30

Was wir wissen

Lavender

Gegenwart

Ich hatte ein paar peinliche Gespräche über Safe Sex, seit Kodiak und ich offiziell zusammen sind. Das Schlimmste ist, als mich ausgerechnet mein Dad fragt, ob er mir einen Kontakt zu seinen früheren Sponsoren wegen Verhütungsmitteln machen soll.

Das Beste war, als Kodiak einen Anruf seiner Mom wahrhaftig zwei Minuten nach dem Sex erhielt und sie einen zehnminütigen Vortrag über Safe Sex hielt und ein einziges Mal ohne Kondom genüge, um schwanger zu werden.

Kodiak versichert ihr, dass wir aufpassen, während ich das Gesicht im Kissen vergrabe und nicht zu lachen versuche. Aber wir verhalten uns verantwortungsvoll. Ich nehme die Pille, und siebzig Prozent der Zeit benutzen wir Kondome. Bei den anderen dreißig Prozent beginnen wir ohne und ziehen auf halbem Weg eins über, damit er länger durchhält und es nicht so nass wird.

Letzte Woche ist Kodiak mit seinen Freunden wieder in sein Haus eingezogen. Nicht dass das irgendwas geändert hätte. Wir verbringen noch immer viel Zeit zusammen. Nur können wir jetzt zwischen meinem oder seinem Zimmer wechseln.

Wir gehen aus, lernen zusammen, treffen unsere Freunde. Es ist die Erwachsenenversion davon, wie wir als Kinder waren. Der Kampf gegen das Getrenntsein voneinander ist gefühlt nahtlos in eine neue Art der Liebe übergegangen.

Es ist nicht immer einfach, mit Kodiak eine Balance zu finden, denn wenn ihn etwas begeistert, geht er völlig darin auf. So ist es mit dem Eishockey und dem College. Und jetzt ist das so mit mir. Manchmal haben wir Mühe, uns genug Raum zu geben, aber wir kriegen es hin.

Im Hinterkopf behalte ich, dass er dieses Jahr seinen Abschluss macht und wahrscheinlich für die NHL nominiert wird. Dann ist da noch das Praktikum, für das ich mich beworben habe, aber die Chancen darauf sind verschwindend gering, weshalb ich mir keine Gedanken darüber zu machen versuche.

Ich suche die Bibliotheksregale nach dem Buch ab, das ich ausleihen will, und lasse dabei meine Finger über die Buchrücken gleiten. Ich liebe es, mich in Büchern zu verlieren, und auch wenn ich im Augenblick nicht viel Zeit habe, zum Vergnügen zu lesen, gefällt mir die Leseliste meines Psychologiekurses, und ich freue mich schon auf das Seminar in zeitgenössischer Literatur im nächsten Semester. Gerade suche ich nach einem Buch über Textilien. Es mag für manche langweilig klingen, aber ich finde es faszinierend.

Mein Handy in der Tasche vibriert fortwährend. Es ist Kodiak. Er schreibt nicht, er ruft an, obwohl er weiß, dass ich es nicht riskieren werde, in der Bibliothek beim Telefonieren erwischt zu werden. Schließlich hört es auf, sodass ich mich wieder konzentrieren kann. Es ist ablenkend, wenn er so einen Unsinn aus keinem anderen Grund macht, als wahrscheinlich gelangweilt zu sein und über Stellungen beim Sex oder sonst etwas reden zu wollen.

Oder darüber, als ich ihn mit Klebeband an seinen Computerstuhl gefesselt habe. Wie sich gezeigt hat, hat er eine leicht abgedrehte Seite (die zu meiner passt), und es gefällt ihm wirklich sehr, mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt und angemacht zu werden, während ich auf einem künstlichen Schwanz komme. Es ist ein bisschen pervers, aber so sind wir eben.

Ich finde das Buch – es ist natürlich auf dem obersten Regal –, gehe auf Zehenspitzen und recke mich, so weit ich kann. Ich bin ungefähr fünf Zentimeter zu klein. Mein Telefon beginnt schon wieder zu vibrieren, und ich verdrehe die Augen. »Ich tue noch was ganz anderes, als dich an deinen verdammten Computerstuhl zu fesseln, wenn ich nach Hause komme«, murmle ich.

Ein Arm legt sich um meine Taille, und ich sauge erschrocken die Luft ein, als ich gegen einen festen Körper gezogen werde. Ich atme Kodiaks vertrautes Eau de Cologne ein und erschauere, als seine Lippen mein Ohr streifen. »Ich hoffe, das ist ein Versprechen und eine Drohung«, flüstert er.

Ich versuche, mich umzudrehen, aber er verstärkt seinen Griff um meine Taille und fährt mit den Lippen an meinem Kinn entlang. So warm und weich und mein. »Was tust du hier, und wie hast du mich gefunden?«, frage ich.

Mit der anderen Hand streicht er über meine Hüfte und glättet den Stoff meines Kleids. »Ich musste dich sehen, ein Zufallstreffer.«

Seine Stimme bebt leicht. Ich bedecke die auf meinem Bauch gespreizte Hand, und mein Körper wird von seiner Berührung warm. »Alles okay?«

»Mmm. Ich habe in einer Dreiviertelstunde eine Prüfung in Biochemie.«

»Oh.« Kodiak hat siebenundneunzig Prozent in Biochemie. Ich bin mir sicher, die drei fehlenden Prozent nagen an ihm, aber er wird es überleben. Er könnte die Prüfung wahrscheinlich stockbetrunken und high schreiben und noch immer eine gute Note bekommen. Abgesehen davon ist er besessen davon zu lernen und verlangt Anerkennung, wenn er die sich selbst gesetzten Ziele erreicht hat. Und es gibt viele Ziele und somit zahlreiche Belohnungen. Manchmal muss ich ihm Schuldscheine geben, wenn uns mein Stundenplan in die Quere kommt.

»Du willst dich also an mir reiben, weil es dir Glück bringt?«

Er wühlt sich durch mein Haar, und seine Lippen finden meinen Hals. »Mich an dir zu reiben ist ja nett, aber ich dachte, ich brauche eine kleine … flüssige Ermunterung.«

»Willst du ein Bier trinken gehen?« Ich bin verwirrt, vor allem, weil er seinen Ständer an meinem Rücken reibt und Endlosschleifen auf meinen Oberschenkel zeichnet.

»Nein, Baby.« Er lacht und saugt an meinem Hals.

»Was für eine flüssige Ermunterung meinst du dann, Kodiak?«

»Ich habe eine Theorie, die ich überprüfen muss.« Er lässt seine Finger unter meinen Rock gleiten und fährt mit ihnen an der Innenseite meines Schenkels hinauf. Ich trage Strumpfhosen, und wir stehen mitten zwischen den Bibliotheksregalen. Es ist nicht gerade abgeschieden.

»Kannst du das bitte so erklären, dass mein schlichter Verstand es versteht? Wovon redest du da eigentlich?«

»Erinnerst du dich noch an die Prüfung in Organischer Chemie, die ich letzte Woche hatte?«

»Klar.« Tue ich nicht, aber ich hoffe, das Ganze zu beschleunigen, damit er endlich zum Punkt kommt.

»Nein, tust du nicht.« Er knabbert an meinem Ohrläppchen.

»Du hast recht. Tue ich nicht. Was ist mit dem Test?«

»Ich habe eine Eins bekommen.«

»Großartig. Du verdienst es, an deinen Computerstuhl gefesselt zu werden«, sage ich mit ziemlichem Ernst.

Kodiak stöhnt an meinem Hals, und mein Rock wird ausgebeult, als er mich umfasst und durch die Stoffschichten hindurch seine Fingerspitzen auf meine Klitoris presst.

»Was tust du da? Jemand könnte vorbeikommen.« Ich tue nichts, um ihn zu stoppen.

»Macht dir das Angst?«

»Äh, ja.« Das Klar ist meinem Tonfall anzuhören.

»Mir auch«, gesteht er mir. »Aber es macht mich auch heiß. Das ist blöd, was?«

Ich zucke mit den Achseln, weil es mich ehrlich gesagt auch heiß macht.

»Weißt du, was kurz vor dem Test passiert ist?« Er macht langsame Kreisbewegungen durch meine Strumpfhose hindurch; es ist wunderbar und nicht annähernd genug.

»Keine Ahnung«, flüstere ich stöhnend.

»Ich habe dich geleckt, und du bist auf mein ganzes Gesicht gekommen.«

Ich kann spüren, wie meine Wangen heiß werden, zum Teil wegen der Erinnerung daran und zum Teil wegen meiner Nässe damals und jetzt. Anscheinend liegen üppige Körpersäfte bei uns in der Familie. Das weiß ich dummerweise, weil meine Gigi mir das erzählt hat.

»Ich kann an nichts anderes mehr denken, und ich muss mich wirklich auf diesen Test konzentrieren, um ihn gut zu machen.«

»Wir haben keine Zeit, um fürs Lecken nach Hause zu gehen, Kodiak.«

»Ich habe den Schlüssel zu einem Lernraum.« Er hebt die Hand und lässt einen Schlüssel an einer Kette von seinem Ringfinger baumeln.

Ich drehe mich in seinen Armen ruckartig um. »Im Ernst?«

Er beißt sich auf die Lippe. »Bitte sehr.«

»Du hast den Schlüssel für ein Lernzimmer, um mich zu lecken?« Ich weiß gar nicht, warum mich das so verblüfft. Schließlich reden wir von Kodiak. Er ist eigen, was Rituale angeht. Und es fällt auf, dass Lecken vor Prüfungen jetzt anscheinend dazugehört.

Er nickt. Ich weiß nicht, wie er nur so engelsgleich wirken kann und seine großen grünen Augen wie die eines Rehs aussehen. Er vibriert fast vor Erregung und Anspannung.

Ich sollte besser Nein sagen, denn ein bisschen abgedreht ist das schon. Aber ich will auch nicht, dass er sich verrückt macht und keine gute Prüfung schreibt, weil ich mich ihm verweigert habe.

Dass ich das überhaupt zu begründen versuche, ist wahnsinnig.

Und so nervös es mich auch macht, so aufregend finde ich es, einen Freund zu haben, der alles Erdenkliche tut, um mir einen Orgasmus zu verschaffen. Zu seinem Vorteil ist es natürlich auch, aber ich habe ebenfalls etwas davon.

Ich nicke einmal. »Okay.«

»Wirklich?« Seine Augen funkeln, als käme meine Zustimmung völlig unerwartet.

Ich strecke einen Finger in die Luft. »Aber nur dieses eine Mal.«

Er nickt eifrig. »Klar. Ja. Natürlich. Nur dieses eine Mal.« Er packt meine Hand und zerrt mich an den Regalen entlang.

»Warte.«

Seine Augen flackern panisch und ein wenig enttäuscht.

»Kannst du mir das Buch herunterholen?« Ich zeige zum obersten Regal. »Ich komme nicht ran.«

»Was immer du möchtest, Baby.« Er zieht es aus dem Regal, verschränkt unsere Finger miteinander, und wir gehen den Flur entlang.

Mein Herz rast, als wir an den Lernräumen mit der Glaswand vorbeigehen. Unmöglich, das, was er vorhat, in einem dieser Räume zu tun.

Auf halbem Weg lässt er meine Hand los und schaut um die Ecke, als ein Wachmann aus dem Treppenhaus kommt. Es gibt viele von ihnen, mehr, als mir bisher bewusst war.

Er legt mir den Schlüssel in die Hand und schließt meine Finger darum. »Du gehst als Erste. Ich folge, wenn die Luft rein ist.«

Ich hole tief Luft, als meine Anspannung schlagartig zunimmt, aber nicht wie bei einem Zusammenbruch. Das hier ist eine ganz andere Art von Anspannung – eine, die mir nicht gänzlich missfällt.

Ich bin überrascht, als ich die Tür bereits unverschlossen vorfinde, und ich schlüpfe in Zimmer vierundvierzig und stelle meine Tasche auf den Schreibtisch, ziehe die Tür hinter mir zu, die allerdings nicht richtig schließt, was bedeutet, dass ein zwei Zentimeter breiter Spalt bleibt, durch den man hereinschauen kann. Vielleicht nur ein bisschen, aber trotzdem. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es sich um eine mattierte Türfläche handelt, durch die hindurch man meine Silhouette sehen kann.

Eine Minute später öffnet Kodiak sie und schließt sie hinter sich wieder. Er runzelt die Stirn, als sie nicht richtig zugeht.

Ich will ihm sagen, dass das vielleicht keine gute Idee ist, aber er nimmt mein Gesicht in seine Hände und beugt sich herunter, um mich zu küssen. Es wäre wahrscheinlich viel einfacher für ihn, auf die Knie zu gehen, doch etwas an seiner Leidensfähigkeit, wenn es ums Rumknutschen mit mir geht, ist … beinahe rührend.

Wahrscheinlich ist es eine Art Strafe dafür, dass er mich jahrelang mies behandelt hat und es vielleicht auch genießt, den großen Beschützer zu geben. Junge Männer sind seltsame Wesen.

Nach mehreren aggressiven Zungenschlägen beiße ich ihn in seine. Es soll signalisieren, dass er aufhören soll, aber stattdessen bringt es ihn nur zum Stöhnen. Schließlich lege ich ihm eine Hand auf die Stirn und drücke ihn weg. »Man kann unsere Umrisse durch die Tür sehen«, flüstere ich.

Er blickt auf, und sein aufgeladenes Gehirn funktioniert endlich nicht nur auf dem Sex-Zylinder. Er wirft einen Blick durch den kleinen Raum. »Ich habe eine Idee.« Er lässt sich auf alle viere nieder und kriecht mit seinem riesigen Körper unter den Schreibtisch, schiebt den einzigen Stuhl zurück und klopft auf den Sitz.

Ich sehe ihn strafend an, denn das ist eine wirklich schlechte Idee.

Er legt den Kopf schräg und sagt stumm Bitte .

Ich habe keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen will, aber in meinem Körper passieren seltsame Dinge, und ich bin neugierig, ob er das durchzieht. Ich schlüpfe aus meinem Mantel und hänge ihn an den Haken an der Tür, womit ich den Spalt verdecke. Dann setze ich mich, nehme meine Mappe heraus und lege sie so hin, als würde ich mich mit irgendetwas beschäftigen. Meine Tasche lehne ich an ein Stuhlbein, um Kodiaks mächtigen Körper zu verbergen, der unter dem Schreibtisch steckt.

»Das ist verrückt«, murmle ich.

Mein Gesicht fühlt sich an, als wäre es tausend Grad heiß.

Kodiak lässt seine Hände an den Innenseiten meiner Beine hinauf und unter mein Kleid gleiten. Ich spüre außerdem etwas Hartes und Kaltes, was meine Angst schürt.

»Was ist das?«, zische ich leise.

Ich bekomme die Antwort Sekunden später, als ich ein leises Schnipsen und das Reißen von Stoff höre, als er den Zwickel meiner Strumpfhose auftrennt.

Ich trete ihn unter dem Schreibtisch. Was, wenn er mich geschnitten hätte? Und warum hat er sie stattdessen nicht einfach heruntergezogen?

»Tut mir leid. Ist leichter so.« Ich kann lediglich seine Augen sehen, und leid tut ihnen gar nichts; sie sind voller flüchtiger Emotionen, von denen Verlangen die dominierende ist. Er lässt einen Finger unter den Saum meines Höschens gleiten und presst sein Gesicht gegen die Innenseite meines Oberschenkels, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Ich umklammere die Tischkante und versuche, meine Atmung und die wilde Panik zu kontrollieren, die mein Herz rasen lässt.

Er lässt einen Finger in mich hineingleiten. Er ist schwielig und rau, aber ich ziehe mich um ihn herum zusammen. Ich weiß, dass er später am Abend in mir sein wird, mich ausfüllen und den Schmerz lindern wird, unsere neuen Obsessionen nähren wird, die zufälligerweise die magischen und beruhigenden Eigenschaften von Sex und Orgasmen umfassen. Er bewegt seinen Finger ein paarmal hin und her und murmelt etwas davon, wie weich und feucht ich sei.

Ich mache Schhh , und er knabbert an der Innenseite meines Oberschenkels. Sein Finger verschwindet, und ich beiße die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Er gibt ein leises Knurren von sich. Dann zieht er mich an die Stuhlkante, schiebt meine Schenkel auseinander und mit der Nase mein Höschen beiseite und reibt seine Lippen an mir, ähnlich einer Katze, die sich an ihrem Besitzer reibt, um ihr Gebiet zu markieren. Er leckt mich mit kreisenden Bewegungen, taucht in mich hinein und umspielt mich wieder. Ich halte mich noch immer mit einer Hand an der Tischkante fest, lasse die andere über seinen Kopf gleiten, packe ihn am Haar und führe ihn, um nicht mit den Hüften kreisen zu müssen.

Dieser eine Akt – so vulgär, so intim und von so überwältigender Sinnlichkeit – wird einer meiner liebsten sein. Ich liebe das Gefühl seiner Zunge auf mir, wie er mich an den Hüften packt, die Geräusche, die er macht, als könnte er nicht genug kriegen, als würde er sich nach meinem Geschmack verzehren.

Nur dass wir in einem Lernzimmer in der Bibliothek sind, weshalb die ganzen kleinen Geräusche, die er macht, ein Problem sind. »Sei gefälligst leise, Kodiak«, flüstere ich.

Er dreht den Kopf und beißt mich diesmal so fest in den Oberschenkel, dass ich meine Beine gegen sein Gesicht presse. Er schiebt sie wieder auseinander und taucht erneut ein, wobei er diesmal seine Zähne benutzt und saugt, und ich beinahe aus dem verdammten Stuhl hochfahre. Unter den gegebenen Umständen muss ich mir in die Faust beißen, um keine Geräusche zu machen. Währenddessen klopft mein Herz wie verrückt, weil wir bestimmt Bibliotheksverbot bekommen, wenn uns ein Wachmann im Vorbeigehen hört.

Doch anstatt davon abgeturnt zu sein, bringt es mich erst recht an den Rand der Klippe. Ich weiß nicht, wie Kodiak überhaupt noch atmen kann, so tief hat er sein Gesicht zwischen meinen Beinen vergraben. Einen kurzen Moment lang muss ich beinahe lachen, nur dass Wellen der Lust über mich hinwegschwappen und es unmöglich machen, etwas anderes zu tun, als sich dem Gefühl hinzugeben und das Stöhnen zu unterdrücken.

Kodiaks Hand schießt zu meinem Mund herauf. Er öffnet meine Lippen und gleitet mit zwei Fingern in meinen Mund. Ich sauge automatisch daran und drehe die Augen nach oben, wobei ich mir bewusst bin, dass ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper habe, was seine Art ist, mich zum Leisesein zu ermahnen. Als der Orgasmus schließlich abebbt, sinke ich wie eine Stoffpuppe auf dem Stuhl zusammen.

Wir atmen beide so schwer, als wären wir zwanzig Stockwerke hinaufgerannt, gejagt von einem Dämon. Ich bin eigentlich dran, mich zu revanchieren, aber ich kann mich, glaube ich, nicht bewegen.

Er rollt den Stuhl ein paar Zentimeter zurück, zieht meinen Rock herunter und streicht ihn glatt. Meine Strumpfhosen sind ruiniert, mein Höschen ist durchnässt, und ich kann nicht klar denken. Ich würde gerne ein Schläfchen machen und dann mit Kodiak Sex bis zur Bewusstlosigkeit haben – nach seinem Test natürlich.

Ich bekomme nicht einmal ein paar Wörter heraus, also hoffe ich, dass ich das telepathisch vermitteln kann.

Als sein Kopf unter dem Tisch hervorkommt, lege ich ihm eine Hand auf die Stirn, damit er nicht näher kommt. »Du musst dir das Gesicht säubern.«

Er benutzt das untere Ende seines T-Shirts, um sich das Kinn abzuwischen. Aber eigentlich braucht er dringend eine Dusche. Kodiak ist ein bisschen mysophob, weshalb die Tatsache, dass er gern sein Gesicht zwischen meinen Schenkeln vergräbt, verrückt ist und ein großes Fragezeichen obendrein. Ich bin die Ausnahme seiner ganzen Psychosen.

»Du solltest zuerst gehen. Ich komme gleich nach. Tut mir leid wegen deiner Strumpfhose.« Er grinst, also tut es ihm nicht wirklich leid.

Ich bekomme langsam wieder meine Gliedmaßen unter Kontrolle, suche meine Sachen zusammen und stopfe sie in meinen Rucksack. Als ich aufstehe, bin ich erschrocken über die nassen Abdrücke auf dem Stuhl. Oh mein Gott, sage ich stumm zu Kodiak. Ich fahre mit den Händen hinten über mein Kleid, und es ist tatsächlich ebenfalls feucht. Wie peinlich mir das ist.

Schlimmer noch ist, dass Kodiak auch noch schadenfroh ist.

Ich zerre meinen Mantel vom Haken und schlüpfe rasch hinein. Meine Beine sind noch immer wie Pudding. Ich zeige mit dem Finger auf ihn. »Niemals wieder.«

Er schüttelt den Kopf und nickt dann einmal lächelnd. »Niemals.«

Er wird das bei jeder sich bietenden Gelegenheit tun wollen.

Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter und hole einmal tief Luft, bevor ich die Tür weit genug öffne, um hinauszuschlüpfen und sie hinter mir zuzuziehen. Ich halte den Kopf gesenkt und gehe zur nächsten Toilette. Ich bin völlig derangiert.

Ich tue mein Bestes, um mich wieder herzurichten, aber ich werde meine geröteten Wangen oder die fleckige Haut an meinem Hals nicht los. Kodiak wartet vor der Toilette auf mich und sieht wahnsinnig selbstgefällig aus und riecht sehr nach Eau de Vagina. Auf keinen Fall werde ich durch den Haupteingang hinausgehen, so wie ich aussehe und wie er dreinschaut. Ich lasse das Buch, das ich ausleihen wollte, dort. Ich muss es holen, wenn ich nicht ganz so beschämt bin.

Ich gehe dicht an Kodiak vorbei, und er verschränkt automatisch seinen kleinen Finger mit meinem. »Wohin des Wegs?«

»Zu einem der Seiteneingänge. Das ist näher zu deinem Seminarraum, wo du …« Ich zeige auf die Wanduhr, »in sechzehn Minuten sein musst, wenn die Uhr da richtig geht.« Der Ausgang wird nicht oft benutzt, weshalb wir wahrscheinlich niemandem begegnen. Außerdem habe ich vorhin ein paar Mädchen getroffen, die ich aus dem Psychologiekurs kenne, und ich würde ihnen in meinem post-orgasmischen Zustand gern aus dem Weg gehen.

Ich erklimme die Treppe, so schnell es meine kurzen Beine erlauben, während Kodiaks kleiner Finger mit meinem verschränkt ist. Als wir den letzten Absatz erreichen, schaue ich durch das Geländer und erhasche einen Blick auf ein Pärchen, das anscheinend gerade leidenschaftlich knutscht. Bei näherem Hinsehen bin ich mir relativ sicher, dass einer davon Josiah ist. Sie sind so ineinander versunken, dass sie uns bestimmt nicht hören.

»Wann ist dein Seminar zu Ende?«, frage ich ziemlich laut, als wir den letzten Treppenabsatz hinuntersteigen.

Sie fahren auseinander, und ich stolpere fast die letzten vier Stufen hinunter. Denn die andere Hälfte des Pärchens ist mein Zwillingsbruder.

Zu viert stehen wir sekundenlang da und starren einander an. Nun, ich nehme an, dass Kodiak sie anstarrt, denn er steht hinter mir, weshalb ich mir nicht sicher bin. Er beugt sich herunter und küsst mich auf die Wange, wobei er mir ins Ohr flüstert: »Ich muss ins Seminar. Alles okay bei dir?«

Ich nicke, weil ich weiß, dass er eine Prüfung hat und nicht zu spät kommen darf.

»Wir sehen uns danach bei dir. Schick mir eine Nachricht, wenn du mich brauchst.« Er zeichnet eine Unendlichkeitsschleife auf meinen Hals, hebt mein Kinn an und drückt seine Lippen auf meine. »Josiah, River.« Er nickt ihnen zu und tritt durch die Tür hinaus in die Sonne und lässt mich mit meinem Bruder und Josiah allein, die beide völlig ertappt aussehen.

River beginnt: »Lav, es ist nicht …«

Josiahs Kopf schnellt in seine Richtung und durchbohrt ihn mit dem gleichen Blick, mit dem er auch Kodiak angesehen hat, als dieser in meinem Zimmer meine Dildos auf den Boden geworfen und sich benommen hat wie ein besitzergreifendes Arschloch.

River, im Widerstreit mit sich selbst, blickt gequält.

»Ich will nicht irgendein Geheimnis sein, für das du dich schämst«, sagt Josiah leise. Er wendet sich zu mir um. »Ich wollte es dir erzählen, doch River wollte es unbedingt selbst tun.« Er macht zwei Schritte in Richtung Tür. »Ruf mich an, wenn du genug davon hast, dich zu verstecken.«

»Bis bald.« River streckt den Arm aus, aber Josiah schüttelt den Kopf, und River lässt den Arm schlaff herabsinken.

»Tut mir leid, Lavender. Ich wollte nicht, dass du es so herausfindest.« Josiah geht hinaus und lässt mich und River allein im Treppenhaus, wo es nach Schuldgefühlen, Scham, Verlangen und Eau de Cologne riecht.

Ich lehne mich ans Geländer und schiebe meine Gefühle darüber, dass River und Josiah das vor mir verheimlicht haben, beiseite, um mich mit meinem Bruder nicht zu streiten. »Dir ist schon klar, dass das keine Überraschung ist, stimmt’s?«

River richtet seinen Blick auf mich. Wie es ihm gelingt, die Stirn zu runzeln und große Augen zu machen, ist mir ein Rätsel.

Ich hebe einen Finger. »Ich bin überrascht, dass es Josiah ist, aber nicht, dass du schwul oder bi oder sonst was bist.«

Sein Blick schnellt hin und her, bevor er ihn wieder auf mich richtet. »Schwul. Ich bin schwul.«

Nach Josiahs Reaktion zu schließen, ist das keine bloße Affäre. »Du weißt schon, dass du dich nicht vor mir zu verstecken brauchst. Ich werde dich immer lieben und akzeptieren, egal was ist.«

Er nickt, aber das Geräusch einer sich öffnenden Tür irgendwo auf der Treppe über uns hält ihn davon ab zu antworten.

»Willst du einen Kaffee?«, frage ich.

»Shots wären besser.«

»Ich habe keine Seminare mehr, also können wir nach Hause gehen, du genehmigst dir Shots, und wir reden?«

Er nickt.

Zwanzig Minuten später sind wir zu Hause. Ich trage keine zerrissene Strumpfhose und feuchte Unterwäsche mehr, und mein Bruder und ich sitzen auf meinem Bett und trinken beide Cooler, obwohl es erst mitten am Nachmittag ist.

»Wann ist das mit Josiah und dir passiert?« Ich fange mit den leichteren Fragen an.

»Ungefähr zwei Wochen nach Semesterbeginn. Ich habe ihn letztes Jahr auf einer Party getroffen, aber daraus hat sich eigentlich nichts ergeben, bis ich ihn wiedergesehen habe. Er hat ziemlich schnell herausgefunden, dass wir verwandt sich, weil mein Name eher selten ist.« Er nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Cooler und seufzt. »Tut mir leid, dass ich es dir nicht erzählt habe. Ich habe mich deswegen mies gefühlt – tu ich noch immer –, aber es ist so verdammt kompliziert.«

»Wieso kompliziert? Soweit ich das sehe, ist es ziemlich einfach. Du magst ihn, er mag dich, das war’s.«

»Wir leben in einer Gegend mit haufenweise Hockeyspielern und Sportskanonen, Lavender. Was glaubst du, wie das ankommt, dass ich einen Freund habe und im Footballteam bin?«

»Sollten wir diese altmodische Denke nicht längst hinter uns gelassen haben?« Ich frage nicht, um gemein zu sein; ich habe wirklich keine Antwort darauf.

»Sollten wir? Ja. Haben wir? Nein. Es ist schon besser geworden, aber es ist noch immer nicht einfach.«

»Nichts, worum es sich zu kämpfen lohnt, ist einfach, River.«

»Ich weiß.«

Er streckt seinen Zeigefinger aus, und ich verschränke meinen mit ihm. »Doch es gibt ein Aber?«

»Was, wenn unsere Freunde das nicht locker nehmen? Was ist mit Mom und Dad?«

»Wenn unsere Freunde das nicht locker nehmen, waren sie eigentlich keine guten Freunde. Und unsere Eltern wollen nur, dass wir glücklich sind. Mom ist das sowieso egal, aber bestimmt wirst du ein Gespräch über sicheren Analverkehr oder so was voll Peinliches führen müssen. Und was Dad betrifft, glaube ich, dass er mehr als alles andere dich verstehen und einen Draht zu dir haben will. Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Gibt ihm eine Chance. Gib uns allen eine Chance. Wir lieben dich bedingungslos. Lass es uns beweisen.«

»Tut mir leid, dass ich es dir nicht früher erzählt habe.«

»Ich dachte, du würdest es tun, wenn du bereit dazu wärst.« So vieles der letzten Monate ergibt jetzt einen Sinn – das Wegbleiben von zu Hause, seine extreme Zurückgezogenheit, die Distanz zwischen uns. »Und jetzt, wo ich es weiß, können wir vielleicht mal ein Doppel-Date organisieren. Oder wenigstens kannst du Josiah mitbringen.« Ich richte mich kerzengerade auf. »Oh mein Gott. An dem Abend, als Josiah hier war, um mir mit Ökonomie zu helfen, war da schon was zwischen euch?«

River wird rot. »Äh, ja. Ich war überrascht, ihn zu sehen, um ehrlich zu sein … und besorgt, er würde mich outen.«

»Wow.« Ich lasse mich gegen mein Kissen sinken. Ein Teil von mir wäre am liebsten gekränkt, weil sie mich während der ganzen Zeit hintergangen haben, aber ich verstehe, warum es für River schwierig war. Er wurde ständig von unserem Dad überwacht. Ich dachte immer, es wäre wegen mir, doch mir wird klar, dass es da noch viele andere Dinge gibt, die er all diese Jahre versteckt hat. »Bist du denn in Josiah verliebt?«

River zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht? Ich mag ihn sehr, und er war wirklich geduldig mit mir. Bis jetzt jedenfalls.«

»Wenn du willst, dass es funktioniert, solltest du ihn vielleicht anrufen und hierherbitten, damit ihr das durchsprechen könnt.«

Seine Finger umschließen meine fest. »Du meinst hier?«

Ich drücke seine ebenfalls. »So zeigst du ihm, dass du es ernst meinst und wichtig nimmst, oder nicht?«

»Bist du in der Nähe, falls was schiefläuft?«

Mir bricht das Herz, weil mein Zwillingsbruder stets die Erwartungen der anderen und seine Furcht zu scheitern und zu enttäuschen wie eine schwere Last mit sich herumträgt. Und jetzt verstehe ich besser denn je, warum es leichter für ihn war, sich auf mich zu konzentrieren. Auf diese Weise musste er sich nicht seiner eigenen Wahrheit stellen.

»Natürlich«, sage ich zu ihm. »Aber ich denke, wenn er bisher geduldig mit dir war, wird er auch bereit sein, dich anzuhören.«

»Okay, ich lade ihn hierher ein.« Er gibt mir eine feste Umarmung und murmelt: »Trampolin.«

»Sturzsicher.« Ich freue mich, dass ich ausnahmsweise einmal der weiche Landeplatz für ihn bin.