Gegenwart
Ich bewege mich minutenlang nicht, nachdem Kodiak weg ist, unsicher, was ich von seiner Reaktion und seinen Handlungen versus seinen Worten halten soll. Ich bin völlig verwirrt.
Ich lasse mich auf mein Bett plumpsen, während ich mir wie eine Idiotin vorkomme. Ich wollte es ihm heimzahlen wegen des Kunstunterrichts. Das habe ich davon, dass ich auf Loveys und Laceys Ratschläge gehört habe, nachdem sie Cooler getrunken hatten. Ich hatte nicht die ganzen betrunkenen Athleten bedacht, die mich betatscht haben. Ich meine, mir war klar, dass ich eine gewisse Aufmerksamkeit erregen würde, nur eben nicht so viel. Aber mit Kodiak und seinem fiesen Benehmen umzugehen ist erschöpfend.
Ich werde das hier morgen bestimmt bereuen. Mehr noch, als ich es schon tue.
Am nächsten Morgen bin ich mit einem neuen Kostüm beschäftigt. Ich habe das andere bereits Ende letzter Woche abgegeben und angeboten, mit etwas Neuem zu beginnen. Ein geräuschvolles Plumpsen lässt mich zusammenfahren, und beinahe hätte ich mich mit einer Nadel gestochen. Ich ziehe meine Ohrstöpsel heraus, und der Klang lauter Männerstimmen dringt durch meine Tür. Ich stoße meinen Stuhl zurück und mache taumelnd ein paar Schritte. Ich bin ganz steif davon, die letzten Stunden in derselben Haltung verharrt zu haben. Und ich brauche ein paar Sekunden, bis ich die Tür entriegelt habe, weil meine Augen noch immer darauf eingestellt sind, auf winzige Stiche zu starren.
Ich eile die Treppen hinunter und stoße auf die Quelle für den Lärm. »Was ist hier denn los?«
River sitzt auf Kodiak und zielt mit seiner Faust auf sein Gesicht. »Ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht anfassen!«
»Sie war betrunken und hat mit Clarke geredet!« Kodiak hat gute Reflexe und wehrt sämtliche Schläge ab, was meinen Bruder nur noch wütender macht.
Woher weiß River von gestern Abend, wo er nicht einmal hier war?
Ich habe nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, weil bei dem Tempo, das die beiden vorlegen, bald ein Zahn fehlen und Blutspuren auf dem Teppich sein werden. Jemand muss die beiden aufhalten, und ich befürchte, dass ich das sein werde.
Ich umklammere Rivers Arm, den er gerade abwärtsschwingt, weshalb ich neben Kodiak auf dem Boden lande. Als ich einen Ellbogen gegen den Hals bekomme, komme ich rasch zu dem Schluss, dass es ein Fehler war, mich in den Kampf einzumischen.
Plötzlich ist der Kampf vorbei, weil ich mich auf dem Boden winde, während ich mir den Hals halte und nach Luft schnappe. Ich komme mir vor wie ein sterbender Fisch, aber es tut echt weh.
»Oh mein Gott! Alles okay mit dir?« River streckt die Hand nach mir aus, aber ich trete nach ihm, weil er sich das sparen kann.
Der Kampf wird fortgesetzt.
»Schau nur, was du gemacht hast!«, schreit River Kodiak an.
»Du hast mich angegriffen! Und du hast sie auf den Boden geworfen!«, brüllt Kodiak zurück.
»Stopp!«, keuche ich.
Sie machen beide dieses Männerding, wo sie nicht wissen, wie sie helfen sollen, also ringen sie miteinander und versuchen wohl, jeweils die Oberhand zu gewinnen.
Ich rolle herum und stehe auf, wobei ich schützend meinen Hals umklammere. Wenigstens weiß ich jetzt, wie meine Verteidigung aussehen wird, sollte mich jemals wieder jemand angreifen. »Was ist los mit euch beiden?«, krächze ich.
River hält mir sein Handy vor die Nase.
Ich schnappe es mir, um zu sehen, was auch immer das Problem ist. »Woher ist das?«
Es ist ein Foto von mir, wie ich über Kodiaks Schulter hänge. Ich schlage um mich, und er sieht aus, als würde er gleich einen Mord begehen.
»Jemand hat es gestern Abend gemacht«, knurrt River und wirbelt zu Kodiak herum. »Ich habe dir gesagt, dass du deine Finger von ihr lassen sollst!«
»Denkst du, es wäre besser gewesen, wenn Clarke sich an sie rangemacht hätte? Dieser Typ ist ein Vollidiot!«, brüllt Kodiak zurück.
Ich habe so die Nase voll davon. »Meint ihr das wirklich ernst?«, schreie ich. Es ist die einzige Chance, sich bei ihrem Gezanke Gehör zu verschaffen.
Beide drehen sich um.
»Zuerst einmal bin ich nicht blöd. Ich weiß, dass Clarke ein Idiot ist, und ich wäre nie so dumm, allein mit ihm in einem Raum zu sein. Und zweitens, hört ihr euch eigentlich zu? Ich bin kein Kind mehr, ich bin erwachsen. Wenn ich zu viel Alkohol trinken, einen Tangabikini tragen und mit einem Blödmann flirten will, ist das mein gutes Recht.« Auch wenn ich es laut ausspreche, kann ich sämtliche Schwachstellen in dem schrecklichen Plan sehen. »Ich werde meine eigenen Fehler machen, wie alle anderen auch. Es ist erbärmlich, wie hier mit zweierlei Maß gemessen wird! Maverick hat jeden Monat eine neue ›Freundin‹, und an euch hängen doch die ganze Zeit irgendwelche Bunnys. Dann rede ich ein einziges Mal mit einem Typen, und Kodiak verwandelt sich in einen Höhlenmenschen, und ihr beide wollt jetzt was tun? Euch deswegen prügeln?« Ich werfe die Hände in die Luft. »Wisst ihr was? Ich habe genug davon. Ich kann und will mich nicht von etwas definieren lassen, was mir im Alter von sechs passiert ist. Ich brauche keine Bodyguards.«
Die beiden keuchen wütend, und das bin ich jetzt auch. Ich drängle mich an ihnen vorbei und gehe wieder nach oben.
»Ich wollte dich nur von etwas abhalten, das du bereuen würdest!«, ruft mir Kodiak hinterher.
Ich wirble herum. »Nein. Wolltest du nicht. Du hast dich wie ein Arsch benommen, und ich hab genug davon. Und du«, – ich zeige mit dem Finger auf River – »du solltest dich abregen und diese fürsorgliche Belagerung ein Stück runterfahren. Ich weiß, dass du mich beschützen willst oder was du da auch immer machst, aber Kodiak ist nicht der einzige Bösewicht da draußen. Er ist nur zufällig derjenige, auf den du’s abgesehen hast.« Ich kehre in mein Zimmer zurück und knalle die Tür zu.
Es ist gerade mal zehn. Ich werfe Sachen in meinen Rucksack. Ich muss hier weg, bevor ich wirklich noch die Nerven verliere. Ich bin mit Lovey und Lacey zum Lunch verabredet, um ihnen zu erzählen, wie mein idiotischer Plan ausgegangen ist.
Ich wäre besser gestern Abend zu ihnen gefahren und hätte das alles vermieden. Ich stecke mein Ökonomielehrbuch in meinen Rucksack. Ich schnappe mir auch ein paar Sachen zum Wechseln, weil die Chancen nicht schlecht stehen, dass ich bei Lacey und Lovey übernachte. Dieses ganze Testosteron treibt mich in den Wahnsinn.
Das Türschloss klickt leise. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es mein Zwillingsbruder ist.
»Ich brauche weder eine Belehrung noch einen Aufpasser.«
»Geht’s dir gut?« Seine Stimme klingt sanft und leise.
»Es geht mir gut.«
»Ich hätte gestern hier sein sollen.«
»Das hätte nichts geändert. Ich habe etwas gemacht, ohne es zu Ende zu denken, und dieses Ende war Kodiak, wie er überreagiert. Wäre er es nicht gewesen, dann du oder Mav.« Ich drehe mich zu ihm um.
River macht wie gewohnt ein finsteres Gesicht. Er sieht noch immer wütend aus, aber da ist noch etwas anderes … Verwirrung? Traurigkeit?
»Ich kapiere nicht, wieso du so etwas überhaupt tust. Du hasst Aufmerksamkeit, und es passt so gar nicht zu dir. Und seit wann besitzt du einen Tangabikini?«
Das ist eine einfache Frage. »Seit ich mit Gigi zum Sonnenbräunen war, bevor wir letztes Jahr nach Cancún geflogen sind.« Sie meinte, man könnte so Bräunungsstreifen vermeiden. Das Ergebnis war ein schwerer Sonnenbrand auf meinem Hintern. Ich habe helle Haut, und ein Po, der noch nie die Sonne gesehen hat, ist anscheinend empfänglicher für einen Sonnenbrand, auch mit Sonnencreme.
»Es erklärt noch immer nicht, weshalb du ihn in der Öffentlichkeit getragen hast.«
»Weil ich genug habe von dem Schwachsinn.«
»Meinst du Kody?«
»Ich meine das Ganze. Das Messen mit zweierlei Maß, nicht daten zu können, ohne dass ihr Typen euch wie hungrige Pitbulls auf jeden stürzt. Ich brauche eine Pause.«
»Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er hier einzieht.«
»Es ist nicht nur er.«
»Aber er ist ein Teil davon.«
»Er ist sowieso hier, River. Er ist Mavs bester Freund. Sie spielen zusammen Hockey, und er wohnt ein paar Häuser weiter.«
»Es war früher nicht so mit euch beiden.«
Ich massiere mir die Schläfen. »Es ist schon Jahre her, dass es mal anders war.«
Er senkt den Kopf und stupst mich mit seinem Fuß an. Wie alles andere an mir – außer meinen Brüsten – sind meine Füße klein. Seine hingegen sind riesig. »Darf ich dich was fragen?«
»Klar, aber ich behalte mir vor, nicht zu antworten, wenn mir nicht danach ist.«
Er nickt einmal. »Habe ich das kaputtgemacht? Bin ich der Grund dafür, dass es so ist?«
»Nein, River. Ich bin der Grund dafür, dass es so ist.«
Er zieht die Unterlippe zwischen seine Zähne und ähnelt so mehr einem Kind als einem jungen Mann. »Als wir Kinder waren, habe ich ihn gehasst.«
Ich lache. »Ich glaube nicht, dass sich das sehr geändert hat.«
Er zuckt mit den Achseln. »Es gefiel mir nicht, dass er anscheinend immer da war, wenn du eine Krise hattest.« Er schweigt einen Moment lang, und ich warte ab, weil mir bewusst ist, dass er noch nicht fertig ist. »Und jetzt, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, alles nur noch schlimmer gemacht zu haben.«
»Wie kommst du darauf, wo du doch gar nichts damit zu tun hast?«
Er hält den Blick auf unsere Füße gerichtet. »Habe ich doch irgendwie.«
»Kannst du das bitte erklären?«
Er seufzt. »Ich habe nach der Sache in der Mittelschule ein Gespräch zwischen Mom und Dad mitangehört. Als Kody Ärger bekam, weil er seinen Dad angelogen und das Hockeytraining verpasst hat.«
Schon lustig, wie anders jeder diesen Vorfall erlebt hat. »Wegen mir. Er hatte Ärger wegen mir.«
»Du hattest es schwer zu der Zeit, und ich wusste, dass du viel mit Kody redest, weil er dich auf eine Weise verstand, wie ich es nicht konnte.« Er hält inne, und die Falte auf seiner Stirn vertieft sich. »Das habe ich auch gehasst, dass ich nicht verstehen und nicht helfen konnte.«
»Ich weiß, aber es gab einen Grund, weshalb niemand wollte, dass ich mich auf Kodiak verlasse, um meine Panikattacke zu überstehen. Sogar er hat das verstanden.« Und sie hatten alle recht.
»Darüber haben Mom und Dad gesprochen, weil du so niedergeschlagen warst und sie nicht wussten, was sie tun sollten. Aber Mom hat ein paar Sachen gesagt, und ich habe ihre Bedeutung missverstanden, weil ich nicht glauben wollte, dass es dir wegen Kody schlechter ging. Ich wollte, dass es aufhört, und ich dachte, dass du dich mehr auf mich verlassen würdest als auf ihn.«
Da war sie. Die Schuld, die er wie einen Anker mit sich herumschleppt. Jetzt, weil er denkt, er ist der Grund dafür, dass Kodiak und ich so zerstritten sind. »Zuerst einmal hätte sich nichts verbessert, wenn ich mich mehr auf dich als auf Kodiak verlassen hätte. Das Problem war, dass ich überhaupt jemanden gebraucht habe. Und ich verstehe noch immer nicht, wieso du verursacht haben solltest, was passiert ist.«
»Also ich war das mit den Textnachrichten.«
»Du hast was gemacht?« Dieses Gespräch verursacht mir Kopfschmerzen.
»Ich habe den Kontakt auf deinem Telefon blockiert, damit du sie nicht mehr bekommst.«
»Wie bitte? Wann hast du das getan? Wieso?« Meine Kehle ist plötzlich wie zugeschnürt.
»Gleich nachdem Kodiaks Familie am Ende der sechsten Klasse nach Philly gezogen ist. Ich wusste, dass es nur noch schwerer für dich wäre, wenn er dir weiter Nachrichten schicken würde, wo er so weit weg war. Ich habe nach ihrem Umzug gesehen, dass er dir geschrieben hat, ohne dass du es schon bemerkt hattest, und habe ihm geantwortet.«
»An meiner Stelle?«
Er nickt. »Ich weiß, dass es anfangs schwer für dich war, aber ohne ihn warst du besser dran. Jedes Mal, wenn er geschrieben hat, hast du geheult und wieder einen Zusammenbruch gehabt, also habe ich ihm mitgeteilt, dass es zu schwer sei, mit ihm befreundet zu bleiben und dass er aufhören sollte zu schreiben. Dann habe ich ihn blockiert. Ich weiß, dass es falsch war, aber es war so schwer, dir dabei zuzusehen, wie du dich quälst. Ich wollte einfach, dass es aufhört. Und ich weiß, dass es eine Zeit lang schlimmer war, doch dann ging es dir immer besser, und ich dachte, ich hätte das Richtige getan.«
Mir ist übel, und ich hebe eine Hand. »Du hattest kein Recht, dich einzumischen.«
»Ich weiß, Lav. Tut mir leid.« Er streicht sich mit beiden Händen durchs Haar.
»Das wird nicht sofort vergeben.« Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter und gehe an ihm vorbei.
»Wohin gehst du?«
»Weg von dir und dem Schwachsinn, der in diesem Haus passiert.« Ich weiß nicht einmal, wie ich das Ganze verarbeiten soll, oder ob es überhaupt etwas zu bedeuten hat. Es ändert nichts an der Tatsache, dass Kodiak schrecklich zu mir war. Aber vielleicht erklärt es das. Ich weiß es nicht.
Kodiak ruft meinen Namen, als ich an seinem Zimmer vorbeigehe, aber ich ignoriere ihn und gehe weiter.
Das Wohnzimmer ist ausnahmsweise einmal leer. Kein Maverick, keine x-beliebigen Typen, kein BJ auf dem Fernsehsessel. Ich schlüpfe in meine Schuhe und schlage die Tür hinter mir zu, womit ich das Poltern auf der Treppe abschneide. Ich drücke auf den Startknopf und danke den Karmagöttern, dass ich daran denke, ihn zu entriegeln, bevor ich den Wagen erreiche. Ich reiße die Tür auf, schleudere meinen Rucksack auf den Beifahrersitz und werfe mich regelrecht hinein, wobei ich die Tür hinter mir zuziehe und mir die Finger am Sperrknopf einklemme.
Ich schaffe es, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und den Sicherheitsgurt anzulegen, als plötzlich die Vordertür aufgeht. Ich erinnere mich daran, dass ich den Schlüssel umdrehen muss, um hier wegzukommen, und wenn ich das tue, das Auto wieder vom Klang eines Hörbuchs erfüllt sein wird. Zum Glück ist es diesmal nicht mitten in einer Sexszene.
Kodiak steht in Jogginghosen auf der vorderen Veranda. Ich weiß, dass er irgendetwas ruft, weil sein wahnsinnig schöner Mund auf- und zugeht. Er rauft sich die Haare und wirbelt herum, als River sich zu ihm gesellt. Ich erhasche einen Blick auf einen blauen Fleck in Form von Zahnabdrücken an seiner Seite. Ich muss gestern Abend ganz schön zugebissen haben.
Ich lege den Rückwärtsgang ein und wünschte mir, ich hätte vorher schon rückwärts in die Einfahrt eingeparkt, damit meine Flucht reibungsloser verläuft. Ich biege auf die Straße ein und zeige ihnen im Wegfahren den Stinkefinger.
Ich bin erst um halb zwölf mit Lovey und Lacey verabredet, also beschließe ich spontan, beim Büro des Studierendenwohnheims vorbeizufahren. Es waren mindestens zehn Mädchen auf der Warteliste, aber es springen auch dauernd Leute ab. Als ich das letzte Mal da war, um mich zu erkundigen, waren noch immer vier Mädchen vor mir. Das Glück scheint mir nicht gewogen zu sein, doch vorbeizuschauen schadet nicht.
Als ich ankomme, sitzt eine Frau mittleren Alters hinter dem Schreibtisch und scheint nicht gerade begeistert zu sein von dem, was auf ihrem Bildschirm zu sehen ist. Ich erhasche die Spiegelung auf ihrer Brille und stelle fest, dass es Facebook ist. Sie tippt eine Minute lang wütend vor sich hin und schlägt dann auf die Entertaste, bevor sie sich mir zuwendet. Ich versuche, ruhig zu bleiben, indem ich die gelben Gegenstände auf ihrem Schreibtisch zähle.
Sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Wie kann ich dir helfen?«
»Hallo. Ich bin auf der Warteliste für das Studierendenwohnheim. Ich weiß, dass man mich anruft, falls sich irgendetwas tut, aber ich bin vorbeigefahren und dachte, ich schau mal rein und sehe nach, wo ich auf der Liste bin.«
Ihre Wange zuckt leicht genervt, und Hitze kriecht an meinem Rücken hinauf. Ich hasse es, Leuten auf den Wecker zu gehen.
»Lass mich kurz nachsehen. Ich brauche deinen Namen und die Nummer deines Studierendenausweises.«
»Vielen Dank. Ich heiße Lavender Waters.«
Sie blickt mich an. »Lavender? Das ist ein hübscher Name.«
»Dabei sind meine Eltern nicht einmal Hippies.«
Sie lächelt, diesmal freundlicher. Danke, Mom, für den merkwürdigen Namen. Ich gebe ihr die Nummer meines Studierendenausweises, und sie tippt auf ihrem Computer herum.
Plötzlich schnellen ihre Brauen hoch. »Oh! Wie’s aussieht, bist du die Nächste auf der Liste. Also eine gute Nachricht für dich.« Weiteres Tippen folgt. »Und anscheinend ist ein Platz im gemischten Wohnheim frei geworden.«
»Das ist ja toll! Wann kann ich einziehen?« Vielen, vielen Dank, Karma, dass du heute nicht fies zu mir bist.
Sie drückt noch ein paar Tasten. »Scheint sofort verfügbar zu sein. Ich muss mich beim Wohnheimteam rückversichern, aber möglicherweise kannst du heute Nachmittag schon einziehen.«
»Im Ernst?«
»Sieht so aus. Ich kann gleich anrufen und es herausfinden, wenn du möchtest.«
»Das wäre toll. Danke.« Ich setze mich und warte, während sie den Anruf tätigt. Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Bestimmt ist River sauer, wenn ich ausziehe, aber nach dem ganzen Mist, der sich zuletzt abgespielt hat, brauche ich ein wenig Freiraum und Unabhängigkeit. Ich will nicht im Schatten meiner Vergangenheit leben oder dem Rest meiner Familie erlauben, meine Entscheidungen zu beeinflussen, weil sie ihr Schuldgefühl belastet.
Tatsächlich kann ich noch diesen Nachmittag umziehen. Ich fülle den erforderlichen Papierkram aus, als mir auf einmal bewusst wird, dass ich meine Eltern anrufen und ihnen sagen muss, was ich tue. Von Rechts wegen bin ich erwachsen und darf meine eigenen Entscheidungen treffen, aber ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich mich auf die Warteliste habe setzen lassen, weil ich dachte, ich würde nie anrufen müssen. Außerdem muss ich das entweder von meinem Ersparten bezahlen oder zusehen, dass meine Eltern dafür blechen.
Meine Begeisterung schwankt, als ich zu meinem Wagen zurückkehre und mich auf das gefürchtete Telefonat einstelle. Videochat ist wahrscheinlich die klügste Vorgehensweise, auch wenn sich mir bei der Vorstellung der Magen umdreht. Ich atme ein paarmal tief ein und aus und rufe Moms Nummer auf – sie ist die vernünftigere von den beiden – und drücke auf Anrufen. Sie geht beim zweiten Klingeln ran, und ihr Gesicht erscheint auf dem kleinen Bildschirm.
Ihr Haar ist zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trägt eine Lesebrille. Dem Hintergrund nach zu urteilen, ist sie in ihrem Büro/Nähzimmer. »Wie geht es meiner Lieblingstochter?«
Ich lächle. Als einzigem Mädchen steht mir der Lieblingstochter-Titel zu. »Gut. Und dir?«
»Auch gut. Ich arbeite gerade an einem Projekt.« Sie runzelt die Stirn. »Bist du im Auto? Ist alles okay?«
»Äh, ja, klar. Alles gut. Aber ich muss dir was sagen.«
Sie setzt sich aufrechter hin und etwas fällt klappernd zu Boden. Meine Mom und ich haben beide das Ungeschicklichkeitsgen. »Ist was passiert?«
»Es ist nichts Schlimmes«, beruhige ich sie.
Sie zieht die Brauen hoch. »Wieso siehst du dann so aus, als wolltest du dir die Lippe abkauen?«
Ich lasse meine Lippe los. »Ich brauche ein besseres Pokerface.«
Meine Mom lacht. »Entschuldige, Schätzchen, du hast meine besten und schlimmsten Eigenschaften.« Ihr Ausdruck wird sanft und gleichzeitig ernst. »Du kannst mit mir reden. Das weißt du, ja? Egal, was es sein mag, ich bin immer auf deiner Seite.«
Ich nicke und blicke zum Autodach hinauf. Über meinem Kopf ist ein Fleck. Ich will gar nicht wissen, was es ist und wie er dort hingekommen ist. »Du weißt noch, wie wir entschieden haben, dass ich bei Mav und River wohne, um mich einzugewöhnen, anstatt ins Studierendenwohnheim zu ziehen.«
»Lass mich raten, mit deinen Brüdern zusammenzuleben, ist ein Albtraum.«
Ich blinzle ein paarmal, von ihrer Reaktion überrascht. Obwohl ich das vielleicht gar nicht sein sollte. Wir reden schließlich von meiner Mom. Sie und ich waren stets eine geeinte Front gegen das unerschöpfliche Testosteron und die müffelnde Sportausrüstung. Oder gegen Robbies grässliche Wissenschaftsexperimente. »Ähm, es ist jedenfalls nicht das, was ich unter Spaß verstehe.«
»Weil sie überbeschützende Chaoten sind, die zu viel Party machen, und das Haus ist immer voller angetrunkener Sportler?«, bemerkt sie.
»Ähhh … stimmt genau.«
»Das habe ich mir gedacht. Deine Brüder sind übrigens Dummköpfe. Ganz unter uns, ich folge ihnen und allen ihren Freunden in den sozialen Medien unter einem Fake-Account, also bekomme ich so gut wie alles mit, was sie tun.«
»Oh mein Gott.« Ich schlage mir die Hand vor den Mund. »Wie haben sie das noch nicht bemerkt?«
»Weil es ein Catfish-Account ist. Ich benutze Stockfotos von sexy Mädchen in Bikinis.« Sie verdreht die Augen.
»Du bist genial.«
»Nur raffiniert.« Sie legt den Kopf schräg. »Also ist es nicht das Traumszenario, das wir uns alle erhofft haben?«
»Nicht so richtig. Ich habe mich sogar auf die Warteliste für das Studierendenwohnheim setzen lassen.«
»Ich kann verstehen, dass du dir Optionen offenhältst.«
»Und heute hat man mir mitgeteilt, dass ein Zimmer verfügbar ist.«
Meine Mom nickt langsam, fast so, als wäre das keine Überraschung. »Kody ist doch kein zusätzlicher Grund dafür, dass du da rauswillst, oder? Und bevor du mir mit einem schrillen Nein antwortest, ich habe das Bild von euch beiden von gestern Abend schon gesehen.«
»Oh Scheiße.«
Sie macht Hmmm und streicht sich über die Unterlippe. Sie tut das immer, wenn sie mit mir redet, wahrscheinlich wegen der Narbe auf meiner. »Es sah nicht nach einem netten, spaßigen Lass-mich-dich-reintragen-damit-wir-es-uns-gemütlich-machen aus.« Sie sagt das absichtlich leicht dahin, aber ihre Besorgnis scheint hindurch.
Ich seufze. »Ich habe ihn verärgert.«
»Das habe ich mir gedacht. Was war los? Und war das ein Tangabikini?«
Ich kann spüren, wie meine Wangen brennen. Meine Mom ist nicht annähernd so exzessiv mit persönlichen Informationen wie Gigi, aber sie hat überhaupt kein Problem, manchmal unangenehme Themen anzusprechen.
»Gigi hat ihn mir fürs Sonnenbräunen vor unserer Cancún-Reise besorgt.«
»Na klar. Ich muss mich mal mit ihr unterhalten.« Meine Mom verdreht die Augen. »Dann war die Show mit dem nackten Hintern also dazu gedacht, jemandes Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Mom.«
»Na ja, du bist nicht gerade exhibitionistisch, also gehe ich davon aus, du wolltest damit etwas Bestimmtes erreichen.«
Ich seufze und erkläre, was passiert ist – nicht alles, aber den Teil, als Kodiak meinen Stundenplan gelesen und wie von Zauberhand als Aktmodell in meiner Kunstklasse aufgetaucht ist.
»Akt im Sinne von …«
»Pudelnackt.«
»Wirklich? Kody übergibt sich vor Spielen, und vor deiner gesamten Klasse hat er sich nackt ausgezogen?«
»Woher weißt du, dass er vor den Spielen kotzen muss?«
»Rook und dein Dad reden, und dein Dad erzählt mir alles, bevor er einschläft.«
»Oh ja, klar. Er war völlig nackt. Fast drei Stunden lang.«
»Nicht wahr.« Meine Mom tippt sich auf die Lippen. »Eine interessante Art, seine unsterbliche Liebe kundzutun.«
Jetzt ist es an mir, die Augen zu verdrehen. »Er hat sich mies verhalten.«
Meine Mom schenkt mir einen strafenden Blick, senkt den Kopf und kichert wie ein Teenager, was auch ungefähr ihr Sinn für Humor ist.
»Ehrlich, Mom.«
»Ach, komm schon. Es ist irgendwie lustig.«
»Vielleicht, wenn er sich nicht die ganze Zeit mir gegenüber wie ein Arschloch aufgeführt hätte.«
Das scheint sie zu ernüchtern. »So schlimm?«
Ich zucke mit den Achseln. »Ich weiß, dass alles irgendwie verkorkst war, als wir Kinder waren, aber das ist Jahre her. Ich begreife nicht, wieso er mich immer wieder daran erinnern muss, dass ich sein Leben ruiniert habe.«
»Du hast sein Leben nicht ruiniert, Lavender.«
»Na ja, er ist ziemlich erpicht darauf, mir das Gefühl zu geben. Und erzähl Lainey ja nicht, dass ich das gesagt habe. Ich kann es wirklich nicht gebrauchen, dass Lainey Kodiak bittet, nett zu mir zu sein. Dann bin ich das dumme Baby, das zu Mama rennt, wenn es nicht klarkommt«, fauche ich.
»Mit deiner Mutter zu reden macht dich nicht zu einem dummen Baby.«
Es gefällt mir irgendwie, dass sie gekränkt klingt.
Ich zeige auf ihr zweidimensionales Gesicht auf dem Screen. »Du erzählst es ihr nicht.«
Sie macht ein finsteres Gesicht. Sie hasst es wirklich, wenn man auf sie zeigt, was ich als Kind oft gemacht habe. »Tue ich nicht, aber ich wünschte, du hättest etwas zu mir gesagt, bevor wir zugestimmt haben, dass er bei euch einzieht, auch nur vorübergehend. Lainey und ich dachten, wir täten euch einen Gefallen, und ich glaube nicht, dass Kodiak denkt, du hättest sein Leben ruiniert.«
»Wir können ja anerkennen, dass wir darüber verschiedener Meinung sind. Du bist nicht hier, um die Nettigkeiten zu hören, die er in meiner Gegenwart von sich gibt.«
»Kody hat noch nie Nettigkeiten von sich gegeben, außer bei dir und Lainey. Er ist ein Mamakind durch und durch. Kodys Gehirn arbeitet nicht so wie das der anderen.«
»Das ist mir bewusst.«
»Ist dir ebenfalls bewusst, dass er ein Tattoo mit einem Unendlichkeitssymbol hat?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ein Tattoo gesehen hätte, als er nackt vor meiner Klasse posiert hat.«
»Unwahrscheinlich, weil es zwischen Ring- und Mittelfinger seiner linken Hand ist.« Ihr Gesichtsausdruck ist unglaublich süffisant.
»Woher weißt du so etwas?«
»Lainey und ich reden. Er hat es sich vor zwei Jahren machen lassen.« Sie seufzt, bevor sie fortfährt. »Sieh mal, Schätzchen, wir haben eine Menge Fehler gemacht, als ihr klein wart – die Situation eingeschlossen, als die Dinge außer Kontrolle gerieten. Lainey hat genauso ein schlechtes Gewissen deswegen wie ich. Wir haben unsere eigenen Ängste auf deine Beziehung zu ihm projiziert, weil wir uns Sorgen um die Zukunft gemacht haben. Ich glaube, keiner von uns hat bedacht, wie sehr euch das beide treffen würde, oder zu welchen Maßnahmen Kody greifen würde, um dir nicht länger wehzutun.«
»Um mir nicht länger wehzutun?« Ich runzle die Stirn. »Er ist ein Riesenarschloch. Im Vergleich zu ihm ist Rivers schlechte Laune eitel Sonnenschein.«
Meine Mutter verzieht das Gesicht. Es sieht wirklich aus, als hätte sie Schnupfen, was bedeutet, sie verkneift sich ihren Kommentar.
»Spuck’s schon aus, Mom.«
Sie seufzt und massiert sich die Schläfen. »Ich glaube, ich habe mich genug eingemischt.«
»Ach, komm! Du kannst hier nicht einen auf sorgenvoll machen und dann beschließen, deine Meinung nicht zu sagen!« Ich würde gern die Hände in die Luft werfen, aber ich halte mein Smartphone fest. Ich stecke es in die Armaturenhalterung, damit ich gestikulieren kann.
»Wir haben als Eltern ein paar große Fehler begangen. Wir wollten euch vor all den Dingen beschützen, die euch wehtun könnten, und manchmal haben wir übertrieben, weil wir euch in der Vergangenheit im Stich gelassen haben. Du hast eine Menge durchgemacht, Kleines, und dein Dad und ich sind wahnsinnig stolz auf dich. Was Kody betrifft, glaube ich nicht, dass er dich hasst.«
»Bei allem Respekt, aber da bin ich anderer Meinung.«
»Erinnerst du dich an das Stiftemäppchen, das du ihm zum Geburtstag gemacht hast, als du zehn warst?«
Peinlich berührt blicke ich weg. Wie könnte ich das vergessen? Ich war so aufgeregt. Ich hatte es mit allem möglichen Schreibzeug mit Hockey- und Wissenschaftsbezug gefüllt, weil das Kodiaks Lieblingsthemen waren. »Was spielt das hier für eine Rolle?«
»Er hat es noch immer.«
Ich sage nichts und bin mir der dramatischen Pause bewusst.
»Er hat es immer bei sich. Das letzte Mal, als er bei seinen Eltern zu Besuch war, hätte er beinahe ein Training verpasst, weil er fast einen Herzinfarkt gekriegt hätte, als er es nicht finden konnte und nicht ohne es gehen wollte.«
Ich habe keine Ahnung, wie ich das verstehen soll. Es steht in solchem Widerspruch dazu, wie er mit mir vom ersten Moment an, als er mich dieses Jahr gesehen hat, umgegangen ist. »Also was meinst du? Soll ich nicht ins Studierendenwohnheim umziehen? Soll ich ihn mir vorknöpfen?«
»Wenn du ins Wohnheim ziehen willst, dann solltest du genau das tun. Kody muss allein damit klarkommen, und vielleicht bist du ja der Tritt in den Hintern, den er braucht, indem du deine Unabhängigkeit zeigst.«
»Du bist also einverstanden damit?« Ich hatte einen Streit erwartet.
»Jawohl.«
»Was wird Dad wohl dazu sagen?« Schon allein der Gedanke an seine Reaktion macht mich nervös.
»Ich glaube nicht, dass er das zu Ende gedacht hat, als er wollte, dass du bei deinen Brüdern einziehst.«
»Wie meinst du das?«
»Die ganzen Partys und so weiter. Er ist wohl davon ausgegangen, dass du in einer geschützten Blase bist mit River und Maverick in der Nähe, aber er hat nicht bedacht, dass die Jungs nicht nur beschützerisch sind, sondern auch ihren Hormonen folgen.«
»Ich will sowieso nicht ihre Mannschaftskumpel daten«, murmle ich.
Meine Mom macht ein unbestimmtes Geräusch. »Ich habe mich nicht mit River und Dad angelegt, nur weil ich dachte, es wäre ein guter und sicherer Übergang. Ich dachte außerdem, es gäbe dir und Kodiak die Gelegenheit, wieder Kontakt aufzunehmen, was scheinbar nicht so gut geklappt hat wie erhofft. Ich kümmere mich um Dad.«
»Sicher?« Ich habe nicht wirklich die Absicht, mit ihm zu sprechen, aber ich sollte es wohl zumindest anbieten.
»Oh ja. Es gibt keinen Grund, dich jetzt auch noch mit Dad auseinanderzusetzen, du hast schon genug um die Ohren.«
Sie ist wirklich meine wichtigste Cheerleaderin und Unterstützerin. »Danke, Mom.«
»Was immer du brauchst, Schätzchen.«
Ich sage ihr, dass ich sie liebhabe und beende den Anruf mit dem Versprechen, ihr zu berichten, wie es mit dem Umzug läuft.