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Ein wenig Frieden

Lavender

Gegenwart

Sobald die Abschlussprüfungen vorbei sind und Kodiak und Maverick das Studium beendet haben, packen Kodiak und ich unsere Sachen und ziehen zur Untermiete in eine Wohnung, die unsere Eltern für uns in New York City gefunden haben. Obwohl im Rahmen des Praktikums auch Unterkünfte angeboten waren, haben mein Dad und Kodiaks Mom die statistisch sichersten Gebiete in Gehweite zu meiner Praktikumsstelle und zu Kodiaks Trainingslager recherchiert. Daher die Mietwohnung.

New York ist geschäftig und laut und überwältigend. Das Gewimmel lässt mein Herz rasen, aber das Praktikum lohnt sich wirklich. Nach vierundzwanzig Stunden am Theater komme ich bereits zu dem Schluss, dass das hier mein Traumjob ist.

Meine Mentorin Priscilla verhätschelt mich nicht. Und mehr noch, alle, mit denen ich zusammenarbeite, fragen mich nach meiner Meinung. Sie reizen meine kreativen Möglichkeiten aus und testen meine Fähigkeiten. Es gefällt mir in jeder Hinsicht. Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich, was es bedeutet, sich richtig wohl in seiner Haut zu fühlen.

Kodiak und ich lernen, unser gemeinsames Leben zu meistern. Es klappt nicht immer nahtlos oder ist perfekt, aber es ist real und ehrlich, und es sind wir. Er ist ein extremer Putzteufel, und ich nehme es nicht so genau damit, alles immer gleich wegzuräumen, sobald ich es nicht mehr brauche.

Ungeachtet unserer Differenzen bringen wir einander auf ein Level, das tief in die Seele reicht. Sicher, wir sind jung, unser ganzes Leben liegt noch vor uns, und so viele Dinge könnten sich ändern. Aber in diesen fünf Wochen bauen wir uns hastig eine Existenz auf, und ich bin mit der Vergangenheit und damit im Reinen, wie wir hierhergekommen sind, an diesen Ort, wo wir völlig ineinander verliebt sind.

Ich bin heute Abend lang im Theater geblieben, um einen besonders kniffligen Teil eines Kostüms fertigzustellen. Priscilla war so hilfsbereit, immer da, um Fragen zu beantworten und mir Tricks beizubringen, die die Arbeit erleichtern. Es ist beinahe acht Uhr, als ich in unsere wahnsinnig hübsche Zweizimmerwohnung im zwanzigsten Stock zurückkehre.

Ich hoffe, Kodiak ist in Stimmung für ein bisschen Spaß und Stressabbau heute Abend. Manchmal frage ich mich, ob ich sexsüchtig werde, aber dann sage ich mir, dass Kodiak ein zweiundzwanzig Jahre alter Athlet ist – sein Geburtstag war bereits – und nichts falsch daran ist, einen starken Sexualtrieb zu haben. Außerdem zählt Sex als Gymnastik. Und Orgasmen sind ein großartiges, natürliches Entspannungsmittel.

Kodiak hat tatsächlich danach recherchiert, als ich einen Scherz über unser leicht hyperaktives Sexleben machte, aus Angst, dass wir es vielleicht zu oft tun. Dann hat er zwei Bücher über Sexsucht gelesen. Und noch eins über Bondage und Voyeurismus.

Sie bewirkten lediglich, dass er noch schärfer wurde und bestätigen, dass wir völlig normal sind.

Ich schließe die Wohnung auf, und meine freudige Erwartung bekommt einen Dämpfer, als ich ihn reden höre. Vielleicht ist einer der Jungs da, mit denen er Hockey spielt. Er hat ein paar Freunde gefunden, wie ich auch, aber er hat keinen Besuch erwähnt. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, gehe den Flur entlang und halte inne, als ich ihn mit dem Handy in der Hand im Wohnzimmer auf und ab gehen sehe.

Er trägt lediglich ein Paar Sporthosen, und die kräftigen Muskeln auf seinem Rücken spannen sich an, als er sich mit der Hand durchs Haar fährt. »Ich will nicht nach Vancouver.«

Er hat den Lautsprecher eingeschaltet, doch die Stimme seines Dads ist leise und gedämpft, weshalb ich die Antwort nicht mitbekomme.

»Es muss eine andere Möglichkeit geben. Das kann nicht das einzige Team sein, das mich will. Kannst du nicht ein paar Strippen ziehen? Was ist mit Chicago?«

»So funktioniert das nicht, Kodiak.« Rooks Stimme ist nüchtern, aber freundlich.

»Du hast auch das mit dem Trainingscamp diesen Sommer arrangiert. Du musst doch etwas tun können! Das ist zu weit weg. Lavender geht noch zwei Jahre aufs College, und dann gehen wir gemeinsam irgendwohin.«

»Du weißt ja gar nicht, was in zwei Jahren ist, und du kannst diese Entscheidung nicht von einer einzigen Person abhängig machen. Außerdem wissen wir nicht, ob Vancouver nicht die einzige Option ist.«

»Es ist die einzige, von der ich erfahre! Ich trenne mich nicht noch einmal von ihr. Du hast ja keine Ahnung, wie das ist. Ich bin nicht du. Ich kann die Person, die ich liebe, nicht einfach allein lassen und ein Jahr lang damit klarkommen. Ich würde den Verstand verlieren!«

Jemand sagt irgendwas am anderen Ende der Verbindung, und auf einmal ist seine Mom am Telefon, und ihre Stimme ist sanft, aber kräftig. »Kodiak, denke daran, dass deine Worte Wirkung auf die Menschen haben, an die du sie richtest, und jemandem die Vergangenheit ins Gesicht zu schleudern ist nicht der angemessene Umgang mit deinen Emotionen.«

Die Veränderung in seinem Verhalten geschieht unmittelbar. »Du verstehst nicht, Mom.«

»Du hast recht, das tue ich nicht. Ich werde nie genau verstehen, wie das für dich oder für Lavender ist, weil es nicht meine Erfahrung ist. Du kannst wütend sein auf die Vergangenheit, aber irgendwann musst du loslassen und in der Gegenwart leben. Ich weiß, dass du dir Sorgen darüber machst, einen Vertrag zu unterschreiben, der dich von Lavender trennt, doch du darfst dich nicht an sie ketten oder dich nur auf sie für dein Lebensglück verlassen. Andernfalls entwickelst du dich zurück.«

»Aber es geht uns gerade so gut miteinander. Ich will das nicht verlieren.«

»Das sagt auch niemand, dass du das musst, Kodiak.«

»Wie soll das funktionieren, wenn ich weit weg bin? Ich werde neun Monate im Jahr unterwegs sein.« Er reibt sich die Stelle zwischen den Augen.

»Vertrau darauf, dass deine Beziehung stark genug ist, um das zu überstehen«, sagt sie zu ihm.

»Was, wenn ich nicht stark genug bin?«, fragt er leise, als ich ins Wohnzimmer trete. Er registriert die Bewegung und erblasst. »Lavender ist da. Ich muss Schluss machen. Ich liebe dich, Mom. Sag Dad, dass es mir leidtut. Bis in ein paar Tagen.« Er beendet den Anruf und wirft das Handy aufs Sofa. »Wie viel davon hast du mitbekommen?«

Es gibt keinen Grund zu lügen. »Vancouver will dich.«

Er schüttelt den Kopf. »Das mache ich nicht. Ich nehme das Angebot nicht an.«

Ich verkleinere die Kluft zwischen uns, indem ich unsere kleinen Finger miteinander verschränke, und führe ihn zum Sofa. Er sinkt schwer auf die Kissen und stützt die Unterarme auf seine Oberschenkel.

»Wir wussten, dass das passiert.« Ich streiche ihm das Haar aus der Stirn, und er senkt den Kopf.

»Ich gehe nicht an die Westküste. Ich trenne mich nicht von dir.« Er wackelt mit den Knien, obwohl er sie stillzuhalten versucht.

»Sieh mich an, Kodiak.« Er blickt kurz zu mir herüber, und alles, was ich sehe, ist Angst. Das sind die Zeiten, in denen ich ihn um sein Superhirn nicht beneide. Er geht jedes Szenario genau durch und findet einen schlechten Ausgang, der ihn in einen seelischen Abgrund reißt.

Ich setze mich rittlings auf seine Oberschenkel und lege meine Hand an seinen Hals. Sein Puls pocht heftig. »Ich weiß, dass du Angst hast, aber du musst das Angebot annehmen.«

»Ich will es nicht riskieren, dich zu verlieren«, flüstert er.

»Wieso denkst du das?«

»Es ist auf der anderen Seite des Landes. Ich werde dich kaum sehen.« Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. »Was, wenn du zu dem Schluss kommst, dass es zu schwer ist? Was, wenn du nicht damit klarkommst?«

»Natürlich wird es schwer, aber vertraue darauf, dass wir damit klarkommen.« Ich streichle seine Wange und hasse es, dass ich das tun muss. »Du musst mir versprechen, dass du den Deal annimmst, Kodiak, auch wenn es die Westküste ist. Du würdest nicht wollen, dass ich eine Gelegenheit verpasse, meinen Traum zu leben, und ich werde das genauso wenig zulassen.«

»Das ist nicht das Gleiche. Das ist ein zweimonatiges Praktikum, nicht ein Vertrag, der dich vier Jahre lang an ein anderes Land bindet.«

Ich seufze und überlege, wie ich das angehen soll. »Ich lasse nicht zu, dass du dein Talent aus Angst vor dem Unbekannten vergeudest. Und ich weigere mich, den Rest meines Lebens eine solche Schuld mit mir herumzutragen. Wir wissen bereits, wie das ist.«

Seine Panik lodert wieder auf, und trotz der Tatsache, dass ich auf seinen Beinen sitze, hüpfen sie noch ein paarmal, bevor er sie ruhig halten kann. »Was meinst du?«

»Du kannst dein Leben nicht auf Eis legen. Du musst dieses Jahr bei einem Team unterschreiben.«

Sein Blick wird ausdruckslos, und er beißt die Kiefer zusammen. Ich hoffe, wir rüsten uns nicht für einen Kampf. »Was, wenn ich das gar nicht will? Was, wenn ich stattdessen lieber auf die Graduiertenschule gehen würde?«

Ich verziehe das Gesicht. »Dann hättest du dich beworben, aber das hast du nicht. Deine Mom postet das Video, in dem du Hockey in deinem Kinderbett spielst, jedes Jahr an deinem Geburtstag. Du hast schon gespielt, bevor du richtig laufen konntest. Du bist dafür geboren, und du wirst herausragend sein, egal in welchem Team und wo du eingesetzt wirst. Aber du wirst auf jeden Fall für ein Team spielen.«

Angst und Wut vermengen sich. »Das klingt sehr nach einem Ultimatum, Lavender.«

Ich streichle seine Wange; meine Angst ist ein Spiegel seiner. »Was glaubst du, was mit uns passiert, wenn du alles wegwirfst, wofür du so hart gearbeitet hast, um in meiner Nähe zu sein? Fallen wir damit nicht in alte Abhängigkeitsmuster zurück, die wir unbedingt überwinden wollten? Wo soll das enden?«

Er legt seine Hand auf meine und schließt die Augen. Er atmet tief ein und langsam wieder aus, um sich zu beruhigen, während er meinen Worten lauscht. Ich lasse zu, dass er in die Vergangenheit zurückkehrt, jeden Moment noch einmal durchlebt, als er versuchte, mich vor mir selbst zu beschützen, es aber nicht konnte. Er war sehr gut darin, mich im Nachhinein zu beruhigen, doch nur ich selbst konnte mich retten. Jetzt ist es an mir, ihn vor mir zu beschützen.

Als er die Augen wieder öffnet, flüstert er. »Schlecht, es würde schlecht enden.«

Ich nicke und schenke ihm ein schwaches, trauriges Lächeln. »Wir kriegen das hin, egal, wohin du gehst.« Ich hoffe, das ist keine kleine Lüge, denn in meinem Herzen glaube ich fest daran.

Wozu wäre sonst das ganze Leiden gut gewesen?

In den nächsten Tagen herrschen Anspannung und Besorgnis. Ich versuche, meine Verstörtheit nicht zu zeigen, wenn ich im Theater bin, aber das ist schwer. Ich behalte die Uhr im Auge, zähle die Stunden, bis ich wieder bei Kodiak sein kann.

In dem Augenblick, in dem einer von uns zur Tür hereinkommt, stürzen wir uns aufeinander. Wir lassen uns kaum Zeit zum Abendessen oder Schlafen, zu beschäftigt damit, so viel Nähe wie möglich zu bekommen, bevor er am Wochenende nach Chicago fliegen muss.

Er ist nur ein paar Tage weg, aber es gibt ein Gefühl von Dringlichkeit, das in dem Maße zunimmt, in dem die Tage zu Stunden zusammenschnurren.

Donnerstagmorgen sieht mir Kodiak dabei zu, wie ich mich für die Arbeit fertig mache. Ich ziehe eins von meinen leichten Sommerkleidern an und binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Aktuell benutze ich weder Kontaktlinsen noch Make-up.

»Fragst du dich, ob es leichter gewesen wäre, wenn ich in Chicago geblieben und du allein hierhergekommen wärst?« Er sitzt auf der Bettkante, in einem Poloshirt und schwarzen Hosen, sein Koffer steht gepackt neben der Eingangstür.

»Dann wüssten wir ja nicht, wie es wäre zusammenzuleben«, antworte ich.

»Du bist meine Definition von Zuhause, und wenn mich ein Team an der Westküste auswählt, fühle ich mich heimatlos.«

Kodiak war schon immer dazu in der Lage, seine Gedanken zu filtern und nur die zum Ausdruck zu bringen, die ihm am wichtigsten sind. Ich durchquere das Zimmer und stelle mich zwischen seine Beine. Wir sind schon seit vier Uhr auf und hatten seither dreimal Sex, und noch immer erregt seine Nähe meinen Körper.

Ich nehme seine Hand und lege sie an meinen Hals, während er das Gleiche mit meiner tut. Das ist einfach unser Ritual. »Wir werden uns daran gewöhnen. Was denkst du, wie unsere Eltern das in den Jahren, als unsere Dads so oft unterwegs waren, durchgestanden haben? Es ist ein Anpassungsprozess. Und um deine ursprüngliche Frage zu beantworten, ich weiß nicht, ob es einfacher gewesen wäre oder nicht. Und wir können an der gemeinsamen Zeit, die wir hatten, festhalten, wenn das Getrenntsein zu schmerzhaft wird.«

»Ich wünschte, ich hätte nicht so lange gebraucht, dich lieben zu lernen, ohne dich zu vereinnahmen.«

Ich nehme sein Gesicht in meine Hände. »Du sagst das, als wärst du an allem schuld. Wir waren Komplizen bei unserem Absturz. Manchmal muss man eine Niederlage erleiden, um wieder gestärkt daraus hervorzugehen.« Ich presse meine Lippen auf seine, löse mich aber von ihm, bevor der Kuss tiefer wird. »Versprich mir, dass du einen Vertrag unterschreibst.«

»Ich versprech’s.« Er macht ein X auf meinem Herzen, steht auf und besiegelt es mit einem heißen, verlangenden Kuss.

Wir gehen gemeinsam ins Erdgeschoss hinunter, und Kodiak machte eine Show daraus, mich zum Abschied viel länger zu küssen, als es angemessen ist. Danach stehe ich auf dem Bürgersteig und sehe zu, wie sein Taxi im morgendlichen Verkehr verschwindet, und spüre, wie das Band, das uns verbindet, fester wird, je weiter er sich entfernt. Ich muss mich erst daran gewöhnen.

Es gelingt mir, mich während der Arbeit zusammenzureißen, aber als ich abends die leere Wohnung betrete, breche ich in Tränen aus. Nachdem ich den ganzen Tag darüber nachgegrübelt habe, befürchte ich nun, dass er vielleicht recht damit hat, dass wir mit dem Getrenntsein nicht klarkommen, falls er von einem Team an der Westküste berufen wird.

Ich bin kaum zwei Minuten zu Hause, als es an meiner Tür klopft. Die ältere Dame am Ende des Flurs hat manchmal Probleme mit ihrem Schlüssel, also wische ich die Tränen weg und versuche, mich wenigstens so weit zusammenzureißen, dass ich ihr behilflich sein kann.

Doch als ich die Tür öffne, steht da nicht meine Nachbarin.

»Überraschung!« Meine Mom macht Jazz-Hände und schlägt dabei Lacey beinahe ins Gesicht. Diese duckt sich und stößt gegen Loveys Brust. Hinter ihnen stehen River und Josiah, die sich, im Gegensatz zu den Zwillingen, in sicherem Abstand zu meiner Mom befinden.

Es gibt eine Runde Zerknirschung und gegenseitige Entschuldigungen, bevor sich alle wieder mir zuwenden.

»Was tut ihr denn hier?«

»Als ob wir dich dieses Wochenende hier allein lassen würden«, sagt meine Mom.

Und natürlich breche ich in Tränen aus, weil es eben ein Tag dafür ist. Meine Kehle ist so zugeschnürt, dass ich kein Wort herausbringe. Sie kommen in die Wohnung und schließen mich gemeinsam in die Arme.

»Wir sind für dich da, Lavender.« Meine Mom drückt mich fest. »Du musst da auf keinen Fall allein durch.«