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Stellung beziehen

Lavender

Gegenwart

Am nächsten Morgen spricht Kodiak das Thema, mit mir nach New York zu kommen, bei seinen Eltern an, was zu deren kurz entschlossenem Besuch führt. Wir haben ausreichend Zeit, uns den Sexgeruch abzuduschen und das Wohnzimmer aufzuräumen, bevor die Eltern eintreffen.

Ich schicke River eine Warnung, falls er beschließen sollte, nach Hause zu kommen. Er ist viel positiver, seit wir uns ausgesprochen haben, was nicht heißt, dass ich mir keine Sorgen darüber mache, wie er auf New York reagiert. Er ist noch immer River.

Kodiaks und meine Eltern kommen zusammen gegen zwei Uhr in einem brandneuen Riesentruck an. Immerhin sitzt Lainey hinter dem Steuer. Ich liebe Kodiaks Mom fast genauso wie meine. Sie und ich haben vieles gemeinsam, nur dass ich kein Genie bin. Zu sehen, wie diese winzige Frau hinter dem Steuer eines so mächtigen Trucks hervorkommt, ist großartig.

Meine Mom nimmt mich in die Arme und flüstert: »Ich verspreche, es wird alles gut. Gib deinem Dad einfach das Gefühl, gehört zu werden.«

Ich dachte mir schon, dass nicht gleich jeder es für eine fabelhafte Idee halten würde, dass Kodiak und ich den Sommer über nach New York gehen.

Lainey und meine Mom haben genug zu essen mitgebracht, um ein gesamtes Hockeyteam zu verköstigen. Sie decken eine Tafel mit Fleisch- und Wurstwaren, während unsere Dads den Bierkühlschrank plündern.

»Sollen wir das im Wohnzimmer oder am Esstisch machen?«, fragt mein Dad und leert mit zwei großen Schlucken die Hälfte seines Biers.

Oh ja, er steht definitiv unter Stress.

»Ich würde sagen Wohnzimmer, allerdings ist das der Ort, wo die Jungs abhängen und Videospiele spielen, also kann man nicht wissen, was zwischen den Sofakissen steckt.« Vor zwei Wochen hat es hier drin zum Himmel gestunken. Ich habe die Jungs gezwungen, ihren Krempel aufzuräumen, weil ich nicht einmal mehr an dem Raum vorbeilaufen konnte, ohne zu würgen. Wie sich herausstellte, war es ein vergammelter Hotdog, der unter dem Liegesessel gelandet war.

»Wir machen’s im Esszimmer.«

Kodiak bringt mir einen Cooler, wahrscheinlich aus Gewohnheit. Außerdem ist Wochenende. Ich setze mich neben ihn. Er klopft mit dem Fuß auf den Boden und schluckt und blinzelt die ganze Zeit.

Unsere Moms sitzen uns gegenüber und die beiden Dads an den Tischenden. Es erinnert mich sehr an die Familientreffen, die wir nach dem Zwischenfall mit Courtney hatten, als wir noch Kinder waren.

Ich verschränke meine Finger mit denen von Kodiak unter dem Tisch.

»Ist das Alkohol?«, fragt mein Dad mit einem Nicken in Richtung der Flasche in meiner Hand.

»Es ist ein Cooler, und es sind zweieinhalb Prozent. Ich müsste einen ganzen Kasten trinken, um auch nur einen Schwips zu bekommen.«

»Du bist noch nicht alt genug.« Er blickt demonstrativ zu Kodiak.

»Tu so, als wären wir in Kanada, Dad. Ich wette, du hast auch ab und zu was getrunken, als du so alt warst wie ich.«

»Ich habe in Kanada gelebt, als ich so alt war wie du.«

»Genau.«

»Sie macht keinen Handstand auf einem Bierfass, Alex. Lass gut sein«, sagt Mom.

Er lehnt sich stirnrunzelnd in seinem Stuhl zurück. »Ist es das, was in New York passiert? Besorgt Kody dir Alkohol? Du weißt, dass die Leute viele falsche Entscheidungen treffen, wenn sie was getrunken haben.«

Meine Mom schnaubt. »Wie Hockeyspieler, die in der Öffentlichkeit rumknutschen, wo die Leute Fotos schießen können, die bis in alle Ewigkeit im Internet sein werden?«

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu lachen oder etwas zu sagen, was die Situation nur schlimmer machen würde.

Mein Dad wirft meiner Mom einen bösen Blick zu. »Das ist nicht hilfreich, Vi.«

Sie zwinkert und zieht dann eine Braue hoch. »Das war auch nicht mein Ziel.«

Mein Dad wendet sich an Rook, so als sollte er ebenfalls seinen Senf dazugeben. »Nun, Kody hat stets bewiesen, dass er ziemlich verantwortungsvoll ist, und Lavender ist noch nie in Schwierigkeiten geraten, soweit ich weiß. Ich kann mir also nicht so recht vorstellen, wie mein Sohn eure Tochter nur so zum Spaß betrunken macht.«

Mein Dad scheint zu kapieren, dass das kein guter Gesprächseinstieg ist und schaltet um. »Zusammenzuziehen ist ein großer Schritt, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Sein Leben mit jemandem zu teilen hat seine Tücken, und in eine große Stadt zu ziehen ist eine weitere große Veränderung.«

Er verschränkt die Hände und legt die Unterarme auf den Tisch, beugt sich nach vorn und benutzt seine sanfte Dad-Stimme, die er immer dann zum Einsatz bringt, wenn ich eine besonders schlimme Panikattacke habe. »Vielleicht wäre es besser, noch zwei Jahre zu warten, bis du ein bisschen älter bist, Lavender. Das ist das erste Mal, dass du fort von zu Hause bist, und New York ist zu weit weg, um mal eben hinzufahren. Ich möchte nicht, dass du etwas auf dich nimmst, wofür du noch nicht bereit bist.«

Ich habe erwartet, dass er diese Position einnehmen und die Du-bist-noch-nicht-so-weit -Karte ziehen würde. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Dad, aber ich habe das Gefühl, ich bin so weit. Das ist eine einmalige Gelegenheit, und ich bekomme diese Chance vielleicht nicht wieder. Was das Zusammenziehen betrifft, kann ich sagen, dass Kodiak und ich während dieses Semesters so gut wie zusammengelebt haben. Und falls ihr euch erinnert, ihr wart alle damit einverstanden, dass er nach dem Brand hier bei mir und Maverick und River einzieht.« Ich ziehe eine Braue hoch.

»Das war, bevor ihr beide wieder zusammen wart«, wendet Dad ein.

Kodiak drückt meine Hand, weshalb ich ihn anschaue und denke, er bietet mir stumm moralische Unterstützung, aber er sieht aus, als würde er sich gleich in die Hose machen.

Ich sehe ihn vorwurfsvoll an, bevor ich wieder zu meinem Dad blicke. »Ach, komm schon, Dad. Er wohnt ein Stück die Straße rauf. Wir sind erwachsen, und wir sind verantwortungsvoll. Und seien wir doch mal ehrlich, ich bin letztes Jahr zu Hause geblieben, weil du und Mom das wolltet und nicht, weil ich das Gefühl hatte, noch nicht so weit zu sein.« Ich zeige auf unsere Umgebung. »Und ich wäre auch gern in das Studierendenwohnheim gezogen, wenn du und River deswegen nicht einen Herzinfarkt erlitten hättet.«

Mein Dad verschränkt die Arme vor der Brust. »Du hast das mit dem Studierendenwohnheim ausprobiert, und es hat nur zwei Tage gedauert.«

Mom hat ihm nichts von meinem kurzen Ausflug ins Studierendenwohnheim erzählt, bis Dad die Kontobewegungen gesehen hat, die Abhebung und Rücküberweisung. Zu dem Zeitpunkt wohnte ich schon wieder im Haus, und mit Kodiak hatte sich alles geändert, aber trotzdem versucht er, es irgendwie gegen mich zu verwenden.

»Meine Mitbewohnerin war eine Spinnerin. Hätte ich mich gleich zu Anfang für das Wohnheim beworben, hätte ich ein Einzelapartment bekommen können, und es hätte keine Probleme gegeben. Jedenfalls gehört das nicht zur Sache. Es läuft gut im College. Ich komme klar, und ich habe noch immer monatliche Sitzungen mit Queenie. Ich verstehe, dass ihr das vielleicht nicht erwartet habt, doch euer Zögern hat weniger etwas damit zu tun, dass ich nicht so weit bin, als vielmehr damit, dass ihr nicht so weit seid, mich loszulassen. Schon klar, dass ich immer euer kleines Mädchen sein werde, aber das heißt nicht, dass ich noch immer ein kleines Mädchen bin. Ihr müsst mir erlauben, erwachsen zu werden und meine eigenen Entscheidungen zu treffen.«

»Sie hat recht, Alex«, sagt meine Mom.

Er blickt sie mit gerunzelter Stirn an, was ihm sehr viel Ähnlichkeit mit River verleiht. »Ich weiß, dass du kein kleines Mädchen mehr bist.«

»Dann gib mir ein wenig Raum, mich auch wie eine Erwachsene zu verhalten.«

Dad fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Ich dachte, den Raum hast du bereits. Was ist mit kleinen Schritten?«

»Das war der kleine Schritt.«

»Nun, mit deinem Freund nach New York zu ziehen, scheint mir ein großer Sprung zu sein.«

»Für dich bestimmt, aber es ist ja nicht so, dass du Kodiak nicht kennen würdest. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er ist Mavericks bester Freund.« Ich hole tief Luft und spüre mit dem Ausatmen meine wachsende Frustration. »Ich führe diese Unterhaltung nur, weil ich eure Unterstützung haben möchte. Ich bitte allerdings nicht um Erlaubnis. Keiner von uns.« Ich zeige zwischen Kodiak und mir hin und her.

»Tun wir nicht?« Er macht große Augen.

Ich verdrehe meine. »Nein. Tun wir nicht.« Ich stoße einen Seufzer aus. »Hört zu, ich hab’s kapiert. Meine Kindheit war für uns alle traumatisch, und ich weiß, dass ihr euer Bestes getan habt, um alles auf die Reihe zu kriegen, aber glaubt ihr nicht, dass es an der Zeit ist, uns selbst um unseren Kram zu kümmern?« Ich schaue jedem Erwachsenen am Tisch in die Augen.

Rook und mein Dad lassen sich langsam auf ihren Stühlen zurücksinken, und Lainey und meine Mom schenken mir traurige, aber stolze Blicke.

»Du weißt, sie hat recht, Alex. Wir haben uns wohl genug eingemischt, wenn es um die beiden geht. Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihnen endlich zu vertrauen, anstatt Gründe zu suchen, es nicht zu tun«, sagt Mom.

Mein Dad reibt sich das Kinn und murmelt: »Ach, zum Teufel.« Er nickt langsam. »Muss es New York sein?«

»Dort ist das Praktikum, also ja, Dad, es muss New York sein. Warum siehst du es nicht so: Du hast deinen Job erledigt. Du hast geholfen, eine kompetente, selbstsichere junge Frau großzuziehen, und ich will diese großartige Chance wahrnehmen und meinen Traum verwirklichen. Und ich bin klug genug, jemanden mitzunehmen, der dabei zu hundert Prozent hinter mir steht und bestimmt dafür sorgt, dass es mir gut geht.«

»Es tut mir so leid, dass wir es dir so schwer gemacht haben«, sagt Lainey leise.

»Ihr habt getan, was ihr für richtig hieltet«, erwidert Kodiak mit genauso sanfter Stimme.

»Rook und ich kennen Leute in New York. Wir kümmern uns darum, dass du während des Sommers dort in ein Trainingscamp kommst«, sagt mein Dad. »Aber nur wenn du willst, dass wir ein paar Anrufe machen.«

Ich schaue Kodiak an.

»Äh, ja, das wäre toll, Alex. Ich meine, Sir.«

»Ich habe deine Windeln gewechselt, Kody. Du musst mich nicht Sir nennen.« Mein Dad schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln. »Ich will nur das Beste für euch.«

»Ich weiß. Ihr hättet nicht das ganze Geld in Therapie und Nähmaschinen und ein Atelier gesteckt, wenn es nicht so wäre.«

Das bringt sie alle dazu, leise zu lachen.

Die Alarmanlage vom Haus beginnt zu piepen, ein Zeichen dafür, dass entweder Maverick oder River nach Hause kommen.

Alle drehen sich um, als River ruft: »Wessen fetter Truck steht da in der Einfahrt …« Er bleibt wie angewurzelt stehen, als er mit Josiah ins Esszimmer kommt. »Was ist hier denn los?«

River richtet den Blick starr auf mich, und ich zucke entschuldigend mit den Achseln. »Ich habe dir eine Nachricht geschickt.«

»Ah. Okay. Ich habe meine Nachrichten nicht gelesen.«

Mom steht auf, umarmt ihn und schenkt ihm ein fragendes Lächeln. »Willst du uns nicht deinem Freund vorstellen?«

»Was?« Er blickt zu Josiah, und ich bemerke den Moment, als er beschließt, ihn nicht zu enttäuschen.

Kodiak drückt meine Hand.

River räuspert sich und sein Blick schnellt von mir zu Dad und dann zu Mom. »Das ist Josiah. Und, äh …« Er blickt Josiah an. »Er ist mein fester Freund.«

Und einfach so ist mein und Kodiaks Umzug nach New York nicht mehr die größte Neuigkeit.

Mom nickt wissend. »Das dachte ich mir. Besorgen wir den beiden Jungs doch Stühle, damit wir Josiah besser kennenlernen.«

Drei Stunden und einen Riesenberg leckeres Essen und überraschend lockere Konversation später packen unsere Eltern ihre Sachen und sind zum Aufbruch bereit.

Dad umarmt mich. »Aus dir ist wirklich eine unglaubliche Persönlichkeit geworden, Lavender. Es ist schwer, dich gehen zu lassen.«

»Ich weiß, und dafür liebe ich dich, aber ich verspreche dir, ich kann mich inzwischen behaupten.«

Er küsst mich auf den Scheitel. »Das weiß ich doch, und ich weiß auch, dass Kody ein guter Partner für dich ist. Sonst wird er sich vor mir verantworten müssen.«

Ich lache, denn was soll ich sagen. Er ist mein Dad, und ich werde immer sein kleines Mädchen sein.

Mom legt ihren Arm um meine Taille. Wir sind beinahe gleich groß. Wir beobachten, wie sich Dad und River flüsternd unterhalten.

»Wusstest du, dass River schwul ist?«, frage ich.

Sie zuckt leicht mit einer Achsel. »Ich habe es vermutet. Ich meine, wenn wir zum Strand gefahren sind, waren es nie die Mädchen, denen er hinterhergestarrt hat.«

Sie hat recht.

Dad legt River eine Hand auf die Schulter, und die Miene, die er aufsetzt, ist mir vertraut. Ich habe es mal sein Marshmallow-Gesicht genannt, als ich klein war, als er ganz weich und warmherzig und mitfühlend wurde. Was er zu River sagt, lässt diesen den Kopf senken. Dad gibt ihm eine Umarmung – und zwar keins von diesen männlichen Rückenklopfdingern, sondern eine echte Umarmung. Ich kann die Emotionen, die darin liegen, spüren.

Sie haben das gebraucht.

Wir alle.