir uns befassen werden. Aber es ist mehr als das, Kody. Du verbirgst Sachen, und das ist für keinen von euch beiden gut.«
»Ich verberge gar nichts!« Doch das ist schwer zu glauben, denn es ist gelogen.
Queenie nickt Lavenders Dad zu, der eine dicke Mappe zum Vorschein bringt. Darin liegt ein Stapel weißer Blätter. Er schlägt sie auf und breitet die Blätter aus. Sein Blick begegnet meinem; er sieht nicht wütend aus, aber glücklich auch nicht. »Das sind die Textnachrichten zwischen dir und Lavender der letzten zwei Wochen.«
Ich blicke zu Lavender. Ihr Kinn zittert, und ich kann die Bitte um Entschuldigung in ihren Augen sehen. Sie hat nicht daran gedacht, die Nachrichten zu löschen, oder vielleicht haben ihre Eltern die Nachweise aufbewahrt. Ich habe meine gelöscht, aber nicht daran gedacht, dass Gleiche auch für Lavender zu tun.
Tränen laufen ihr über die Wangen, und ihre Schultern zucken, als sie sich zusammenkrümmt. Ihre Mom nimmt ihre Hand, wahrscheinlich damit sie sich nicht wieder selbst verletzt, obwohl ihre Fingernägel geschnitten sind.
»Ich weiß, dass dir Lavender wichtig ist, Kody, und du würdest ihr nie wehtun, aber dieses« – ihr Dad muss sich räuspern – »Kommunizieren fast vierundzwanzig Stunden am Tag, ohne dass jemand Bescheid wusste. Das ist für euch beide nicht gut.«
Meine Angst steigert sich rasant, als ich an die ganzen Nachrichten denke, die wir geschickt haben, die Dinge, die wir geschrieben haben, die Male, die Mädchen etwas Fieses zu ihr gesagt haben und ich Lavender versichert habe, das Mädchen sei eifersüchtig, weil Lavender viel hübscher sei. Ihr Dad hatte sie alle gelesen. Er weiß, dass wir uns manchmal spätabends schreiben, wenn sie nicht einschlafen kann, und dass unser Nachrichtenaustausch kontinuierlich ist; es ist das Erste, was wir morgens tun, und dann den ganzen Tag über. Wir sind die Rettungsleine für den jeweils anderen. Wieso verstehen sie das nicht?
»Sie ist meine Freundin«, sage ich. »Ich will nur helfen.«
Meine Mom drückt meine Hand. »Das wissen wir, Honey.«
»Ich denke, es wäre gut, ein paar Grenzen zu ziehen«, sagt Queenie sanft.
In Lavenders Gesichtsausdruck spiegelt sich die Panik wider, die ich empfinde.
»Grenzen?«, flüstert sie.
»Ihr beide braucht ein bisschen Abstand voneinander«, sagt meine Mom.
Queenie blickt zu meiner Mom, die Lippen geschürzt, und ich weiß, dass sie angestrengt darüber nachdenkt, was sie sagen möchte. »Diese Abhängigkeit wird langsam ungesund. Es ist nicht gut, dass ihr Dinge vor euren Eltern verheimlicht.« Queenie nimmt Lavenders freie Hand. »Es ging dir so gut, Lavender. Ich weiß, Mittelstufe ist anders, aber wir können im Leben nicht rückwärtsgehen; wir können nur immer weitermachen, was passiert nämlich sonst?«
»Wir bleiben in ungesunden Mustern stecken.« Lavenders Blick wandert kurz zu mir und dann wieder weg von mir. Zwei Tränen fallen auf die Tischplatte. »Ich kann mich bessern. Ich werde mich bessern. Ich werde an meiner Strategie arbeiten. Nur bitte …« Ihre Stimme bricht.
»Ich weiß, dass du das kannst, und es wird leichter sein, wenn wir euch beiden ein paar Grenzen setzen. Wir werden versuchen …«, sagt Queenie.
»Das Beste ist wohl, wenn die beiden eine Weile keinen Kontakt haben«, unterbricht Lavenders Dad. »Kody kommt nächstes Jahr in die Highschool. Er wird nicht da sein, Lavender, um dir zu helfen.«
»Aber er kann doch mein Freund sein, auch wenn wir nicht an derselben Schule sind.« Lavenders Augen sind groß und schnellen von ihrem Dad zu mir und zu Queenie.
»Natürlich kann er das, allerdings darfst du dich nicht allein darauf verlassen, dass er dir durch deine Panik hindurchhilft. Du musst dich auf dich selbst verlassen«, sagt Queenie.
Auch wenn ich es nicht sehen, es mir nicht eingestehen, es nicht glauben will, hat Lavenders Dad recht.
Ich werde nächstes Jahr nicht da sein. Und was dann? Wie kommt sie ohne mich klar? Ich habe Lavender geschadet, ohne es überhaupt zu merken. Indem ich sie behindert habe, anstatt ihr dabei zu helfen, sich weiterzuentwickeln.
Mir dreht sich der Magen um.
Aber Lavender war so hilflos gestern.
»Du musst auch ohne eine menschliche Krücke klarkommen«, erklärt Queenie.
Lavender bricht völlig zusammen.
Ich kann nur dabei zusehen, wie es passiert, wobei ich weiß, dass ich alles schlimmer gemacht habe für sie.
Ich will sie vor ihren Dämonen schützen und mich vor meinen. Aber sie sind immer da. Egal wie sehr wir versuchen, ihnen zu entkommen.
Etwas Dunkles breitet sich in meinem Inneren aus. Zorn, wie ich ihn zuvor noch nie gespürt habe, kocht hoch und mischt sich mit Verzweiflung, weil mir endlich klar wird, was alle anderen bereits zu wissen scheinen: Lavender ist ohne mich besser dran.