Gegenwart
Mein Dad holt mich am Flughafen ab. Er überrascht mich damit, dass er mich umarmt. Und nicht nur mit einem Rückenklopfen – eine richtige, rippenquetschende Umarmung.
»Alles in Ordnung? Wo ist Mom?«
Er lässt mich los und lächelt schief. »Oh ja, alles in Ordnung. Deine Mom musste Dakota zu seinem Leichtathletikwettkampf fahren, und Aspen ist im Robotik-Kurs und entwirft irgendeinen Kampfroboter, aber sie müssten alle wieder zu Hause sein, wenn wir ankommen.« Er drückt meine Schulter. »Schön, dass du zu Hause bist, mein Junge.«
Ich nicke und stoße die Luft aus. »Um ehrlich zu sein, kommt es mir komisch vor, zu Hause zu sein.«
Er lacht. »Ich weiß, doch deine Mom vermisst dich, und deine Geschwister ebenfalls. Tu also so, als wärst du begeistert, wenn du sie siehst.«
»Keine Sorge, bis wir zu Hause sind, bin ich wieder gut drauf.«
Wir gehen zum Ausgang. »Alles okay mit Lavender?«
»Äh, ja. Größtenteils.« Ich reibe mir den Nacken. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um mich auf dem zweistündigen Flug nicht in das Flugzeug-WLAN einzuwählen und einen neuen Deal mit ihr auszuhandeln. Nachvollziehbar? Nein. Verzweifelt? Ja.
»Größtenteils?«
»Sie hat das Gespräch, das wir neulich Abend hatten, mitangehört.«
»Ah. Sie weiß also, dass Vancouver dich im Visier hat?«, fragt mein Dad.
»Ja.«
»Es tut mir leid, dass ich dir das nicht leichter machen kann, mein Junge.«
»Mir tut es leid, dass ich die Fassung verloren habe.«
Er legt mir einen Arm um die Schulter und drückt sie. »Wenn sich jemand entschuldigen sollte, dann ich. Manchmal vergesse ich, dass du und deine Mom recht ähnlich tickt. Gleichzeitig ähnelst du auch mir, nur dass du eine ganze Ecke schlauer bist.«
»Dafür, dass ich angeblich so schlau bin, stelle ich einen Haufen dummes Zeug an.«
»Du bist zweiundzwanzig. Du sollst sogar Fehler machen. Wir lernen daraus. Trotzdem tut es mir leid, dass ich dir das hier nicht leichter machen kann.«
»Ich wäre ohne die Aussicht, so weit weg zu sein, viel weniger hin- und hergerissen.« Ich reibe die Stelle zwischen Mittel- und Ringfinger meiner linken Hand, wo das Unendlichkeitssymbol eintätowiert ist. Rückblickend ist das keine gute Stelle für ein Tattoo, aber ich war nicht gerade in bester geistiger Verfassung, als ich es habe machen lassen.
»Weil du nicht von Lavender getrennt sein willst?« Seine Stimme klingt besorgt.
Er schließt den Kofferraum seines SUV auf, und ich werfe meine Tasche hinein.
»Sie hat mir sozusagen ein Ultimatum gestellt.« Ich gehe auf die Beifahrerseite und lasse mich auf den Sitz gleiten.
Er runzelt die Stirn. »Was für ein Ultimatum?«
»Im Grunde, dass sie mit mir Schluss macht, falls ich mich nicht bei einem Team verpflichte, während ich hier bin.«
Mein Vater richtet seinen Blick auf meine zitternden Beine, bevor er meinen Blick erwidert und langsam nickt. »Sie ist kein zaghaftes kleines Mädchen mehr, was?«
»Sie war noch nie zaghaft. Sie hat nur mehr durchgemacht als andere Kinder und erlebt die Welt in überwältigender Klarheit. Wir wussten damals nicht, wie wir damit umgehen sollten, aber jetzt schon.«
»Und offensichtlich weiß sie mit dir umzugehen.« Er legt den Gang ein und fährt vom Parkplatz.
Ich muss wegschauen, denn eine Million wirklich unangemessener Bilder tauchen in meinem Kopf auf – wegen dem, was gestern Abend alles passiert ist, und wegen der Tatsache, dass mir zwei Streifen Haare auf beiden Unterarmen fehlen. Ich räuspere mich.
»Offensichtlich.« Ich klinge noch immer zwei Oktaven höher als sonst, und mein Gesicht fühlt sich heiß an.
Mein Dad lacht. »Hey, Junge, du bist wohl in Schwierigkeiten?«
»Was soll das heißen?«
Er grinst und zerzaust mein Haar. »Sorg nur dafür, dass ihr auf Nummer sicher geht.«
»Herrgott, Dad. Wir gehen auf Nummer sicher. Mom sagt das auch jedes Mal, wenn ich mit ihr rede.«
»Einmal ohne Schutz genügt.«
»Ja, du musst es ja wissen, oder?« Ich zeige auf mich selbst.
Ich bin das Produkt einer ungeplanten Schwangerschaft. Meine Eltern hatten für einen Sommer in Alaska eine, wie sie es nennen, »stürmische Romanze«. Was bedeutet, sie hatten eine längere Affäre. Mein Dad musste wegen eines Notfalls in der Familie weg, und sie verloren sich eine Zeit lang aus den Augen, fanden später jedoch wieder Kontakt zueinander. Zu der Zeit war ich bereits geboren.
»Und ich bereue es keine Sekunde, denn ohne dich wäre deine Mutter womöglich gar nicht Teil meines Lebens. Aber wir sind beide älter und stehen nicht am Beginn unseres Lebens. Du und Lavender seid jung und sucht noch euren Weg, also macht es euch nicht durch ungeplante Schwangerschaften schwer.«
»Okay, können wir bitte das Thema wechseln? Es ist ziemlich seltsam, darüber zu sprechen, wie ich zustande gekommen bin.«
»Das ist es nur, wenn du es dazu machst, mein Junge.«
»Nein, es ist seltsam, weil du auf eine Art über meine Mom redest, an die ich nicht einmal denken will.«
»Notiert. Wie geht’s dir mit morgen?«
»Ich bin gespannt. Aufgeregt. Eingeschüchtert, dass ich einen Vertrag mit Vancouver unterschreibe und auf der anderen Seite des Landes bin, während Lavender hierbleibt. Allein daran zu denken, lässt bei mir beinahe die Sicherungen durchgehen.«
Er schweigt einen Moment lang, bevor er schließlich sagt: »Es ist nicht leicht, nicht wahr? Wenn man alle Seiten gleichzeitig sehen kann?«
»Es macht einen ganz verrückt. Und lähmend ist es auch. Ich gehe jeden möglichen zukünftigen Weg durch, und ich kann genau erkennen, was passieren könnte, wenn ich die falsche Entscheidung treffe. Nur wenn ich auf dem Eis oder mit Lavender zusammen bin, kann ich völlig abschalten. Ich will nicht eins davon aufgeben müssen, um das andere zu haben, aber sie gibt mir keine Option. Ich habe das Gefühl, dass ich sie so oder so verlieren werde.« Ich reibe mir die Brust, um den Schmerz zu lindern.
»Ich weiß, du neigst dazu, dir das Schlimmste auszumalen, aber warten wir’s ab und sehen, was morgen passiert. Nur weil Vancouver ein Auge auf dich geworfen hat, heißt das nicht, dass es nicht noch andere Optionen gibt.«
Ich nicke, will mir jedoch keine falschen Hoffnungen machen.
Im Haus herrscht ein reges Treiben, als wir hineingehen. Aspen will mir den Roboter vorführen, den sie entworfen hat, und Dakota zeigt mir seine Abzeichen, die er beim Leichtathletikwettkampf gewonnen hat. Ich bin die perfekte Mischung meiner beiden Eltern, sowohl körperlich als auch mental. Aber meine Schwester ist zu hundert Prozent eine Miniaturversion meiner Mom, und Dakota ist wie mein Dad. Sie sind beide viel jünger als ich, Aspen ist im ersten Jahr in der Highschool, und Dakota geht in die siebte Klasse.
Aspen hat einen Übernachtungsgast, und als ihre Freundin kommt, verschwinden sie kichernd und flüsternd nach oben in ihr Zimmer. Dakota beschließt, seine zweite Dusche zu nehmen, denn er riecht wie vier Tage alte Socken. Mein Dad muss zu einem Geschäftstreffen, verspricht allerdings, dass es höchstens zwei Stunden dauert.
Sobald Mom und ich allein sind, geht sie in den Modus über, ihren Nachwuchs füttern zu wollen. Ich habe nichts gegen ihre Fürsorge. Sie und ich waren uns immer nah – die gleiche Art zu denken und sich Sorgen zu machen, haben dafür gesorgt.
Sie stützt sich mir gegenüber auf die Theke. »Wie geht es dir?«
Ich zucke die Achseln. »Ich sollte mich freuen, aber hauptsächlich habe ich Angst.« Ich erzähle ihr von Lavenders Ultimatum. Der Drohung. Was es auch immer sein mag.
Meine Mom bedeckt meine Hand mit ihrer viel kleineren und drückt sie. »Sie ist ein kluges Mädchen.«
Ich nicke. »Ich weiß, dass sie recht hat, aber es gefällt mir nicht.«
Sie stützt ihr Kinn auf ihre verschränkten Hände. »Das Leben besteht nicht nur aus Alles-oder-nichts-Entscheidungen, Kody. Wären die Wege, die wir beschreiten, alle schnurgerade ohne Kurven und Durststrecken, würden wir die Hochs zwischen den Tiefs und die einfachen Abschnitte nicht genießen.«
»Was, wenn ich nur Hockey oder Lavender haben könnte, aber nicht beides?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe mich so sehr bemüht, sie nicht zu lieben.« Ich starre auf die Theke. »Es ist, als hätte sie sich in mein Herz eingebrannt, als wir Kinder waren. Ich durfte sie nicht lieben. Also habe ich alles versucht, damit sie mich hasst. Ich habe furchtbare und verletzende Dinge gesagt und getan.«
»Hat sie dir verziehen?«
»Ja.«
»Aber du hast dir selbst nicht verziehen.«
Ich zucke die Achseln.
Meine Mom tätschelt meine Wange und zwingt mich aufzuschauen. »Du bist ein guter Mensch, mit einem guten Herzen, und du liebst intensiv. Manchmal ist so ein Maß an Liebe verwirrend und beängstigend, und deshalb kämpfen wir dagegen an. Doch Lavender kennt dich, so wie du sie kennst. Sie hat dir bereits einen Vorschuss gegeben. Jetzt bist du damit dran.«
Das Wochenende ist ziemlich stressig, aber zumindest bin ich nicht allein damit, denn Maverick ist in der gleichen Situation. Interessanterweise hat die Tatsache, dass ich jetzt mit seiner Schwester zusammenlebe, unsere Freundschaft nicht beeinträchtigt. Es gibt keinerlei Umkleidekabinen-Gespräche, aber das ist sowieso nicht mein Stil, und seiner auch nicht.
Als das Wochenende fast vorbei ist, habe ich getan, was ich gesagt habe und einen Vertrag bei einem Team unterschrieben.
Mein Dad strahlt über das ganze Gesicht, und wenn Regenbogen aus seinem Hintern schießen könnten, würden sie das.
»Wir sprechen bald wegen des Trainigscamps, und wir machen einen Termin nächsten Monat, damit du rauskommen und dir die Anlage ansehen kannst«, sagt der Manager. »Du wirst eine tolle Ergänzung für das Team sein.«
Ich schüttle seine Hand und murmle nervös irgendwelchen Unsinn darüber, wie sehr ich mich freue, Teil des Teams zu sein und dass ich es gar nicht erwarten könne, ins Trainingscamp zu kommen, doch am meisten denke ich daran, dass Lavender nun ihre Drohung, mit mir Schluss zu machen, nicht in die Tat umsetzen muss.