Arthur konnte sich nicht dazu überwinden, Kitty zu Hause zu besuchen, für den Fall, dass Tom da war. Nicht dass er Angst vor Tom gehabt hätte. Im Gegenteil, er verachtete den Mann für seine unzivilisierte Besessenheit von Geld. Es war nur so, dass ein Besuch Arthurs eine ohnehin schwierige Situation nur weiter verkompliziert und es noch unwahrscheinlicher gemacht hätte, dass sich seine Beziehung zu Tom verbesserte. Je länger es dauerte, bis er Toms Zustimmung gewann, desto größer war die Gefahr, dass Kitty das Interesse an ihm verlor oder, schlimmer noch, dass ihr ein anderer Freier den Kopf verdrehte. Es gab mehr als genug junge Männer in Dublin, die ein attraktiveres Angebot darstellten als ein mittelloser Infanterieoberst.
Als die ersten Frühlingsblüten erschienen, veranstaltete Lady Camden einen Ball im Schloss, den ersten der Saison, und alles, was Rang und Namen hatte, wurde eingeladen. Wenn Kitty noch in Dublin war, würde sie sicher zu dem Ball gehen, und Arthur beschloss, sie anzusprechen und zu fragen, was sie für ihn empfand.
Am Abend des Balls stand Arthur in seiner Ankleide vor dem Spiegel. Seine beste Uniform saß tadellos, Knöpfe, Stiefel und Epauletten glänzten, was er auch erwarten durfte für die Summe, die der Korporal aus dem Stab des Schlosses für die Arbeit verlangt hatte. Er hatte sich bisher keine Tapferkeitsauszeichnungen verdient, und die einzigen Verzierungen an seinem Uniformrock waren die schleifenförmigen Achselschnüre. Dennoch, er aß vernünftig und trieb regelmäßig Sport und befand sich infolgedessen in guter körperlicher Verfassung. Arthur war zufrieden mit dem Bild, das er abgab, und hoffte, Kitty würde ihn ebenso wohlwollend beurteilen – falls sie überhaupt auf dem Ball war.
Das Licht von den Kandelabern im Ballsaal fiel durch die Fenster schräg auf die Straße, als Arthur auf den Eingang zuschritt. Eine Wache aus Korporalen stand in Habachtstellung vor dem Torbogen, und Arthur zeigte seine Einladung vor.
Im Ballsaal drängten sich bereits viele Frauen in kunstvollen Kleidern, die trotz des Krieges noch stark der Pariser Mode verpflichtet waren. Die älteren Damen saßen an der Seite, während die jüngeren die Mitte beherrschten, wo sie sich mit jungen Männern in sorgfältig geschneiderten Jacken und Hosen mischten. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, trugen viele Männer Uniform, wobei die der Kavallerie am schmucksten waren und die der Marine am nüchternsten. Als Infanterieoffizier empfand sich Arthur selbst als elegant, ohne auf geschmacklose Art protzig zu wirken. Ein Orchester stimmte an der Stirnwand des Saals seine Instrumente, und Männer in Livree servierten Erfrischungen. Arthur stand mit dem Rücken an einer der Säulen, die die Gewölbedecke trugen. Er ließ den Blick über die Menge schweifen und hielt nach Kitty Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken und war für einen Moment sogar erleichtert, weil er sie nun doch nicht wegen ihrer Gefühle zur Rede stellen musste. Dann spürte er, wie etwas auf seinen Arm klopfte, und als er sich umdrehte, stand Kitty lächelnd vor ihm und zog ihren Fächer zurück. Mit der anderen Hand war sie bei einem hochgewachsenen und breitschultrigen Marineoffizier untergehakt, der drauf und dran zu sein schien, seinen Uniformrock zu sprengen.
»Guten Abend, Arthur.«
»Guten Abend, Kitty.« Er zögerte einen winzigen Augenblick, ehe er ihren Namen aussprach, und Kitty zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich hoffe doch sehr, du willst nicht dazu zurückkehren, mich Miss Pakenham zu nennen.«
»Natürlich nicht, Kitty.« Arthur lächelte. »Schließlich sind wir enge Freunde, nicht wahr?«
»In der Tat.« Sie wandte sich an ihren Begleiter. »Darf ich dir Hauptmann Charles Fenshaw vorstellen? Wie man sieht, ist er einer der jüngsten Hauptleute in der Marine. Ein Protegé meines Onkels, Kapitän Pakenham. Das liegt allerdings schon einige Jahre zurück und war, bevor er sich zur Ruhe setzte und Surveyor General of the Ordnance wurde, was immer das sein soll.«
Hauptmann Fenshaw lächelte bescheiden. »Kapitän Pakenham war so freundlich, mir eine Koje auf seinem Schiff anzubieten, als ich Fähnrich zur See war. Seither habe ich getan, was ich konnte, um mich seiner Förderung würdig zu erweisen.« Er streckte Arthur die Hand entgegen.
»Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen«, antwortete Arthur. »Oberst Wesley.«
»Arthur war in den Niederlanden, um gegen die Franzosen zu kämpfen«, erklärte Kitty. »Er ist vor einigen Wochen nach Dublin zurückgekehrt, wie ich von seinem Bruder William erfahren habe. Wie es scheint, ist er ein so guter Freund von mir, dass er es nicht der Mühe wert fand, mich von seiner wohlbehaltenen Rückkehr aus dem Krieg in Kenntnis zu setzen.«
Die Worte waren spitz, aber der Ton war heiter, und Arthur setzte eine reuige Miene auf.
»Meine Pflichten haben mich in Atem gehalten, Kitty. Was sonst könnte mich davon abhalten, dir meine Aufwartung zu machen? Außer deinem lieben Bruder.«
Kitty lachte. »Touché, Arthur.«
Hauptmann Fenshaw ging nicht auf die Sticheleien zwischen den beiden ein und konzentrierte sich auf Arthur. »Mein Bruder war im selben Feldzug.«
»Tatsächlich?« Arthur löste seinen Blick von Kitty.
»Er wurde verwundet und im Januar nach Hause geschickt«, sagte Fenshaw. »Er hat mir geschrieben und von den Bedingungen dort erzählt. Anscheinend konnte er von Glück sagen, dass er im Gegensatz zu vielen anderen den größten Teil des Winters überlebt hat.«
»Sie haben eine komische Auffassung von Glück, wenn Sie den Begriff auf jemanden anwenden, der diesen Winter miterlebt hat.«
»Ja, vermutlich«, erwiderte Fenshaw leise. »Zumal er nur eine Woche, nachdem er mir geschrieben hat, seinen Verletzungen erlegen ist.«
»Oh …« Arthur senkte den Kopf. »Verzeiht mir, Hauptmann. Ich wollte nicht respektlos klingen.«
»Davon bin ich überzeugt, mein Herr. Ihr wisst sehr gut, was mein Bruder durchgemacht hat.« Er wandte sich an Kitty. »Wenn ich darf, gehe ich Getränke holen, während du und der Oberst Neuigkeiten austauschen.«
Kitty nickte huldvoll, und der Marineoffizier bewegte sich angesichts seiner imposanten Statur erstaunlich elegant durch die Menge. Kitty sah ihm mit einem berechnenden Gesichtsausdruck nach.
»Was hältst du von ihm, Arthur?«
Arthur antwortete nicht sofort. Er kannte den Mann schließlich kaum, aber auf den ersten Blick schien Fenshaw ein ganz anständiger Kerl zu sein. Es wäre ein großer Jammer, sollte er sich als Rivale um Kittys Zuneigung herausstellen. »Ich habe ihn gerade eben kennengelernt, Kitty. Was soll ich sagen?«
»Dass er gut aussieht.«
»Das stimmt wohl. Gibt es noch andere Qualitäten, von denen ich wissen sollte?«
»Jawohl!« Sie wandte sich Arthur mit einem Funkeln in den Augen zu. »Er ist der Neffe eines Konteradmirals und wird ein stattliches Landgut in Somerset erben, dazu einen sechsprozentigen Vermögensanteil. Er hat klassische Sprachen in Oxford studiert und schreibt Gedichte.«
»Gedichte?« Arthur blickte zum anderen Ende des Saals, wo sich Fenshaw gerade mit drei Gläsern in den Händen auf den Rückweg zu ihnen begab. »Wirklich?«
»Oh ja! Er ist ein ziemlich romantischer Typ.«
Die Begeisterung in ihrem Tonfall schnitt wie ein Messer in Arthurs Herz, und er nahm Kittys Hand.
»Was ist, Arthur?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Sag mir, Kitty, was bedeutet dir dieser Mann?«
»Er ist ein Freund, fürs Erste. Seine Familie hat Land in der Nähe von Castlepollard zu verkaufen, und Charles ist nach Dublin gekommen, um den Verkauf zu regeln. Mein Onkel hat ihn meinem Bruder vorgestellt, und Tom meinte, ich könnte ihm die Sehenswürdigkeiten Dublins zeigen. Seitdem sind wir uns sehr zugewandt. Tom mag ihn ebenfalls.«
»Das glaube ich gern«, murmelte Arthur. »Er wäre ein ziemlich guter Fang für dich.«
»Ja, das wäre er«, erwiderte Kitty, dann drückte sie Arthurs Hand leicht. »Aber er ist nicht du. Dachtest du, ich würde dich so mir nichts dir nichts aufgeben, Arthur? Ich hatte gehofft, dass du mehr Vertrauen in mich hast.«
»Ach, Kitty …« Arthurs Verzweiflung war wie weggeblasen, und er machte Anstalten, ihr näher zu rücken, aber sie wich zurück und entzog ihm ihre Hand.
»Gleichwohl ist er ein guter Fang. Gut genug, um Tom zu erfreuen.«
Arthur schüttelte den Kopf. »Tu das nicht, Kitty.«
»Was? Ich tue nichts. Das ist ja das Problem. Aber es wird eine Zeit kommen, da muss ich mir einen Mann suchen, wenn ich keine alte Jungfer werden will. Und wenn du nichts aus dir machst, wird Tom einer Heirat mit dir niemals zustimmen. Es liegt an dir, Arthur, aber ich glaube nicht, dass ich ewig warten kann.«
Arthur warf einen Blick zu dem Marineoffizier. Er würde gleich wieder bei ihnen sein, und Arthur sprach schnell. »Sag, dass du ihn nicht heiraten wirst, Kitty. Versprich es mir.«
»Ich werde nichts dergleichen tun. Davon abgesehen, mag ich ihn.«
»Aber du liebst mich.«
»Fürs Erste.« Kitty lächelte zuckersüß und drehte sich zu dem hünenhaften Fenshaw um, der gerade an einer Gruppe junger Damen vorbeiging. Sie warfen ihm Seitenblicke zu und flüsterten dann miteinander.
»So, da wären wir, Kitty.« Fenshaw überreichte ihr ein Glas Punsch, dann gab er Arthur eins und hob das letzte in die Höhe. »Auf das Treffen alter Freunde.«
»Auf die Freundschaft«, sangen Arthur und Kitty im Chor. Arthur spürte, dass der andere ihn aufmerksam beobachtete, als versuchte er die wahre Natur seiner Freundschaft zu Kitty zu ergründen.
Das Orchester stimmte den ersten Tanz des Abends an, und Fenshaw wandte sich sofort Kitty zu. »Ich glaube, das ist mein Tanz. Hier, Wesley, nehmt die Getränke.«
Arthur streckte die Hände aus und nahm linkisch die Getränke in Empfang, während sich die beiden anderen zur Tanzfläche bewegten und mit den übrigen Paaren ihre Position einnahmen. Arthur sah sich um, fing den Blick eines Dieners auf und wies mit einem Kopfnicken auf die Gläser. Nachdem er sie losgeworden war, sah er zu, wie Kitty und Fenshaw in die ersten Schritte eines Reels einfielen und sich anlächelten, während sie sich mit den Armen einhakten und umeinanderdrehten. Es machte Arthur krank. Und wütend. Dass Kitty so käuflich war … Andererseits, welches Recht hatte er, auf ihrer Zuneigung zu bestehen, wenn auf Jahre hinaus keine Hoffnung bestand, dass er sie heiraten konnte, so wie sich sein Leben entwickelte? Für den Moment hing alles von Lord Camden ab. Wenn er einen einträglichen Posten für Arthur finden konnte, dann konnte er hoffen.
Den restlichen Abend über tanzte Kitty abwechselnd mit beiden Männern, und zwischen den Tänzen turtelte sie hemmungslos mit beiden. So sehr er sich auch bemühte, fiel es Arthur schwer, Fenshaw nicht zu mögen, der eine ähnliche Berufsauffassung wie er selbst zu haben schien, und in den wenigen ernsteren Gesprächspassagen, die Kitty zuließ, wurde klar, dass er ein nachdenklicher Mensch mit beträchtlichem Charme war, dazu hochintelligent und schlagfertig. Kurz, die Sorte Mann, die einen bewundernswerten Schwager für Tom Pakenham abgeben würde. Am Ende des Abends, als das Orchester zu spielen aufgehört hatte und die Gäste in der Reihenfolge ihrer gesellschaftlichen Stellung zum Aufbruch rüsteten, wandte sich Kitty den beiden zu.
»Nun, das war ein wunderbarer Abend für mich! Um die ungeteilte Aufmerksamkeit zweier so stattlicher Kavaliere dürfte mich so ziemlich jede unverheiratete Frau auf dem Ball beneidet haben. Was kann eine junge Frau mehr verlangen?« Sie lachte, und die beiden Männer fielen höflich ein. »Wir sollten das öfter machen. Ich glaube, wir drei könnten gute Freunde werden.«
Arthur nickte und ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken.
»Ja«, stimmte Fenshaw zu. »Es wäre mir ein Vergnügen, Euch wiederzusehen, Oberst.«
Als die Kutsche, die ihn und Kitty nach Hause bringen sollte, gerufen war, bestand Fenshaw darauf, Arthur bei seiner Unterkunft in Fostertown abzusetzen. Arthur wollte zunächst höflich ablehnen, damit sein Rivale nicht sah, in welch wenig eleganter Gegend er wohnte, aber dann würde er sich auch um die Gelegenheit bringen, noch ein wenig länger in Kittys Nähe zu sein, und so willigte er widerstrebend ein.
Als Arthur ausstieg, küsste er Kitty die Hand und wünschte Hauptmann Fenshaw eine gute Nacht. Dann sah er der Kutsche nach, bis sie ratternd um die Ecke verschwand. Er hörte Kitty ein letztes Mal lachen, ein heller, fröhlicher Klang, der früher Musik in seinen Ohren gewesen war und sich nun wie purer Hohn anfühlte.
Es tut mir leid, Wesley, aber weder im Schatzamt noch beim Fiskus ist etwas für Euch frei.« Lord Camden spreizte die Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit. »Wie Ihr wisst, habe ich viele politische Gefälligkeiten zurückzuzahlen, und bedauerlicherweise musste ich ihnen Vorrang gegenüber allen Erwägungen einräumen, wer für einen Posten am besten geeignet ist. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber so funktioniert das System nun einmal.«
»Ich verstehe«, erwiderte Arthur und bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. »Danke, dass Ihr ehrlich zu mir seid, Mylord.«
»Das ist das Wenigste, was Ihr verdient habt. Und seid versichert, ich werde mich ruhelos weiter bemühen, Euch eine Stellung zu verschaffen, in der Ihr zeigen könnt, was in Euch steckt. Ich weiß, Ihr werdet mir gut dienen.« Er lächelte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, Wesley. Euer Stern wird noch aufgehen.«
»Es kommt mir eher vor, als wäre er bereits am Verblassen, Mylord.« Die Worte waren ihm herausgerutscht, ehe er sich beherrschen konnte, und Lord Camden furchte verärgert die Stirn.
»Schaut, diesen Dingen liegt eine Ordnung zugrunde. Günstlingswirtschaft ist ein bewährtes System. Ohne es könnten wir den Kampf genauso gut aufgeben und die Prinzipien der Französischen Revolution annehmen. Und wir haben ja gesehen, wohin das führt. Chaos und Tyrannei. Günstlingswirtschaft funktioniert. Wenn ihre Bedürfnisse befriedigt sind, können wir Leute nach Tüchtigkeit einstellen. Die kommt meistens mit der Erfahrung, junger Mann, und ist das, was Euch im Augenblick fehlt. Ich habe aus verschiedenen Quellen gute Dinge über Euch gehört, insbesondere was Eure Eignung als militärischer Befehlshaber betrifft. In der Sphäre der Politik und der Besetzung von Ämtern seid ihr dagegen ein wenig unbeleckt, meint Ihr nicht auch?«
»Es stimmt, dass es mir an Erfahrung mangelt«, räumte Arthur ein. »Aber wie Ihr selbst sagt, zeige ich gute Ansätze und bin sehr wissbegierig. So oder so, wie soll ein Mann denn die nötige Erfahrung sammeln, wenn man ihm jede Chance dazu verwehrt?«
Lord Camden zuckte mit den Achseln. »Es ist im Augenblick vielleicht schwer vorstellbar, aber irgendetwas wird sich ergeben. Davon bin ich überzeugt.«
»Und wenn nicht, Mylord?«
»Dann wärt Ihr vielleicht am besten beraten, eine rein militärische Laufbahn zu verfolgen. Ihr könnt Beförderungen, Auszeichnungen und einen Titel erringen, wenn Ihr genügend Ruhm erntet und lange genug lebt. Dann wird es Euch leichter fallen, in die Politik zu gehen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.« Camden klatschte in die Hände. »Also wirklich! Ein junger Mann wie Ihr muss sich doch nach Abenteuer sehnen und nach einer Möglichkeit, sich seine Sporen zu verdienen.«
Arthur lächelte säuerlich. »Das klingt, als gäbe es bereits erheblichen Zweifel daran, dass ein öffentliches Amt für mich zu finden sein wird.«
»Ich sagte, ich werde für Euch tun, was ich kann«, erwiderte Camden kühl und griff nach einer Feder. »Mehr könnt Ihr nicht verlangen, Wesley, und Ihr seid ohnehin nicht in der Position, etwas zu verlangen. Und nun muss ich mich um andere Angelegenheiten kümmern, wenn es Euch nichts ausmacht.«
Die Besprechung war zu Ende. Arthur machte kehrt und marschierte kochend vor Empörung aus dem Raum. Die Empörung machte bald neuen Tiefen der Hoffnungslosigkeit Platz. Eine letzte Sache konnte er noch versuchen, auch wenn es ihm gewaltig gegen den Strich ging. Er konnte an Richard schreiben und um mehr Unterstützung bitten. Eine unmittelbare Empfehlung des Earl of Mornington würde doch wohl die eine oder andere Tür öffnen.
Nachdem er den Brief aufgesetzt, sorgfältig abgeschrieben und zu Richard nach London geschickt hatte, wandte Arthur seine Aufmerksamkeit wieder Kitty zu. Nun, da er ihre Bekanntschaft auf dem Ball erneuert hatte, fühlte er sich dazu in der Lage, sie zu Hause aufzusuchen. Mit dem Auftauchen eines gut aussehenden und finanziell solide ausgestatteten Freiers wie Hauptmann Fenshaw gab es für Tom Pakenham schließlich keinen Grund, sich wegen Arthurs Anwesenheit Sorgen zu machen. So konnte er mit Kitty und Fenshaw abends ins Theater gehen oder Soiréen und Picknicks besuchen, sobald sich der Sommer gegen die hartnäckigen Regenwolken des irischen Klimas behauptete. Es schmerzte ihn, dass Kitty Fenshaws Vornamen benutzte. Es hatte nach ihrem Kennenlernen Monate gedauert, bis er und Kitty sich mit Vornamen angesprochen hatten.
Seine Gefühle gegenüber Fenshaw waren gemischt. Fenshaw war ein guter Erzähler und deutete das unzüchtige Leben der Marineoffiziere nur in Begriffen an, die für Kittys Ohren geeignet waren. Gleichzeitig besaß er eine natürliche Sensibilität und hatte seinen Locke gründlich studiert. Kurz, ein vorzüglicher Mann, dessen Bekanntschaft er genossen hätte, wenn seine Zuneigung zu Kitty nicht gewesen wäre.
Jedes Lächeln, das sie Fenshaw schenkte, jede Berührung ihrer Hände und jeder Augenkontakt zwischen ihnen erfüllte Arthur mit solcher Eifersucht, dass er sich unwillkürlich ein möglichst rasches und tödliches göttliches Eingreifen wünschte. Danach schämte er sich für diese Gedanken und erkannte sich selbst nicht mehr. Arthur begriff schnell, dass er diese Augenblicke des Hasses auf Fenshaw erlebte, weil dieser genau die persönlichen Eigenschaften und gesellschaftlichen Verbindungen besaß, die Arthur nach seiner eigenen Einschätzung fehlten. Das fügte dem niedrigen Gefühl der Eifersucht eine höchst bittere und unappetitliche Note hinzu.
Eines Tages im Juli fuhren die drei in einer Kutsche in die Hügel bei Dundrum südlich von Dublin hinaus. Es war ein schöner Sommertag, und schmale weiße Wolkenbänder zogen über einen tiefblauen Himmel. Sie breiteten eine Decke im Schatten einer uralten Eiche aus und begannen, ihren Korb auszupacken.
»Eine hübsche Decke«, sagte Fenshaw lächelnd. »Eines Königs würdig.«
»Solange wir noch einen haben«, fügte Arthur trocken an.
Der Marineoffizier sah ihn mit einem sonderbaren Blick an, und Kitty lachte. »Du musst Arthur entschuldigen. Er glaubt, die Franzosen werden jeden Moment bei uns einmarschieren, mit bluttriefenden Zähnen und Klauen, und sie werden unsere Städte verwüsten und unser Volk abschlachten, nicht ohne zuvor unsere Frauen zu schänden.«
»Ach, ich bezweifle, dass das passieren wird«, sagte Fenshaw und griff nach einer Hühnerkeule.
»Nicht solange die Helden der Marine zwischen uns und dem Feind stehen oder schwimmen, nicht wahr?«, sagte Kitty und warf einen Blick zu Arthur. »Und die Helden der Armee ebenfalls.«
Fenshaw schüttelte den Kopf. »Das meinte ich nicht. Ich glaube nur nicht, dass die Franzosen so schlecht sein können, wie unsere Zeitungen und unsere Regierung uns glauben machen wollen.«
»Wirklich?« Arthur sah ihn an. »Wie kommt Ihr darauf?«
Fenshaw biss geziert von seinem Hühnerbein ab und kaute eine Weile, ehe er antwortete. »Es geht darum, was die Revolutionäre antreibt. Ihr Ziel bestand von Anfang an darin, die Lebensbedingungen ihrer Leute zu verbessern. Das gemeine Volk hatte es schwerer als bei uns in England, und es gab wenig Hoffnung auf Reformen seitens der Aristokraten und der katholischen Kirchenführer. Angesichts dessen, was sie erdulden mussten, würde ich sagen, es gibt eine gewisse Rechtfertigung dafür, dass sie so reagierten, wie sie es taten. Wenn das gemeine Volk zu massiv unterdrückt wird, dann wird es sich eines Tages erheben und die Herrschenden stürzen.«
»Ihr würdet also einen Königsmord rechtfertigen?«, warf Arthur ein.
»Nein, ich glaube, es war falsch von ihnen, ihren König hinzurichten. Aber man wird wohl kaum umhinkönnen, alles andere für gerechtfertigt zu halten.«
»Einschließlich der Abschaffung der Monarchie?«
Fenshaw zuckte mit den Achseln. »Warum nicht, wenn man bedenkt, wie weit sich ihre Könige von den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Untertanen entfernt haben. Die Revolutionäre verschieben lediglich die Machtbalance zugunsten des Volkes. Deshalb finde ich nicht, dass man sie als eine Urgewalt des Chaos’ und des Bösen ansehen sollte.«
Arthur schüttelte erstaunt den Kopf. »Das kann nicht Euer Ernst sein, Fenshaw. Seht Euch doch an, was sie ihren eigenen Landsleuten antun. Sie schicken sie zu Tausenden auf die Guillotine. Führen Krieg gegen ihre Mitbürger in der Vendée, in der Normandie und im Süden des Landes. Und was ist mit den Ländern, in die sie einmarschiert sind? Wie sollte das ein Beweis ihrer guten Absichten gegenüber dem gemeinen Mann sein?«
»Sie kämpfen darum, die Revolution am Leben zu halten, Wesley. Alle Monarchien in Europa fürchten das Beispiel, das die Französische Republik setzen würde, wenn sie erfolgreich wäre. Sie ist ein Leuchtfeuer für unterdrückte Menschen überall – und deshalb sind die anderen Mächte entschlossen, die Revolution zu vernichten, indem sie von außen Krieg gegen sie führen und im Innern Lügen verbreiten und Aufstände anzetteln. Unter diesen Umständen tun sie, was sie tun müssen, um die Revolution zu verteidigen.«
»Der Zweck heiligt also die Mittel?« Arthur rümpfte die Nase. »Das ist seit jeher die Ausrede von Tyrannen. Mittel und Zweck sind nicht auseinanderzuhalten, und nur Dummköpfe und Scharlatane behaupten etwas anderes.«
»Manchmal müssen für das Wohl aller Opfer gebracht werden.«
»Jetzt hört aber auf, Fenshaw. Das könnt Ihr doch nicht im Ernst glauben. Das Gesindel, das in Frankreich die Macht an sich gerissen hat, tötet doch nicht um eines Ideals willen seine eigenen Leute und die anderer Nationen. Sie tun es einzig und allein, um sich selbst zu schützen und ihre Tyrannei auf andere Länder auszudehnen. Ein Tyrann ist ein Tyrann, egal zu welch edlem Zweck er sich bekennen mag. Revolution gebiert nur Chaos, und Chaos kann nur durch einen grausamen und skrupellosen Tyrannen aufgelöst werden. Das ist kein Schicksal, das ich meinem Land und meinem Volk wünsche, sollten die Franzosen einmarschieren.«
Fenshaw lächelte leise. »Ihr solltet nicht alles glauben, was Ihr in Edmund Burkes bösartigen Pamphleten lest, Wesley.«
»Und Ihr solltet Euch nicht von dem erbärmlichen Geschmier Thomas Paines täuschen lassen«, gab Arthur barsch zurück.
Eine gefährliche Spannung hing über der Picknickdecke, und Kitty holte einen kleinen Topf aus dem Korb und streckte ihn zwischen die beiden Männer. »Gänseleber-Terrine? Ihr solltet sie unbedingt kosten. Unser Koch macht sie. Ganz köstlich.«
Arthur sah sie mit hochgezogenen Brauen an, dann holte er tief Luft und hielt ihr seinen Teller hin. »Gern, Kitty. Danke.«
Fenshaw nagte weiter an seiner Hähnchenkeule und wechselte die Stellung, um den Blick auf Dublin zu genießen, das sich ausnahmsweise ohne braunen Rauchschleier links und rechts der Liffey ausdehnte.
»Es ist so ein schöner Tag, nicht wahr?«, sprudelte Kitty hervor. »Viel zu schön, um ihn mit Gesprächen über diese elenden Franzosen zu vergeuden. Bitte lasst sie uns heute nicht mehr erwähnen. Gönnen wir ihnen nicht die Genugtuung, uns das Picknick zu verderben. Kommt, Arthur und Charles, langt zu!«
Es gab keinen Versuch mehr, die Meinungsverschiedenheit fortzusetzen, und beide Männer waren für den restlichen Nachmittag betont höflich zueinander, aber die freundschaftliche Atmosphäre war verschwunden, und trotz Kittys Bemühungen, sie wiederherzustellen, blieb die Stimmung angespannt. Am späten Nachmittag, als die Strahlen der tiefer stehenden Sonne den Hügel und die Weiden darunter in Rot- und Gelbtöne tauchten, packten sie den Picknickkorb zusammen und luden ihn in die Kutsche. Fenshaw entfernte sich, um dem Pferdeburschen zu helfen, die Kutsche zu wenden. Kitty wartete, bis er außer Hörweite war, ehe sie sich an Arthur wandte.
»Warum hast du das getan?«, flüsterte sie zornig.
»Wovon redest du?«
»Verkauf mich nicht für dumm. Arthur. Du weißt genau, wovon ich rede. Wieso hast du ihn provoziert?«
»Ich habe nichts dergleichen getan. Wenn überhaupt, dann hat er mich provoziert, Kitty. Dieser ganze Unsinn über die Revolutionäre und ihre Prinzipien. Der Mann ist ein verdammter Narr, wenn er irgendetwas davon glaubt.«
»Er war nur einfühlsam. Ich fand, er hat sehr gut davon gesprochen, wie ungerecht man die einfachen Leute in Frankreich behandelt hat.«
»Was weiß der über die einfachen Leute?«
»Arthur, was weiß irgendwer von uns über sie?«
Arthur öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber was sollte er sagen? Kitty hatte recht. Es gab eine Kluft des Unverständnisses zwischen den Klassen, die nicht weniger breit war als die zwischen den Nationen. Er fand diese Erkenntnis beschämend. Er war Oberstleutnant der Infanterie, und doch wusste er wenig von jenen, die er führte. Dagegen musste etwas unternommen werden, wenn man ihn mit dem Kommando über Hunderte seiner Landsleute betrauen sollte. Er reichte nicht, sie herumzukommandieren, er musste über ihren Respekt gebieten und über ihre Bereitschaft, ihm nach bestem Vermögen zu dienen. Arthur hatte im letzten Feldzug gesehen, was für schreckliche Folgen es hatte, wenn Offiziere Distanz zu ihren Soldaten hielten und kein Interesse an ihrem Wohlergehen hatten.
Kitty stieß ihn an. »Charles kommt zurück. Kein Wort mehr zu dem Thema.«
Fenshaw lächelte Kitty an, als er wieder zu ihnen stieß, und er behielt den Gesichtsausdruck bei, als er Arthur zunickte. »Alles fertig? Dann lasst uns aufbrechen.«
Er half Kitty höflich in die Kutsche und trat beiseite, um Arthur als Nächsten einsteigen zu lassen, aber Arthur weigerte sich.
»Ihr zuerst, Fenshaw.«
»Nach Euch, Sir. Ich bestehe darauf.«
Arthur wollte protestieren, aber Kitty trommelte mit den Fingern an die Wand der Kutsche. »Seid ihr zwei vielleicht bald fertig? Steig ein, Arthur.«
Er zögerte kurz, dann tat er wie gebeten und nahm den Platz neben ihr ein. Fenshaw setzte sich gegenüber, seine harten Knie schoben sich zwischen Arthurs Stiefel und die Falten von Kittys Rock. Der Pferdebursche kletterte auf den Kutschbock, nahm die Zügel und ließ sie schnalzen. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und rumpelte den Weg nach Dublin zurück.
Eine Weile sagte niemand etwas, nicht einmal Kitty, und sie blickten auf die Landschaft hinaus, ohne etwas zu sehen, bis sich Fenshaw schließlich räusperte.
»Ich muss mich entschuldigen, falls ich Euch in irgendeiner Weise gekränkt habe, Oberst. Es würde mich schmerzen, wenn ich annehmen müsste, einem guten Freund von Kitty durch meine Worte Unbehagen bereitet zu haben.«
Arthur wedelte mit der Hand. »Denkt Euch nichts dabei. Ich war unbeherrscht und hätte nicht reagieren dürfen, wie ich es tat. Es war nur so, dass es mich überrascht hat, solche Aussagen von einem Offizier des Königs zu hören. Ich stelle mir vor, dass Ihr um der Debatte willen den Advocatus Diaboli gespielt habt.«
Fenshaw erstarrte. »Das habe ich in der Tat nicht getan, mein Herr. Ich stehe zu meinen Ansichten.«
»Und wie lassen sich Eure Ansichten mit Eurer Pflicht gegenüber Eurem König und Eurem Land vereinbaren? Sympathie für den Feind muss doch unweigerlich zu einem Interessenkonflikt führen, nachdem Ihr gezwungen sein könntet, seine Soldaten zu töten.«
Kitty schlug mit der Hand auf ihren Oberschenkel. »Arthur! Du gehst zu weit.«
Fenshaw hob die Hand, um sie zu beruhigen. »Das ist eine berechtigte Frage, Kitty. Lass mich antworten.«
»Na gut, bitte.« Sie wandte sich von ihnen ab, stützte das Kinn auf die Knöchel und starrte unbewegt ins Leere.
Fenshaw sah Arthur an. »Es stimmt, dass meine politischen Ansichten eher radikal sind, selbst für einen Whig. Aber ich bin zuerst und vor allem Engländer, und ich weiß, dass meine Pflicht in erster Linie meinem Land gilt. Falls Frankreich eine Invasion Englands versucht, werden sie es zuerst mit der Royal Navy zu tun bekommen, und ich schwöre Euch, dass ich bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werde, um zu verhindern, dass französische Soldaten einen Fuß auf unseren Boden setzen. So stehen die Dinge bei mir, Wesley. Deshalb zweifelt nicht an meiner Loyalität. Haltet mich nicht für einen Verräter. Können wir es dabei belassen?«
Arthur warf einen Blick zu Kitty und wünschte sich sehr, früher am Nachmittag den Mund gehalten zu haben, als es noch einen Unterschied gemacht hätte. Aber jetzt war es zu spät dafür, und er würde erst zufrieden sein, wenn er den Standpunkt des anderen auf die Probe gestellt und Kitty hoffentlich bewiesen hatte, dass ihr neuer Verehrer Schindluder mit seinen Prinzipien betrieb.
»Das könnten wir, mein Herr, aber ich gebe zu, ich bin neugierig, wie jemand mit so verqueren Loyalitäten zurechtkommen will, sollte er mit französischen Soldaten in Kontakt geraten.«
»Glaubt mir, mein Herr, ich habe alles gründlich überlegt, und ich bin vollkommen klar in dieser Angelegenheit. Ich werde sie so hartnäckig bekämpfen wie jeder andere. Und da es die Marine ist, welche die erste Verteidigungslinie unseres Landes bildet, werde ich wahrscheinlich weit früher als Ihr dazu aufgerufen sein, mich zu beweisen.«
Es war ein gut vorgebrachtes Argument, und Arthur sah keinen Gewinn darin, die Debatte fortzusetzen, nicht zuletzt, weil er Kittys wachsenden Zorn spürte und klug genug war, keinen Pyrrhussieg über seinen Rivalen anzustreben.
Es war dunkel, als ihn die Kutsche vor seiner Unterkunft in Fostertown absetzte, und er wünschte den anderen höflich eine gute Nacht, ehe er die Stufen zur Eingangstür hinaufstieg. Im Flur entdeckte er, dass ein Brief im Postfach auf ihn wartete, und er erkannte sofort die Handschrift seines Bruders Richard. Er brach das Siegel auf und begann zu lesen. Richard fasste sich kurz wie immer und teilte Arthur mit, dass es ihm gelungen sei, Lord Camden dazu zu überreden, ihm eine nützliche Position in der irischen Regierung zu übertragen. Es sei sicherlich kein so bedeutender Posten, wie Arthur sich erhofft haben mochte, aber er würde eine gesunde Basis für sein weiteres Vorankommen bilden.
Arthur las weiter, dann runzelte er die Stirn und las den letzten Absatz noch einmal, ehe er den Brief mit einem Gefühl der Mutlosigkeit sinken ließ.
»Oh, Richard«, murmelte er. »Was hast du mir angetan?«
Das ist genau das, was ich an einem Montagmorgen brauche«, grummelte Lord Camden. Er beugte sich in seinem Sessel vor und fuhr in gereiztem Ton fort. »Ich habe Euch so verstanden, dass Ihr einen Posten bei der Regierung haben wolltet. Und doch habt Ihr nun die Stirn, mich in einer lebenswichtigen Sache hier in meinem Büro aufzusuchen, wie es in Eurer Nachricht hieß, um mir mitzuteilen, dass Ihr die Stelle nicht haben wollt.«
»Das trifft es nicht ganz, Sir«, sagte Arthur ängstlich. »Natürlich hätte ich den Posten gern, und ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr mich seiner für würdig befunden habt.«
»Das habe ich nicht, aber Euer Bruder war ein höchst beredter Anwalt Eurer Sache.«
Daran zweifelte Arthur nicht, und er fragte sich, welche politische Gefälligkeit als Gegenleistung zu seiner Ernennung zum Surveyor General of the Ordnance versprochen worden war. Es spielte keine Rolle, denn es kam nicht infrage, dass er die Stelle antrat. Nicht, wenn er weiter eine Chance haben wollte, Kitty doch noch zur Ehefrau zu gewinnen.
»Darf ich es erklären, Mylord?«
»Ich bitte darum.«
»Der gegenwärtige Surveyor General ist Captain Pakenham.«
»Das weiß ich, vielen Dank.«
»Seine Nichte ist Kitty Pakenham.«
Lord Camden sah ihn einen Moment lang an und schüttelte dann den Kopf. »Nie von ihr gehört.«
»Sie ist die Frau, die ich zu heiraten beabsichtige, sobald es die Umstände erlauben.«
Lord Camden machte große Augen, als ihm der Zusammenhang klar wurde. »Ach so! Ich verstehe, junger Mann. Es würde nicht gut ankommen, wenn Ihr den Verwandten Eurer Herzdame verdrängtet.«
»Nein, Sir, das würde es nicht. Umso mehr, da ich die Erlaubnis ihres Bruders brauche, um Kitty heiraten zu können, und er hat ohnehin schon eine schlechte Meinung von mir. Wie Ihr seht, bin ich also gezwungen, das Angebot abzulehnen.«
»Das ist eine üble Geschichte, Wesley«, sagte Camden betrübt.
»Ja, Mylord.«
»Und es kommt noch schlimmer.«
Arthur zog die Augenbrauen fragend in die Höhe, während ihm flau im Magen wurde. Aber was hätte noch schlimmer sein können als die missliche Lage, in der er sich befand?
»Ich habe Captain Pakenham bereits von seiner bevorstehenden Ablösung in Kenntnis gesetzt. Der Brief wurde vor drei Tagen abgeschickt.«
Arthur senkte den Kopf, und er wurde von einem Schwindelgefühl erfasst, als würde er schwankend am Rand eines Abgrunds stehen. Vor drei Tagen. Selbst wenn die Nachricht noch nicht zugestellt wurde, war nicht daran zu denken, sie rechtzeitig abzufangen. Wahrscheinlicher war, dass Captain Pakenham bereits ein erbittertes Protestschreiben an Lord Camden losgelassen und sich in einem Brief an seine Familienangehörigen über die Maßnahme beschwert hatte. Großer Gott, dachte Arthur erschrocken, vielleicht war der Brief schon da. Er stellte sich für einen Moment vor, wie Kitty ihn öffnete, den Inhalt las und sich für immer von ihm abwandte. Doch es war eine zu trostlose Vorstellung, und er schüttelte sie ab und sammelte sich wieder.
»Mylord, ich bitte demütigst darum, dass Ihr die Entscheidung, Captain Pakenham durch mich zu ersetzen, widerruft. Mir ist zwar klar, dass der Schaden bereits angerichtet ist, aber ich kann nicht zulassen, dass andere Leute denken, ich sei in diese Angelegenheit verstrickt gewesen. Ich muss mich gegen jeden Vorwurf des unehrenhaften Verhaltens verteidigen können. Das müsst Ihr verstehen.«
»Natürlich verstehe ich es!«, rief Lord Camden. »Haltet Ihr mich etwa für einen Idioten? Wenn das bekannt wird, könnt Ihr wahrscheinlich von Glück reden, wenn Euch nicht irgendein junger Mann aus dieser Familie zum Duell fordert.«
»Genau das ist meine Befürchtung. Und sollte es Kittys Bruder sein …«
»Dann seid Ihr verdammt, wenn Ihr gewinnt, und tot, wenn Ihr verliert.«
»Richtig.«
»Der Teufel soll Euch und Euren Bruder holen, weil er sich ständig einmischt!« Lord Camden schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Was glaubt Ihr, wie ich bei dieser Geschichte dastehe! Erst nehme ich dem Mann seinen Posten weg, um ihn jemandem zu geben, der nicht einmal halb so alt ist, dann werfe ich ihn ihm wieder vor die Füße, als würde ich mit einem gottverdammen Jagdhund spielen. Das ist nicht gut, mein Herr!«
»Nein, Sir.«
Eine Weile sprach keiner der beiden, der Lord Lieutenant sah seinen Adjutanten zornig an, und Arthur stand da und ertrug die Missbilligung und die Furcht vor den Folgen von Richards Intervention. Hätte Richard doch nur erst mit ihm gesprochen …
»Ich werde verflucht nochmal einen neuen Brief schreiben müssen. Nur dass ich ihn diesmal demütigst darum bitten muss, die Aufgabe weiterhin zu übernehmen. Ich hoffe um unser beider willen, dass er nicht in seiner Empörung aller Welt kundtut, wie schäbig man ihn behandelt hat.« Er beugte sich vor und reckte Arthur den Zeigefinger entgegen. »Und Ihr solltet besser keinen Gedanken daran verschwenden, dass ich Euch helfen werde, einen anderen Posten in meiner Regierung zu finden. Jetzt geht mir aus den Augen, Wesley. Ich muss einen Brief schreiben.«
»Ja, Sir.« Arthur stand stramm und salutierte, dann machte er kehrt und marschierte schnell aus dem Büro, während Lord Camden nach seinem Sekretär brüllte.
Arthur verließ das Schloss und eilte schnurstracks zum Rutland Square. Er durfte keine Zeit vergeuden. Er musste Kitty finden und alles erklären, bevor sie die Neuigkeit von ihrem Onkel erfuhr. Als er beim Haus ankam, stürmte er die Treppe hinauf und hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen, seinen Hut abzunehmen und sich den Uniformrock glatt zu streichen, ehe er klopfte. Ein älterer Diener öffnete und lächelte, als er den Besucher erkannte, und Arthur fasste neuen Mut, weil das Personal offenbar noch nicht angewiesen worden war, ihm die kalte Schulter zu zeigen.
»Ist Miss Pakenham zu Hause?«
»Leider nein, Sir. Sie ist vor einer guten Stunde gegangen.«
»Wisst Ihr, wohin sie gegangen ist?«
»Einkaufen, denke ich. Höchstwahrscheinlich kauft sie bei Thorns, dem Kurzwarenhändler in der Fitzroy Street, einige Dinge.«
»Seid Ihr sicher?«
Der Diener lächelte wieder. »Miss Pakenham ist ein Gewohnheitstier, Sir.«
»Danke.« Arthur machte kehrt, aber nach zwei Schritten hielt er inne und drehte sich noch einmal um. »Wenn sie wiederkommt, bevor ich sie finde, sagt ihr bitte, ich muss ihr etwas sehr Wichtiges mitteilen und wäre ihr sehr verbunden, wenn sie hierbleiben würde. Ich komme dann noch einmal zurück, falls meine Suche erfolglos bleibt.«
»Sehr wohl, Sir. Soll ich ihr sonst noch etwas ausrichten?«
»Nein. Ich erzähle ihr alles selbst.«
»Ja, Sir.« Der Diener nickte und schloss die Tür.
Arthur eilte in die Stadtmitte, schlängelte sich durch das Gedränge der Kunden in der Fitzroy Street und wich behände den Bettlern aus, bis er schließlich bei Thorns eintrat. Er durchkämmte den Laden, doch ohne Erfolg. Er lief zum Rutland Square zurück, doch sie war noch nicht zurückgekommen. Verzweifelt bat er darum, Miss Pakenham möge bei ihrer Rückkehr eine Nachricht an seine Wohnung schicken, damit er kommen und in einer Angelegenheit von größter Dringlichkeit mit ihr sprechen könne.
Mit dem Gefühl, dass sein ganzes Leben im Begriff war, in Chaos zu versinken, ging Arthur langsam nach Hause zurück. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, während er sich in Gedanken die Worte zurechtlegte, mit denen er Kitty von seiner Schuldlosigkeit an diesem ganzen bedauernswerten Durcheinander zu überzeugen versuchen wollte. Es begann zu regnen, und nun fiel ihm auf, dass er in seiner Eile den Regenumhang im Schloss vergessen hatte. Als er schließlich bei seiner Unterkunft in Fostertown ankam, war er gründlich durchnässt. Der Hauswart runzelte die Stirn, als er Arthur tropfnass hereinkommen sah. Er setzte zu sprechen an, aber Arthur ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Earnshaw, wie viel, damit Ihr mir ein Bad einlasst?«
»Kalt drei Pence, Sir. Heiß kostet es sechs.«
»Ich gebe Euch einen Shilling, wenn Ihr in einer halben Stunde ein heißes Bad fertig habt.«
»Ja, Sir.«
Arthur wandte sich der Treppe zu, aber der Hauswart rief ihm hinterher. »Sir!«
»Was ist?«
»Im Salon wartet jemand, der Euch sprechen will.« Er lächelte. »Eine richtige Dame.«
»Himmel …«, murmelte Arthur. Einen Moment lang hoffte er verzweifelt, dass es ein Zufall war, aber dann verfluchte er sich selbst. Natürlich war es kein Zufall. Kitty hatte die Nachricht bereits erhalten. Er blickte kurz zu Boden, bis er genügend Entschlusskraft aufbrachte, dann richtete er sich auf und schritt ruhig zur Tür des Salons. Er öffnete sie und sah Kitty in einem Sessel am Fenster sitzen. Hinter ihrer Schulter lief der Regen über das billige Glas und ließ die Außenwelt verschwimmen. Sie sah ihn an, ihre Lippen waren ein schmaler Strich in einem aschfahlen Gesicht.
»Guten Tag, Kitty.« Arthur hätte sich beinahe ein Lächeln gestattet, hielt sich aber gerade noch zurück. »Ich habe dich gesucht …«
»Wie kannst du es wagen?«, unterbrach sie ihn harsch.
»Kitty!« Arthur machte einen Schritt auf sie zu, und sie zuckte zusammen wie vor einer bösartigen Schlange.
»Bleib weg, Arthur. Ich glaube, mir wird schlecht, wenn du noch näherkommst. In der ganzen Zeit, seit ich dich kenne, ist mir nicht einmal der Gedanke gekommen, du könntest zu einem so niederträchtigen, berechnenden und eines Gentlemans unwürdigen Verhalten fähig sein. Das ist ein anständiger Mann, habe ich mir gesagt. Ehrlich, charmant und intelligent. Nun, jetzt hast du den dümmsten, erbärmlichsten Fehler deines Lebens begangen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich dich geliebt habe … Dass ich dich heiraten wollte! Bei dem bloßen Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut. Ich …« Sie senkte den Kopf und wischte sich wütend eine Träne fort. Aber sie konnte ihre Gefühle nicht länger zurückhalten, ihre Schultern bebten, und weitere Tränen flossen.
Arthur sah sie an, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, zu ihr zu gehen und sie zu trösten, und dem Wissen, dass es sie nur abstoßen würde, wenn er es täte. Er schluckte nervös. »Kitty, lass mich erklären. Bitte.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, strich sich über die Augen und sah ihn trotzig an. »Was gibt es da zu erklären, Arthur? Ich weiß alles. Vor allem weiß ich, wie du mich und meine Familie betrogen hast. Ich komme mir so dumm vor, weil ich dich nicht durchschaut habe.«
»Es gibt nichts zu durchschauen, Kitty. Ich bin derselbe Arthur, der ich immer war. Derselbe Mann, den du geliebt hast, wie du sagst.«
»Wage nicht, es auszusprechen! Du Wurm.«
»Lass mich reden. Hör mir zu, Kitty. Wenn sich dein Herz dann noch immer gegen mich wendet, kannst du mich heißen, was du willst. Aber hör mir erst zu.«
Sie schürzte die Lippen, sah ihn aus roten Augen finster an und nickte dann langsam. »Sag, was du zu sagen hast, Arthur. Wozu auch immer es gut sein soll.«
Zum ersten Mal an diesem Tag wurde ihm eine Spur leichter ums Herz, und er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, bevor er ihr von seinem Brief an Richard und dessen unglücklichen Folgen erzählte.
»Ich habe Lord Camden erklärt, es komme unter diesen Umständen nicht infrage, dass ich den Posten annehme«, schloss er. »Seitdem suche ich nach dir, weil ich dir die Wahrheit darüber erzählen wollte, bevor du hörst, was passiert ist und es vielleicht missverstehst.«
»Missverstehst? Die Sache ist schon ein wenig ernster, Arthur.«
»Denkst du, das weiß ich nicht?« Er schlug sich auf die Brust. »Kitty, mir ist klar, dass ich drauf und dran bin, den Menschen zu verlieren, den ich mehr liebe als jeden anderen auf der Welt, aber ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit. Ich hatte nichts mit der Sache zu tun.« Er trat einen Schritt näher und ging vor ihr auf die Knie. »Ich schwöre, ich habe nichts getan, wofür ich mich schämen muss. Ich habe Camden mitgeteilt, dass ich den Posten nicht annehmen kann, und ich habe ihn angefleht, ihn deinem Onkel zurückzugeben. Ich habe mich so ehrenhaft verhalten, wie es die Situation zuließ.«
Sie betrachtete ihn schweigend, und er sah den Widerstreit der Gefühle in ihrem Gesicht. Langsam griff er nach ihrer Hand und hielt sie sanft. Ihre Lippen bebten, und sie hob seine Hand und legte sie an ihre Wange.
»Ach, Arthur, ich möchte es so gern glauben. Tom hat heute Morgen einige schreckliche Dinge gesagt. Er hatte eine dringende Besprechung, aber ich hatte Angst, er würde anschließend nach dir suchen, um Satisfaktion zu verlangen. Deshalb musste ich zuerst mit dir sprechen.«
»Ich muss es ihm erklären.«
»Nicht jetzt. Er würde dich sofort erschießen, wenn er dich sieht. Lass mich zuerst mit ihm sprechen. Ich schicke dir eine Nachricht, sobald du es ihm gefahrlos in deinen eigenen Worten sagen kannst.« Sie ließ seine Hand los und trocknete sich mit dem Ärmel die Tränen. »Ich gehe lieber zurück. Vielleicht ist er zu Hause und fragt sich, wo ich stecke.«
Arthur richtete sich wieder auf. »Ja, natürlich. Ich werde warten, bis ich von dir höre.«
Er begleitete sie zur Tür, und als sie auf der Schwelle standen, fasste Arthur sie an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Ich liebe dich, Kitty. Ich würde nie etwas tun, um diese Liebe zu gefährden oder zu entehren.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich weiß. Und ich liebe dich. Ich glaube, ich werde dich immer lieben.«
Dann drehte sie sich um und eilte davon.
Auch wenn Captain Pakenham Arthurs Erklärung akzeptierte, war er verständlicherweise verärgert über Richards Rolle bei der ganzen Affäre. Kittys Bruder war weniger nachsichtig und wollte fortan nichts mehr mit der Familie Wesley zu tun haben. Er untersagte Arthur, sein Haus zu betreten, und ermahnte Kitty, sich von ihm fernzuhalten. Noch schlimmer war, dass die Angelegenheit Arthurs Beziehung zu Lord Camden schwer belastete, sodass aus dieser Richtung für lange Zeit keine Aussicht auf Beförderung bestand.
Demzufolge schluckte Arthur seinen Stolz und seine Verbitterung hinunter und schrieb an Richard, um zu sehen, was sein Bruder in Hinsicht auf ein Feldkommando tun konnte. Eine Karriere in der Armee war der einzige Weg, der ihm noch offenstand. Der Befehl kam umgehend. Oberstleutnant Wesley sollte in Plymouth wieder zum 33. Infanterieregiment stoßen, das sich dort auf den Dienst auf den Westindischen Inseln vorbereitete. Arthur packte seine wenigen Habseligkeiten in Reisetruhen und sagte Dublin Lebwohl.
Es gelang ihm, Kitty eine Nachricht über Hauptmann Fenshaw zukommen zu lassen, der nur zu gern die Botschaft vom baldigen Aufbruch seines Rivalen überbrachte. Sie trafen sich Ende August in einem kleinen Kaffeehaus nicht weit vom Schloss. Zum ersten Mal seit mehr als einer Woche war der Himmel klar, und Dublin lag in warmem Sonnenschein, der die Stimmung der Stadtbewohner hob, sodass es einen markanten Unterschied zwischen den Mienen der beiden Personen gab, die an einem Tisch in der Ecke saßen, und jenen der übrigen Gäste, die fröhlich miteinander plauderten.
»Ich habe keine Ahnung, wie lange ich diesmal fort sein werde«, sagte Arthur. »Es könnte für einige Jahre sein.«
»Jahre?« Kitty fuhr zusammen. »Warum so lange? Der letzte Feldzug war eine Sache von einigen Monaten.«
»Ich weiß. Aber diesmal wird es anders sein. Die Regierung will den Krieg in die französischen Kolonien tragen. Es wird also darum gehen, eine Insel nach der anderen zu erobern. Das könnte viel länger dauern, als man denkt, vor allem bei den Bedingungen in Westindien.«
»Bedingungen?« Kitty runzelte die Stirn. »Du meinst die gesundheitlichen Gefahren, nicht wahr? Charles hat mir von den ganzen Krankheiten erzählt: Gelbfieber, Ruhr … ach, ich mag an den Rest gar nicht denken.« Sie streckte die Hand über den Tisch aus und verschränkte ihre Finger in seine. »Arthur, versprich mir, dass du auf dich achtgibst.«
»Ich werde tun, was ich kann, Kitty. Aber ich denke, ich werde dich auf jeden Fall für lange Zeit nicht sehen können. Bis dahin wirst du mich vergessen haben und mit jemand anderem verheiratet sein. Vielleicht mit Charles.«
»Sag nicht solche Dinge.« Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich will dich.«
»Es wäre der Gipfel der Torheit, wenn wir heiraten würden, so, wie die Dinge stehen, Kitty. Du sollst nur wissen, dass sich meine Gefühle für dich niemals ändern werden. Egal was geschieht. Und wenn ich tatsächlich eines Tages zurückkehre und mein Glück gemacht habe und du durch irgendein Wunder noch nicht geheiratet hast, dann …«
Sie blickte auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde da sein. Wenn du mich dann noch willst.«
Die Gefühlsaufwallung, die Arthurs Herz erfüllte, verwandelte sich nur allzu schnell in einen grausamen Schmerz, da er wusste, sie mussten sich in Kürze trennen, und es würde vielleicht für immer sein.
»Bei meinem Leben, Kitty, ich werde dich noch wollen. Ich verspreche es.«
Dezember 1795
Es war ein schöner, klarer Wintertag und der Hafen von Southampton voller Schiffe. Vom Hauptkai, wo Arthur die Szenerie beobachtete, sahen die Masten, Rahen und Takelagen wie ein riesiges, kunstvolles Spinnennetz aus. Zwischen den Küstenseglern und kleinen Handelsschiffen lagen die großen Ostindienfahrer, an denen die Flagge der Ostindien-Kompanie flatterte. Weiter draußen lagen die Schiffe der Royal Navy, von kleinen Schaluppen bis zu stattlichen Kriegsschiffen. Alle waren auf einer Seite der Schifffahrtsrinne vertäut, da mehrere Segler, die den günstigen Wind ausnutzten, in den Hafen von Southampton glitten, vorbei an jenen, die gerade die Segel zu anderen Zielen setzten. Ihre Toppsegel waren dicht geholt, sie blähten sich unter dem Druck des Winds und versetzten die Schiffe sanft leewärts.
Der Kai war voller Männer, die Fracht aus den Handelsschiffen luden, während andere Vorräte und Ausrüstung an Bord der Truppentransporter brachten, die nahe der Werft angedockt waren. Arthur sah zu, wie seine Offiziere und Sergeanten die Männer seines Regiments in ihren roten Uniformröcken ordneten und sie über die Rampen auf die Decks der Schiffe marschieren ließen, die für die nächsten Monate ihr enges Zuhause sein würden. Die rauen Rufe der Sergeanten konkurrierten mit dem Pfeifen des Winds in den Takelagen und dem schrillen Kreischen der Seemöwen. Als die letzten Männer an Bord waren, machte Arthur kehrt und ging zurück zu seiner Unterkunft im Crown and Anchor, um seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln, bevor er zu seinen Männern stieß. Wenn die Windrichtung konstant blieb, würde das Regiment am nächsten Tag mit der Mittagsflut in See stechen. Deshalb gab er sich Mühe, die verbliebenen Aufgaben noch abzuschließen, bevor er England verließ.
Er schuldete dem Landverwalter der Familie noch mehr als tausend Pfund und hatte arrangiert, dass seine Mutter, Lady Anne Wesley, für die Schuld bürgte, bis er vom Dienst in der Fremde zurückkam, um sie zu begleichen. Richard schuldete er noch sehr viel mehr, wenn er alle Darlehen zum Erwerb von Offizierspatenten und für die Kosten des Wahlkampfs um den Abgeordnetensitz für Trim zusammenrechnete. Schließlich schrieb er noch einen letzten Brief an Kitty, in dem er seine Absicht darlegte, sich einen Namen und ein Vermögen zu machen und sein Versprechen einzulösen, sie zur Frau zu nehmen, sollte sie bei seiner Rückkehr noch unverheiratet sein. Arthur hatte viel über diesen Brief nachgedacht. Die Gefühle eines Mannes konnten sich im Lauf der Zeit ändern, doch er war sich der dauerhaften Natur seiner Liebe zu Kitty sicher genug, um sich ihr schriftlich zu versprechen.
Er unterschrieb den Brief und faltete ihn sorgfältig, dann schrieb er Kittys Name und Adresse auf die Vorderseite und versiegelte ihn. Anschließend lehnte er sich zurück und schenkte sich ein großes Glas Madeira ein. Es dämmerte, und das Licht schwand schnell. Die Zimmer, die er im Crown and Anchor gemietet hatte, waren durchaus behaglich, aber die Fenster waren klein und fleckig und gingen auf den Kutschhof hinaus. Es war aber ohnehin nicht so, dass er Zeit gehabt hätte, eine Aussicht zu genießen, wenn es eine gegeben hätte.
Sofort nach seiner Ankunft in Southampton war Arthur schier überwältigt worden von einer Flut von Aufgaben. Er hatte sicherstellen müssen, dass das Regiment für den bevorstehenden Feldzug vollständig ausgerüstet war und alle Männer mit Familien Vorkehrungen getroffen hatten, damit ein Teil ihres Solds direkt an ihre Ehefrauen ausgezahlt wurde. Testamente mussten geschrieben und gegengezeichnet werden, ehe sie an das Lager des Bataillons zurückgeschickt wurden. Eine kleine Anzahl von Männern war wegen verschiedener Vergehen und Schulden im Gefängnis gewesen, und Arthur hatte demütig um ihre Freilassung bitten oder die Richter davon überzeugen müssen, es sei ihre patriotische Pflicht, die Missetäter zu den Fahnen zurückzuschicken, damit sie für ihre Sünden büßen konnten, indem sie für König und Vaterland kämpften. Einer seiner Offiziere hatte eine hohe Spielschuld angehäuft, und Arthur hatte sich Geld geborgt, um sie zu begleichen, da er auf die Dienste des jungen Mannes nicht verzichten wollte. Die Schuld würde von seinem Sold einbehalten werden. Der Brief an Kitty war seine letzte Aufgabe gewesen, und er hatte ihn hinausgeschoben, bis ihn nichts mehr bei seiner Abfassung stören würde, denn es konnte sehr gut seine letzte Nachricht an sie sein.
Nun war er fertig, und es gab nichts mehr zu tun. Sobald der Wind günstig war, würde er an Bord seines Schiffs gehen und von England fortsegeln. Während Arthur von seinem Glas nippte, wurde ihm bewusst, wie müde er war. Die Wochen hektischer Betriebsamkeit hatten ihren Tribut gefordert, und er fühlte sich leer gepumpt. Sein Kopf hämmerte, und alle Knochen taten ihm weh. Er richtete sich mühsam auf und zog sich aus, dann hängte er seine Sachen über die Stuhllehne, kroch ins Bett und schloss die Augen.
Er wachte frühmorgens auf, zitternd vor Kälte. Draußen ächzte der Wind über den Dächern der Hafenstadt, und als Arthur zum Kai hinunterging, wurde klar, dass ein Sturm direkt vom Meer heraufblies. Das Wetter blieb mehrere Tage lang schlecht, und während die Männer an Bord der Schiffe saßen und sich bemühten, seefest zu werden, unternahm Arthur Spaziergänge und Ausritte am Ufer des Solent und wartete auf einen Wetterumschwung, der es dem Verband ermöglichen würde, Southampton zu verlassen. Abends kehrte er in seine Unterkunft zurück, um in den Büchern über die Westindischen Inseln zu lesen, die er gekauft hatte. Er hatte sich vom Hafenmeister außerdem einige französische Zeitungen ausgeliehen, um das Neueste über den Konflikt in Europa zu erfahren. Beim Durchlesen der Artikel stieß er erneut auf den Namen Bonaparte. Offenbar hatte sich der Held von Toulon frischen Lorbeer erworben, indem er einen royalistischen Aufstand in Paris niederschlug, wofür man ihn zum echten General gemacht hatte. Arthur seufzte. Manche Männer schienen einfach mehr vom Glück begünstigt zu sein als andere. Während ein glücklicher Zufall nach dem anderen den Weg dieses Bonaparte säumte, schien sich zwischen ihm und einem nennenswerten Erfolg jedes nur denkbare Hindernis aufzutürmen. So sehr er die Französische Revolution und alles, wofür sie stand, verabscheute, war er doch eifersüchtig auf die Situation dieses Bonaparte. Vielleicht würde sich das Blatt eines Tages wenden, und er würde es Männern wie General Bonaparte gleichtun oder sie womöglich gar übertreffen.
An einem bitterkalten Tag Mitte Dezember begann der Wind schließlich aus Osten zu blasen, und der Kapitän der Fregatte Hermione, welche die Truppentransporter begleiten sollte, benachrichtigte Arthur, dass der Verband am nächsten Morgen in See stechen werde.
Der Wind heulte über die Meeresoberfläche und peitschte Schaum von den Wellenkämmen. Auf den Schiffen ächzte und quietschte die Takelage, während das Deck unter Arthurs Füßen sich mal in die eine und dann in die andere Richtung neigte. Über ihm waren die schmalen Streifen der Segel unter dem eingerollten Material, das von den Rahen hing, straff gespannt. Zwei kleine, dreieckige Focksegel über dem Bugspriet halfen, das Transportschiff vorwärtszuschieben, während es der losen Reihe von Schiffen vor ihm folgte, die sich allesamt in südwestlicher Richtung von der Küste der Isle of Wight entfernten. Eine halbe Meile steuerbord voraus pflügte die Hermione durch die Wellen, die als gewaltige Gischt über ihr Vorderdeck schwappten.
So wild das Wetter an Deck war, Arthur genoss es; in einen dicken Mantel gehüllt und mit Ölzeug bedeckt, war er geschützt vor den eiskalten Böen, die in Abständen über das Meer fegten und die Küste Englands nahezu verschwinden ließen. Das Wüten der Natur erfüllte ihn mit Ehrfurcht, gemischt mit Stolz über den Triumph des Menschen über die Elemente, wenn sich Schiffe trotzig durch die Wellen kämpften und auf das Meer hinausstrebten. Ein Stück voraus konnte er soeben noch die Needles erkennen: hohe, weiße Felssäulen, die sich am Ende der Isle of Wight erhoben. Der vorderste Truppentransporter hielt sich an Kapitän Shelbys Befehle und passierte die Felsen in gehörigem Abstand. Als der letzte Transporter an den Needles vorbeistrich, hörte Arthur das Knallen und Donnern der Wellen, die an die Felsen schlugen, selbst über den Wind hinweg. Dann verließen sie den teilweisen Windschatten, den die Insel geboten hatte, und die Schiffe waren der vollen Gewalt des Winds ausgesetzt. Das Deck kippte beunruhigend in Schräglage, und Arthur hielt sich an der Reling fest.
»Oberst! Oberst Wesley!«
Er drehte sich um und sah eine Gestalt über das Achterdeck auf sich zukommen. Ein Windstoß drückte die Hutkrempe des Mannes flach an die Stirn, und Arthur erkannte Kapitän Hodges. Hodges war ein erfahrener Seemann und bewegte sich leidlich ungezwungen, während das Deck unter seinen Füßen auf und ab wogte und schwankte. Als er nahe genug bei Arthur war, legte er eine Hand an den Mund und rief: »Ich würde Euch raten, unter Deck zu gehen, Sir.«
Arthur schüttelte den Kopf. »Noch nicht! Ich will einen letzten Blick auf England werfen.«
Hodges sah ihn einen Moment lang an, dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich wieder dem Achterdeck zu. »Es ist Euer Begräbnis, Sir.«
In Wahrheit wollte Arthur nur seine Rückkehr in die enge Kabine hinauszögern, die man ihm nahe am Heck des Schiffs zugewiesen hatte. Die Soldaten hatten Befehl, unter Deck zu bleiben und den Matrosen nicht in die Quere zu kommen, aber die Welt unter Deck war die Hölle. Es gab keinen Punkt, an dem sich der Blick im Verhältnis zur Bewegung des Schiffs festhalten konnte, und binnen Minuten waren unzählige Männer seekrank. Mehrere übergaben sich bereits in den erstbesten Notdurfteimer, den sie zu fassen bekamen. Der Gestank, der aus dem Kielraum des Schiffs heraufwehte, machte das Leiden noch schlimmer. Manche Männer hatten nur Angst und saßen in Ecken gezwängt an den mächtigen Krummhölzern des Schiffs, die in ihrem Kampf gegen den Sturm ächzten und knarrten. Ihre Lippen bewegten sich in lautlosem Gebet oder in Flüchen, und all das zusammen hatte Arthur bewogen, von Hodges die Erlaubnis einzuholen, eine Weile an Deck bleiben zu dürfen.
Doch nun wurde es dunkel, und schon war das Führungsschiff nicht mehr zu sehen, nur ein Funkeln der schweren Laterne, die auf halber Höhe am Besanmast hing. Als sich die Nacht auf den Truppentransport herabsenkte, ging Arthur schließlich zu dem Fallreep zurück, das zu den Kabinen führte, und stieg nach einem letzten Blick auf die schwarze Masse des Meeres vorsichtig nach unten. Seine Kabine war eine der geräumigeren, aber dennoch nicht viel größer als die Koje, die sie enthielt. Arthur zog sein Ölzeug und den Mantel aus und legte beides über seine Seemannskiste, dann rief er nach einem der Schiffsdiener, um sich etwas zu trinken bringen zu lassen. Als er sich zum Schlaf in seine Decken verkroch, füllte das Knarren der Hölzer, das tiefe Stöhnen des Winds und der dumpfe Aufprall der Wellen seine Ohren.
Der Morgen brachte neue Probleme. Der Verband war während der Nacht auseinandergerissen worden, und als Arthur zu Hodges an Deck kam, waren in dem trüben Licht, das durch die dunkelgrauen Wolken am Himmel fiel, nur die Segel von zwei anderen Schiffen ringsum auf dem Meer zu sehen.
»Keine weiteren Transportschiffe in Sicht?«
»Der Ausguck meldet noch zwei, weit südlich von uns.«
»Was ist aus den Übrigen geworden?«
»Die könnten inzwischen viele Meilen entfernt sein. Wenn sie nicht untergegangen sind.«
»Achtung, Deck!«, rief eine Stimme kaum hörbar über den Wind. Arthur blickte nach oben und sah eine Gestalt, die sich in die Webeleinen des Hauptmasts klammerte, während die Mastspitze irre Kreisbewegungen vor den Wolken vollführte. »Die Hermione hat ein Signal gehisst.«
»Wie lautet es?«, brüllte Hodges durch ein Sprachrohr zurück.
Der Ausguck hob ein Fernglas an die Augen und bemühte sich, es so ruhig wie möglich in Richtung der Fregatte zu halten. Schließlich ließ er das Glas wieder sinken. »Segel setzen, Kurs Südwest, weitere Befehle abwarten.«
»Südwest?« Arthur runzelte die Stirn. »Wieso Südwest?«
»Zur Sicherheit. Segeln wir südlich, könnten wir auf die Insel Quessant stoßen. Halten wir uns westlich, treffen wir womöglich auf die Küste Cornwalls.«
»In diesem großen, weiten Meer?« Arthur schüttelte den Kopf. »Doch wohl kaum. Beides liegt Hunderte von Meilen auseinander.«
»Stimmt«, gab Kapitän Hodges zu. »Aber wisst Ihr genau, wo wir uns im Augenblick befinden? Ich weiß es nicht, und ich werde es erst wissen, wenn mir die Sonne Orientierung verschafft. Und wer weiß, wann das bei dieser Witterung der Fall sein wird. Deshalb steuern wir zur Sicherheit fürs Erste nach Südwesten.«
Der folgende Morgen offenbarte einen vom Sturm aufgewühlten Horizont ohne ein einziges Schiff, und Kapitän Hodges behielt den angegebenen Kurs bei. Weitere Tage vergingen in bedrückender Monotonie, und der Mannschaftstransporter segelte mit dem Wind von Backbord, hob sich bei jeder Welle und sackte dann in das Tal der vorwärtsrasenden Welle. Regengüsse fegten unablässig über das Schiff, und Wasser fand einen Weg zwischen die Decks, sodass bald nichts mehr trocken zu sein schien und es beinahe unmöglich war, sich warm zu halten.
Eines Morgens, als Arthur wie üblich versuchte, einen Spaziergang auf dem Achterdeck zu unternehmen, kam Kapitän Hodges zu ihm und grüßte, indem er sich kurz an die Hutkrempe tippte.
»Guten Morgen, Oberst.«
»Ist von den anderen Schiffen etwas zu sehen?«
»Nein. Schon seit mehreren Tagen nicht.«
»Habt Ihr eine Ahnung, wie weit wir schon sind?«
»Schwer zu sagen. Wir machen sechs Knoten durchs Wasser, aber über Grund?« Er zuckte mit den Achseln. »Doch wenn der Wind die Richtung beibehält, weht er genau auf die Westindischen Inseln zu, und wir werden gut vorankommen.«
»Na, das ist immerhin ein Trost.«
»Ja, Sir.« Hodges nickte und wollte sich schon abwenden, um sich wieder um sein Schiff zu kümmern, aber dann hielt er inne und warf Arthur noch einen Blick zu. »Eins noch, Sir.«
»Ja?«
»Frohe Weihnachten.«
»Weihnachten? Großer Gott, ja, natürlich.« Arthur lachte. »Auch Euch frohe Weihnachten, Kapitän!«
Am nächsten Tag begann der Wind zu drehen. Langsam, Grad um Grad, bis er so weit aus Westen kam, dass der Kapitän gezwungen war, gegen den Wind zu kreuzen. Und der Sturm blies immer weiter, Tag um Tag, Woche um Woche, bis nach fast sieben Wochen auf See der Ausguck auf das Deck hinunterrief:
»Land in Sicht!«
»Wo?«
»Zwei Strich Steuerbord voraus!«
Der Ausguck stieß den Arm vor, und die Offiziere auf dem Achterdeck suchten den Horizont in dieser Richtung ab. Erst sahen sie nichts, dann wurde das Schiff auf den Kamm einer hohen Woge gehoben, und dort war die Küste, ein schmaler dunkler Streifen, in dem weiße Klippen aufblitzten.
»Was für Land ist das?« Arthur kniff die Augen zusammen. Hodges war einen Moment still, er mühte sich um einen sicheren Stand und richtete das Fernrohr auf die ferne Küste. Dann sackte das Schiff in ein Wellental, und der Kapitän ließ das Glas sinken und stieß ein bitteres Lachen aus.
»Es sind die Needles.«
»Die Needles?« Arthur schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Wie kann das sein? Wir sind seit fast zwei Monaten auf See.«
»Der verdammte Sturm ist schuld. Wir sind nicht vorangekommen gegen ihn, und jetzt hat er uns nach England zurückgeblasen.«
»Was werdet Ihr jetzt tun?«
»Was kann ich schon tun? Wir haben den Proviant von zwei Monaten verbraucht, die Takelage wurde zum Zerreißen strapaziert, und zwei meiner Segel hat der Wind zerfetzt. Wir kehren in den Hafen zurück.«
Am nächsten Morgen fuhr der Transporter mit wenig Segel den Southampton Sound hinauf. Hodges kam zu Arthur an die Reling und zeigte auf eine Gruppe von Schiffen, die im Sund vertäut lagen. »Erkennt Ihr sie? Das ist der Rest unseres Konvois. Wie lange die wohl schon hier sind?«
Sobald der Transporter Anker geworfen und alle Segel eingeholt hatte, ging Arthur in einem der Beiboote an Land. Wieder festes Land zu betreten, war eine sonderbare Erfahrung nach sieben wilden Wochen auf See. Das Pflaster unter seinen Stiefeln schien hin und her zu schwanken und sich zu neigen wie das Deck des Schiffs, und Arthur runzelte verärgert die Stirn, während er unbeholfen dem Büro des Hafenmeisters am Ende des Kais zustrebte. Der gegenwärtige Amtsinhaber war Konteradmiral Porter, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit mit seiner gepuderten Perücke. Als man Arthur in sein Büro schob, erhob sich Porter mühsam von seinem Schreibtisch und schüttelte ihm ausgiebig die Hand.
»Schön, Euch wiederzusehen, Oberst. Ich habe mich schon gefragt, ob Euer Schiff etwa untergegangen ist. Der Rest des Konvois ist seit fast einem Monat im Hafen.«
»Seit einem Monat?« Arthur schüttelte den Kopf. Während Hodges und seine Mannschaft mit den Elementen gekämpft hatten, um nach Westen voranzukommen, waren die übrigen Mannschaften behaglich im Sund gelegen.
»Ah!« Porter hob die Hand. »Da fällt mir ein, Ihr habt neue Befehle. Sind letzte Woche aus London eingetroffen. Da drüben auf dem Tisch. Holt sie Euch, und ich bestelle Euch inzwischen etwas zu trinken. Was darf es denn sein, Wesley?«
»Tee, bitte, Sir. Eine schöne, heiße Kanne Tee.«
Porter lachte. »Ich kümmere mich darum.«
Während der alte Seemann geschäftig zur Tür eilte, um die Erfrischung zu bestellen, ging Arthur zu dem Tisch und ließ den Blick über die dort liegende Korrespondenz schweifen. Er entdeckte seinen Namen fast sofort und brach das Siegel des schmalen Päckchens auf. Nachdem er die gewachste Außenhülle entfernt hatte, faltete er den Brief auseinander und begann die knapp gehaltene Order eines Stabsoffiziers im Kriegsministerium zu lesen. Mit Beginn des neuen Jahres war Oberstleutnant Wesley zum Oberst befördert worden. Weiterhin wurde er gebeten und aufgefordert, Vorbereitungen für eine neue Reise zu treffen. Sobald Vorräte und Ausrüstung des Konvois aufgefrischt waren, sollte er Segel setzen und schnellstens Fort William in Kalkutta ansteuern.
»Kalkutta!« Arthur traute seinen Augen nicht. Indien?
»Was sagtet Ihr, Oberst?« Porter kam zurück und legte eine Hand ans Ohr.
»Kalkutta«, wiederholte Arthur. »Das Kriegsministerium schickt das 33. nach Indien.«
»Indien?«, überlegte Porter. »Da habt Ihr es gut getroffen, Oberst. Schon mancher Mann hat sein Glück in Indien gemacht. Wie es scheint, seid Ihr jetzt an der Reihe.«
Napoleon
Italien, April 1796
Ich glaube nicht, dass sie sehr glücklich über diese Situation sein werden«, murmelte Major Junot, als sie beobachteten, wie die drei Divisionskommandeure der Italienarmee vor dem Haus des Kaufmanns, das als Napoleons Hauptquartier in Nizza rekrutiert worden war, von ihren Pferden stiegen. Wie viele der schönen Häuser, die Napoleon im nördlichen Italien gesehen hatte, war es voller antiker Skulpturen und prächtiger Renaissancegemälde.
Napoleon lächelte seinen frisch beförderten Adjutanten an. »Niemand verlangt, dass sie glücklich sind. Sie sollen nur Befehle befolgen.«
Ihre Blicke folgten den drei Kommandeuren, als diese über den Hof zum Eingang des Hauses schritten. Es war nicht schwer zu erraten, wer von ihnen wer war. Napoleon hatte auf der Reise von Paris die Akte eines jeden Mannes gelesen. Der kleinste von ihnen war Masséna, der als tapferer Soldat und guter Taktiker beschrieben wurde. Er war außerdem ein notorischer Frauenheld, und es gab zahlreiche Erwähnungen seines diebischen Umgangs mit Privatbesitz, wenn er auf einem Feldzug an etwas Gefallen fand. Mit achtunddreißig war General Augereau genauso alt wie Masséna, aber hochgewachsen, gut gebaut und ein begabter Fechter. Der Kommissar des Wohlfahrtsausschusses, der den Bericht zusammengestellt hatte, war offenbar eine empfindsame Seele gewesen, denn er merkte Augereaus Neigung zu ständigem Fluchen an. Auch Augereau war einem gelegentlichen Beutezug nicht abgeneigt, aber der Kommissar hatte widerwillig eingeräumt, dass der General sehr tapfer war und von den Männern geliebt wurde, die er führte. Der dritte General war Serurier. Er diente seit mehr als dreißig Jahren in der Armee. Er war hochgewachsen und schlank, mit humorloser Miene. Er war streng zu seinen Männern, und sie dienten ihm leidlich, aber Serurier musste sich als Kommandeur erst noch beweisen.
Napoleon konnte Junots Bedenken verstehen. Jeder der drei Divisionskommandeure hatte vermutlich gehofft, der neue Kommandeur der Italienarmee zu werden. Stattdessen war der Posten an einen Mann gegangen, der elf Jahre jünger war als der jüngste von ihnen. Damit nicht genug, hatte Napoleon noch nie eine Streitkraft befehligt, die größer war als der Artilleriezug, mit dem er vor zweieinhalb Jahren Toulon beschossen hatte. Sie würden ihn mit Sicherheit als eine politische Besetzung ansehen. Die Marionette Paul Barras’ und der übrigen Direktoriumsmitglieder an der Spitze der Regierung in Paris. Nun, sollten sie es ruhig glauben, dachte Napoleon. Je verbohrter sie waren, desto leichter würden sie zu beeindrucken sein, wenn der Feldzug begann und er seine ersten Siege gegen die Österreicher und ihre bunt zusammengewürfelten Verbündeten auf dem italienischen Stiefel erzielte.
Er entfernte sich vom Fenster und nahm seinen Platz an der Stirn der langen Tafel in dem prächtig eingerichteten Speisesaal des Kaufmanns ein. Die Mitglieder seines persönlichen Stabs, Junot, Berthier, Murat und Marmont, saßen links und rechts von ihm, während sie auf die drei Generäle warteten, die an der ersten Sitzung des Führungsstabs der Armee teilnehmen würden.
Die Doppeltür am Ende des Saals wurde von zwei Korporalen geöffnet, und Napoleon und sein Stab erhoben sich höflich, als die Divisionskommandeure in ihren schmucken Ausgehuniformen eintraten. Sie gaben den Korporalen ihre Hüte und Säbelgurte und nahmen am Tisch Platz. Napoleon stellte alle vor, ehe er sich setzte und die Lagebesprechung begann.
»Nun denn, meine Herren. Paris hat uns gebeten, die Österreicher aus Italien zu vertreiben. Gleichzeitig sollen wir uns so viele italienische Königreiche wie möglich zu Verbündeten machen und die übrigen einschüchtern oder vernichtend schlagen. All das erledigen französische Soldaten spielend an einem Tag, da geben Sie mir sicher Recht.«
Die Offiziere lachten halbwegs ungezwungen über die Bemerkung, und Napoleon fuhr fort. »Ich muss jedoch sagen, dass die Aufgabe angesichts des gegenwärtigen Zustands der Italienarmee doch nicht ganz so einfach sein wird. In Paris hat man mir gesagt, die Armee habe zweiundvierzigtausend Mann. Als ich hier ankomme, stelle ich fest, dass es nicht mehr als dreißigtausend sind, und die meisten von ihnen hungern, sind schlecht ausgerüstet und haben seit Monaten keinen Sold erhalten. In einer Einheit, durch die ich gestern kam, trugen die Männer Ziegenfelle als Uniformmäntel, und viele hatte nicht einmal Stiefel. Der Artilleriezug der Armee besteht aus zwanzig leichten Gebirgsgeschützen und einer Handvoll Maultieren. Das wird keinem Feind Angst einjagen. Kein Wunder, dass es um die Moral der Offiziere und Männer so schlecht bestellt ist.«
General Augereau verschränkte die Hände und lehnte sich zurück. »Nun, man darf nicht alles glauben, was man in Paris hört, wie es scheint. Vielleicht sollten Sie dorthin zurückkehren und ihnen die Wahrheit erzählen.«
»Dafür ist keine Zeit, General. Wir müssen jetzt handeln. Es wird ein hartes Stück Arbeit werden, die Italienarmee für den bevorstehenden Feldzug einsatzbereit zu machen. Wir brauchen Verstärkung, wir brauchen Proviant und Ausrüstung, und vor allem müssen wir die Moral heben. Und dazu brauchen wir Siege. Deshalb habe ich beschlossen, unseren Feldzug gegen die Österreicher Mitte April zu beginnen.«
»Aber das ist ja schon in gut zwei Wochen!«, protestierte Serurier. »Das ist unmöglich. Sie haben es selbst gesagt, Monsieur. Die Armee ist in keinem Zustand, um zu kämpfen. Wir können bestenfalls hoffen, unsere Position zu verteidigen und Kräfte für einen Feldzug im Laufe des Jahres oder zu Beginn des nächsten zu organisieren.«
Napoleon schüttelte den Kopf. »Sie denken wie ein Österreicher, General Serurier. Es stimmt, dass die Italienarmee nicht darauf vorbereitet ist, auf konventionelle Weise Krieg zu führen, also müssen wir auf unkonventionelle Weise kämpfen. Da die Armee über keine Nachschubkolonne verfügt, werden wir ohne auskommen. Unsere Männer werden von dem leben müssen, was das Land hergibt. Die österreichischen Armeen marschieren im Schneckentempo, weil sie riesige Nachschubkolonnen mitschleppen. Sie halten, um Depots einzurichten, und ziehen dann weiter. Sie überlassen uns die Initiative wie ein Geschenk, Serurier. Es stimmt, dass sie uns zahlenmäßig überlegen sind, aber dank unserer größeren Beweglichkeit werden wir überlegene Kräfte gegen ihre schwachen Punkte zusammenziehen können und sie jedes Mal schlagen. Ein paar solche Siege, und unsere Männer werden wie Löwen sein, bereit, ihre Beute anzuspringen. Ich sage Ihnen, meine Herren, bis Ende des Jahres werden die Österreicher vollständig auf dem Rückzug sein, und in Paris wird man jeden Mann in diesem Raum als Helden betrachten.«
Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, dann wandte er sich an Junot. »Major, die Karte, bitte.«
Junot rollte eine große Karte auf dem Tisch aus und beschwerte die Ecken. Die Stabsoffiziere und Generäle beugten sich darüber, um die Geografie Norditaliens zu studieren, während Napoleon einen Stab zur Hand nahm und sich ans Tischende stellte.
»Kurz gesagt, sieht der Plan vor, dass die Armee an der Küste entlang bis Savona marschiert und dann ins Landesinnere abbiegt, um die österreichischen Nachschublinien zu bedrohen. Erwartungsgemäß werden sich die Österreicher in den Nordosten zurückziehen. Wir halten sie dort in Schach, während sich eine starke Streitmacht gegen die piemontesischen Kräfte wendet. Ohne ihre österreichischen Freunde werden sie sehr schnell zusammenbrechen. Dann nehmen wir die Lombardei und Mailand ein, ehe wir uns wieder den Österreichern widmen. Mein letztes Ziel für den diesjährigen Feldzug ist die Einnahme der Festung Mantua. So, das wär’s meine Herren. Fragen?«
Serurier schüttelte den Kopf. »Sie verlangen zu viel von den Männern.«
Napoleon sah ihn an. »Oder ist es so, dass ich zu viel von meinen Generälen verlange?«
Serurier riss wütend die Augen auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie beleidigen mich, mein Herr! Darf ich Sie daran erinnern, dass ich schon lange vor Ihrer Geburt Soldat war und die beiden anderen Generäle hier gegen Frankreichs Feinde gekämpft haben, als Sie noch zur Schule gingen? Was gibt Ihnen das Recht, mein Urteilsvermögen in Zweifel zu ziehen?«
Napoleon sah nacheinander alle drei seiner Divisionsgeneräle an. »Es ist sehr einfach, meine Herren. Ich gehorche dem Direktorium … und Sie gehorchen mir. Das Direktorium hat uns angewiesen, den Krieg zu den Österreichern zu tragen, und genau das werden wir tun. Wenn Sie Einspruch erheben wollen, Serurier, müssen Sie Ihr Kommando niederlegen und die Angelegenheit in Paris zur Sprache bringen. Ist das klar?«
Serurier sah ihn einen Moment lang böse an, ehe er schweigend nickte.
»Gut«, fuhr Napoleon in wärmerem Ton fort, »dann lassen Sie uns die Einzelheiten besprechen. Und morgen, Serurier, werde ich eine Ihrer Brigaden inspizieren.«
Es war ein trüber Morgen, und ein leichter Nieselregen sprenkelte die Hüte und Uniformen der Männer, die auf dem Feld unweit von Oneille versammelt waren. Auf den ersten Blick war es schwer zu glauben, dass diese Männer zu einer Armee gehörten. Nur eine Handvoll von ihnen besaß noch die komplette Ausrüstung; bei den übrigen fehlten Tornister, Gamaschen oder Stiefel, und manche hatten nicht einmal mehr eine Muskete oder ein Bajonett. Mehrere husteten stark, und die meisten waren mangels Nahrung dünn und ausgemergelt.
»Wohl kaum der Stoff, aus dem man Siege schmiedet«, sagte Junot leise beim Näherkommen. Napoleon hatte die ranghohen Offiziere der Brigade vorübergehend weggeschickt, und ein Stabsfeldwebel ließ die Soldaten Habachtstellung einnehmen, als der Befehlshaber der Armee und sein Adjutant auf sie zu marschierten. Die Männer gaben sich alle Mühe, den Rücken durchzudrücken und die Brust vorzuschieben, aber es war das Jämmerlichste an Drill, was Napoleon je gesehen hatte, und zum ersten Mal überfiel ihn die Furcht, das Kommando über die Italienarmee könnte das Ende all seiner Ambitionen bedeuten. Er schüttelte die Zweifel ab und ging auf die vorderste Reihe zu. Langsam spazierte er an dem ersten Dutzend Soldaten vorbei, dann blieb er vor einem älteren Mann stehen, der noch seine vollständige, wenn auch arg abgenutzte Ausrüstung hatte.
»Name?«
»Gefreiter Dunais, General«, antwortete der Mann mit einem ausgeprägten Akzent, den Napoleon sofort erkannte. Er lächelte.
»Sie sind also aus der Gascogne. Gut. Ich brauche Männer mit dem Kampfgeist der Gascogner. Wie lange dienen Sie schon in der Armee?«
»Vier Jahre in dieser Armee, General, davor zwölf in der russischen Armee und noch früher acht in der Bourbonen-Armee.«
»Ich verstehe. Und welche Probleme haben Sie veranlasst, Frankreich für Russland aufzugeben, Dunais?«
»Ich mochte meine Offiziere nicht, Monsieur. Nur Herkunft und kein Hirn.«
»Und Sie dachten, in der russischen Armee würde es besser sein?«
»Das hoffte ich. Ich habe mich geirrt, General.«
»Und wie sieht es mit der heutigen französischen Armee aus, Dunais? Wie ist sie im Vergleich zur alten Bourbonen-Armee? Seien Sie ehrlich zu mir – Ihre Offiziere sind nicht anwesend.«
Zum ersten Mal sah ihm Dunais in die Augen. »Nicht gut, Monsieur. Die Burschen sind eigentlich begierig darauf, zu kämpfen und würden ganz gute Soldaten abgeben …«
»Aber?«
»Sie werden von diesen Schweinehunden in der Regierung ungerecht behandelt. Und sie wurden von den Heereslieferanten betrogen. Am schlimmsten aber ist, dass manche von den Offizieren uns genauso schlecht behandeln wie die Lieferanten, oder sie verdanken ihren Rang politischen Freunden und verstehen nichts vom Militärhandwerk.« Dunais kam zu Bewusstsein, dass er vielleicht schon zu viel gesagt hatte, und er machte schnell den Mund zu und starrte wieder geradeaus.
»Gefreiter Dunais, Ihre Aussagen wurden zur Kenntnis genommen, und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihre Beschwerden möglichst umgehend angesprochen werden.« Napoleon hob die Stimme, sodass ihn weitere Männer hören konnten. »Wenn Frankreich will, dass wir kämpfen, dann muss Frankreich dafür sorgen, dass seine Soldaten das Beste bekommen, was verfügbar ist. Das ist das Mindeste, was seine Soldaten verdienen. Major Junot, notieren Sie die Beschwerden dieses Mannes.«
»Jawohl, Monsieur.«
Napoleon ging weiter die Reihe entlang und blieb hier und dort stehen, um einen Mann zu befragen, er erkundigte sich, woher er stammte und welche Klagen er hatte. Nachdem die Inspektion beendet war, stieg Napoleon auf einen leichten Proviantwagen, den man vor die Truppe geschoben hatte und der als Rednerpult diente. Er wartete, bis es fast vollkommen still war, dann sprach er zu den Männern.
»Soldaten! Ihr seid hungrig, und es fehlt euch an Ausrüstung. Eure Regierung schuldet euch alles, aber sie kann euch nichts geben. Die Geduld und der Mut, die ihr bisher an den Tag gelegt habt, sind bewundernswert – aber sie haben euch keinen Ruhm gebracht. Nicht ein Zipfelchen Ruhm. Das wird sich nun ändern. Ich werde euch in die fruchtbarsten Ländereien Europas führen. Es gibt reiche Provinzen mit schönen Städten in Italien, und all das braucht ihr euch nur zu nehmen. Dort werdet ihr Ehre, Ruhm und Reichtümer finden.« Napoleon hielt inne, um Luft zu holen, dann stieß er den Arm vor und zeigte auf sie. »Soldaten der Italienarmee! Da ihr all das vor Augen habt, wird es euch an Mut oder Ausdauer fehlen?«
»Nein!«, rief eine Stimme. »Wir werden kämpfen!«
»Kämpfen!«, rief eine zweite Stimme. »Für General Bonaparte!«
Weitere Männer fielen ein, und bald riefen alle im Chor seinen Namen. Napoleon ließ sie eine Weile gewähren, dann wandte er sich an Junot und lächelte. »Jetzt haben wir eine Armee.«
Die Eröffnung des Feldzugs war auf den 15. April angesetzt, und in den Tagen vor Beginn der Offensive arbeiteten Napoleon und sein Stab Tag und Nacht daran, die Probleme der Armee zu kurieren. Ortsansässige Banken wurden gezwungen, Darlehen zu gewähren, damit die Männer bezahlt und Vorräte gekauft werden konnten. Die Beschwerden der Soldaten wurden untersucht, und korrupte oder unfähige Offiziere wurden ihres Kommandos enthoben, zum Garnisonsdienst weit in die Etappe geschickt oder sogar aus dem Dienst entlassen. Den Heereslieferanten wurde mit dem Verlust ihres Militärgeschäfts gedroht, wenn die Männer nicht anständig verpflegt wurden. Napoleon besuchte in den ersten Apriltagen so viele Einheiten wie möglich, um aufrüttelnde Reden an die Soldaten zu halten, und er gründete eine Armeezeitung, die Nachrichten von zu Hause lieferte sowie die Kampfmoral befeuernde Berichte vom Fortschritt des Kriegs gegen Österreich druckte. Am Ende eines jeden Tags setzte er sich hin und schrieb einen Brief an Josephine, in dem er ihr von seinen anstrengenden Pflichten erzählte und von der tiefen Liebe und feurigen Leidenschaft, die er für sie empfand und die jeden Tag der Trennung zu einer Qual machten. Er bat sie, zunehmend enttäuscht, ihm zu schreiben und ihn wissen zu lassen, wann sie kommen und ihn besuchen würde.
Die Italienarmee rückte in Richtung Savona vor, um sich für den Feldzug zu massieren. Napoleon war prächtiger Stimmung, seine Zeit war gekommen, und bald würde sein Name in ganz Europa bekannt sein. Das Einzige, was ihm anhaltend Kopfzerbrechen machte, war der Mangel an präziser Aufklärung hinsichtlich der Hauptmacht der österreichischen Armee unter General Beaulieu. Er beschloss, Murat am nächsten Tag in aller Frühe mit einem Trupp leichter Kavallerie loszuschicken, damit sie die Gegend erkundeten und den Feind ausfindig machten. Dann stieg Napoleon mit schmerzenden Gliedern und müden Augen von all den Anstrengungen ins Bett und schlief ein.
»Monsieur!«, rief eine Stimme und weckte ihn. Napoleon richtete sich auf und blinzelte. Major Junot stand am Fußende des Betts, er trug noch sein Nachthemd. Hinter ihm breitete sich das erste Morgenlicht über den Dächern Savonas aus.
»Junot, was zum Teufel ist los?«
»Es sind die Österreicher. Sie haben eine von Massénas Brigaden angegriffen.«
»Wo?« Napoleon schlug die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. »In welcher Stärke?«
»In der Nähe von Voltri. Dem Bericht von Oberst Cervoni zufolge hält die Brigade stand, aber der Feind kommt mit immer neuen Kräften. Nicht mehr lange, sagt er, dann werden sie sich zurückziehen müssen.«
»Voltri, hm?« Napoleon schloss die Augen und rief sich die Karte der Küstenregion bis Genua ins Gedächtnis. Voltri war ein Hafen, nicht weit von Genua entfernt, wo Massénas Division Aufstellung zum Angriff bezog. Napoleon erkannte die Gefahr sofort und wandte sich an Junot.
»Berthier und die anderen sollen in mein Arbeitszimmer kommen. Dann lassen Sie alle Divisions- und Brigadekommandeure alarmieren. Ich will, dass die Armee sofort marschbereit ist. Sagen Sie ihnen, der Feldzug beginnt heute. Heute, verstanden?«
»Ja, Monsieur.« Junot salutierte und ging hinaus, während Napoleon nach seiner Kleidung griff.
Als er sein Büro betrat, breitete ein Stabsfeldwebel bereits eine Karte aus, und Napoleon befahl ihm, Kaffee und Brot zu organisieren. Dann beugte er sich über die Karte, fand Voltri sofort und nickte, als er die Stellung seiner Truppen sah, die Berthier am Abend zuvor eingezeichnet hatte. Die Österreicher versuchten, zur Küste vorzustoßen, um Masséna vom Rest der Armee abzuschneiden. Wenn es ihnen gelang, war der Feldzug vorbei, bevor er begonnen hatte. Genau wie Napoleons Karriere. Andererseits würde der Angriff, überlegte er, langsam vonstattengehen, wenn die Österreicher ihrer Taktik treu blieben. Langsam genug, damit Napoleon die Lage zu seinem Vorteil wenden konnte.
Als seine Stabsoffiziere schließlich vollständig eingetroffen waren, hatte Napoleon bereits einen Plan im Kopf und konnte es kaum erwarten, seine Befehle zu geben.
»Ich nehme an, Sie haben die Nachricht alle gehört. Wie es scheint, haben die Österreicher mehr Mumm, als wir dachten.«
Die Offiziere lachten, und Napoleon hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Das erspart es uns, die Österreicher suchen zu müssen, und es ist Zeit, sie in eine Schlacht zu verwickeln. Cervonis Brigade ist hier.« Er zeigte auf die Karte. »Er hält seine Position im Moment und verschafft uns Zeit, zum Angriff vorzurücken. General La Harpe ist den österreichischen Linien am nächsten. Berthier, Sie werden ihm befehlen, sofort anzugreifen. Die Österreicher werden gezwungen sein, anzuhalten und sich der Bedrohung zuzuwenden, womit Masséna freie Hand hat, gegen ihre Flanke und die Nachhut zu marschieren. Der Rest der Armee erhält den Befehl, zur Unterstützung nachzurücken. Meine Herren, wenn wir rasch handeln, wird die Italienarmee dank der freundlichen Unterstützung der Österreicher ihren ersten Sieg dieses Feldzugs erringen. Sorgen Sie dafür. Ich reite voraus zu Cervoni. Schicken Sie alle Nachrichten an mich dorthin.«
Sobald die Offiziere entlassen waren, ließ Napoleon ein Pferd für sich fertigmachen. Mit einer Handvoll Dragoner galoppierte er die Küstenstraße entlang in Richtung Voltri. Bald hatte er Teile der Nachhut von Massénas Division eingeholt, die im Eilmarsch unterwegs waren, um zu ihrem Kommandeur aufzuschließen und die Österreicher anzugreifen. Einige der Männer jubelten, als er vorbeiritt, und Napoleon lüftete seinen Hut zum Gruß. Vier Meilen vor Voltri gelangte er dann an die Kreuzung zum Hügelland hinauf, wo Cervonis Brigade gegen die österreichische Vorhut kämpfte. Schon hörte er leise das Donnern von Geschützen und das Knattern der Musketen, das von den Hängen zurückhallte. Napoleon gab seinem Pferd die Sporen, und die Dragoner hatten Mühe, ihrem Kommandeur zu folgen.
Als die kleine Reitergruppe den Hügelkamm erreichte, hatte sie freie Sicht auf den Hang auf der anderen Seite, der steil zu einem Gebirgsbach abfiel. Eine schmale Steinbrücke überspannte den Bach, und Cervonis Männer hatten in soliden Reihen Aufstellung genommen, um den Österreichern den Übergang streitig zu machen. Vor ihnen lagen zwischen Felsvorsprüngen kleine Gruppen leichter Infanterie, die einen ständigen Beschuss der Österreicher auf der anderen Seite des Bachs aufrechterhielten. Auf der anderen Seite der Brücke stand ein Bataillon des weiß uniformierten Feinds in ordentlichen Reihen, sie luden fleißig ihre Waffen und feuerten Salven auf die französischen Scharmützler, als befänden sie sich auf einem Exerzierplatz. Jedes Mal, wenn die Österreicher mit ihren Musketen anlegten, duckten sich die Franzosen, und so gut wie jeder Schuss prallte an die Felsen oder pfiff, ohne Schaden anzurichten, über ihre Köpfe hinweg. Im Gegensatz dazu lichtete das unregelmäßige Feuer der Scharmützler die Reihen der Österreicher. Hinter ihnen wurde eine Geschützbatterie auf einem Fleck ebenem Gelände nahe am Bach bereitgemacht, und noch weiter hinten stand eine Infanteriekolonne und wartete auf den Befehl, den Übergang über die Brücke zu erzwingen.
Oberst Cervoni hatte seinen Kommandeur entdeckt und ließ sein Pferd zu ihm hinauftraben. »Guten Morgen, Monsieur.«
Napoleon nickte. »Ein besserer, als wir hoffen konnten. Das müssen drei-, viertausend Mann sein, da drüben. Ich glaube, Sie haben die österreichische Armee für mich gefunden, Cervoni. Wie ist die Lage?«
Cervoni warf einen Blick den Hang hinunter und strich sich über das stoppelige Kinn. »Wir lassen uns Bataillon um Bataillon zurückfallen. Jedes Mal haben sie Gefechtsformation angenommen, so wie hier, als würden sie einer Dienstvorschrift folgen und hätten alle Zeit der Welt. Unsere Scharmützler schießen sie nieder, bis ihre Kanonen das Feuer eröffnen, und ziehen sich dann zurück.«
»Wie hoch sind Ihre Verluste?«
»Nicht mehr als fünfzig Mann bisher. Ein Bruchteil von dem, was die Österreicher verloren haben.«
Von der anderen Seite des Bachs ertönte ein dumpfes Donnern, und als Napoleon den Kopf wandte, sah er eine Rauchwolke vor einem der Geschütze der österreichischen Batterie wabern. Wenig später spritzten kurz vor den vordersten Linien von Cervonis Kompanien Gras und Steine auf.
»Ich fürchte, das wird sich bald ändern«, sagte Napoleon ruhig. »Sie müssen diesen Kamm so lange wie möglich halten. Die Österreicher dürfen die Küstenstraße nicht erreichen. Augereaus Division rückt vor, um die österreichische Kolonne anzugreifen, und Masséna marschiert außenherum nach Osten.« Napoleon deutete auf die Hügel rechts von ihm. »Aber sie werden erst in zwei, drei Stunden kommen. Bis dahin müssen Sie diese Stellung halten. Koste es, was es wolle.«
Cervoni nickte. »Ich verstehe, Monsieur.«
Napoleon suchte das Gelände unterhalb von ihm ab. »Wo sind Ihre Kanonen? Ihrer Brigade sind zwei Sechspfünder zugeteilt.«
»Dort drüben, Monsieur.« Cervoni zeigte lächelnd auf ein Schilfdickicht, etwa hundertfünfzig Meter von der Brücke entfernt. Als Napoleon die Augen zusammenkniff, konnte er mit Mühe die Mannschaften ausmachen, die um zwei dunkle Gebilde kauerten. »Ich habe sie die Kanonen mit Schlamm einstreichen lassen, damit sie nicht zu sehen sind«, erklärte Cervoni. »Sie haben Befehl, erst zu feuern, wenn die Spitze der Kolonne auf unserer Seite der Brücke ist.«
Napoleon nickte anerkennend. »Das wird eine böse Überraschung für sie. Sie können zu Ihrer Schlacht zurückkehren, Cervoni. Ich schaue eine Weile von hier zu.«
»Ja, Monsieur.«
Beide salutierten, und Cervoni wendete sein Pferd und trabte zu seiner kleinen Gruppe von Stabsoffizieren zurück. Inzwischen hatten die österreichischen Kanonen die Reichweite richtig bestimmt, und ein gut gezielter Schuss pflügte eine blutige Furche in die Mitte der vordersten Kompanie. Weitere sichere Schüsse folgten, und mehrere Männer wurden in den Tod gerissen, bevor sie der Befehl erreichte, Deckung zu suchen. Die feindlichen Kanoniere luden mit Kartätschen nach und richteten die Geschütze auf die Scharmützler, die die Brücke unter Feuer hielten. Dann schlugen die österreichischen Trommeln zum Vorrücken, und die leichte Kompanie wich zur Seite, um die Hauptkolonne zur Brücke marschieren zu lassen. Sie kamen in gleichmäßigem, gemessenem Tempo und überquerten den leichten Buckel in der Mitte der Brücke. Angeführt wurden sie von einem schlanken Offizier, der seinen Säbel an der Schulter anliegen hatte, als er seine Männer zum hiesigen Ufer des Bachs führte.
Die französischen Kanoniere erhoben sich, immer noch halb vom Schilf verborgen, zwei Flammenzungen schossen hervor und spien zwei Ladungen Bleigeschosse in die Front der österreichischen Kolonne. Die Kanonen waren gut ausgerichtet gewesen, fast alle Männer auf der Brücke wurden niedergemäht und fielen blutend kreuz und quer übereinander. Die Spitze der Kolonne blieb wie benommen stehen, bis die Männer hinter ihnen sie weiterschoben. Die Soldaten, die den versteckten Kanonen am nächsten waren, konnten nirgendwohin ausweichen und stolperten über ihre gefallenen Kameraden hinweg über die Brücke.
Cervonis Geschütze feuerten weitere Kartätschen ab und vergrößerten das Blutbad auf dem Bachübergang. Der Kommandeur der österreichischen Geschützbatterie gab hektisch Befehle, das Feuer neu auf die französischen Kanonen auszurichten, aber diese wurden durch die Brücke verdeckt, und die französischen Kanoniere konnten ihr Ziel nicht sehen. Eine dritte Salve entschied die Sache, die österreichische Kolonne wich zurück und ließ wenigstens vierzig ihrer Kameraden auf den alten Steinen der kleinen Brücke zurück.
»Gute Arbeit.« Napoleon lächelte zufrieden und wendete sein Pferd zurück zum Hügelkamm und der Straße, die zu seinem Hauptquartier führte. Berthier wartete auf ihn, als er kurz vor Mittag Savona erreichte.
»Was gibt es Neues?«
»Augereaus Division rückt auf Montenotte zu, General. Seine Truppen wurden von den Österreichern gesichtet, und der Feind wendet sich ihm bereits zu.«
»Ausgezeichnet!« Napoleon schlug mit der Hand auf die Karte. »Und Masséna?«
»Marschiert wie befohlen außenherum auf ihre Flanke zu. Er schätzt, dass er spätestens um vier Uhr bereit ist zuzuschlagen.«
»Dann müssten wir unsere österreichischen Freunde hübsch in der Falle haben.« Napoleon lächelte aufgeregt. »Unser erster Sieg!«
Das Ausmaß der österreichischen Niederlage bei Montenotte wurde am nächsten Morgen sichtbar. Mehr als fünfzehnhundert Österreicher waren tot oder verwundet, und weitere zweieinhalbtausend waren gefangen genommen worden. Die Überlebenden flohen zur Stadt Dego und ließen Kanonen, Musketen und andere Ausrüstung zurück. Die Franzosen griffen bei den Waffen des Feinds begierig zu. Mehr als tausend Mann in Augereaus Division hatten keine Muskete besessen, und sie schulterten nun die österreichischen Waffen, um sie gegen ihre früheren Eigentümer einzusetzen.
Napoleon nutzte den Vorteil sofort aus und trieb Massénas Kolonnen zur Verfolgung des Feinds, während Augereau und Serurier über die piemontesische Armee herfielen und sie im Lauf der nächsten zehn Tage aus einer Stadt nach der anderen vertrieben, bis sich die französische Armee am Abend des 23. April auf der Straße nach Turin befand. Ein Bauernhaus war als Hauptquartier des Generals eingerichtet worden, und während Napoleon bei einem schnellen Mahl aus kaltem Huhn und Brot saß, begann Regen auf das Ziegeldach zu prasseln. Die Tür ging auf, und Junot schlüpfte herein und schloss die Tür hinter sich. Er stand tropfnass auf den Steinfliesen und lächelte seinen Kommandeur an.
Napoleon legte das Stück Brot in seiner Hand beiseite und schluckte rasch. »Was gibt es, Junot?«
»Draußen steht ein Oberst der Piemonteser. Er bringt eine Nachricht von General Colli.«
»Und?«
»General Colli bittet um einen Waffenstillstand.«
»Ein Waffenstillstand?« Napoleon schob den Teller beiseite, verschränkte die Hände und überlegte fieberhaft, welche Folgerungen sich aus dem Angebot ergaben. Er wies mit einem Kopfnicken auf einen Stuhl auf der anderen Seite des schlichten Bauerntischs, und Junot setzte sich.
»Was haben Sie mit ihm gesprochen, Junot?«
»Auf dem Weg zum Hauptquartier hat er mich gefragt, ob ich glaube, Sie würden das Angebot annehmen. Ich habe nichts gesagt.«
»Sie haben nicht mit ihm gesprochen?«
»Nicht ein Wort.« Junot zuckte mit den Achseln. »Ich fand es anmaßend, dass er überhaupt gefragt hat.«
»Das war es auch!« Napoleon lachte. »Nun denn, Colli will den Kampf also abbrechen.«
»Es ist nicht schwer zu verstehen, wieso, Monsieur. Wir sind ihnen seit Montenotte dicht auf den Fersen. Sie sind hungrig und erschöpft und brauchen eine Atempause. Genau wie unsere Leute. Wir könnten die Zeit nutzen, uns neu zu formieren.«
»Ja, aber das wissen sie nicht.« Napoleon blickte abrupt auf. »Hatte man diesem Oberst die Augen verbunden, als er durch unsere Linien geführt wurde?«
»Selbstverständlich.«
»Sehr gut, dann sagen Sie ihm, dass ich das Angebot ablehne.«
Junot sah überrascht aus und zögerte kurz, ehe er sprach. »Darf ich fragen, wieso, Monsieur?«
»Junot, wenn sie uns wegen eines Waffenstillstands ansprechen, dann glauben sie offenbar, dass sie mehr dabei zu gewinnen haben als wir. Turin ist zwei Tagesmärsche entfernt. Wozu ihnen die Gelegenheit geben, es zu befestigen? Lassen Sie uns weiter Druck machen und ihnen dann einen Waffenstillstand zu unseren Bedingungen anbieten. Jetzt gehen Sie und sagen es ihm.«
In den folgenden beiden Tagen warfen sich die Franzosen auf die zurückweichenden Piemonteser, vertrieben sie aus einem Dorf nach dem anderen und schnitten sie von der österreichischen Armee ab. Nun war es an Napoleon, einen Waffenstillstand anzubieten. General Colli überließ ihnen widerwillig die wichtigen befestigten Städte Cuneo, Ceva und Tortona und unterzeichnete die Dokumente, die Junot aufgesetzt hatte.
Am selben Abend schrieb Napoleon einen raschen Brief an Josephine und gab ihn Oberst Murat nach Paris mit, der die vorläufigen Bedingungen des Waffenstillstands in die Hauptstadt brachte, damit die Direktoriumsmitglieder darüber beraten konnten. Dann setzte er sich hin und verfasste den Tagesbefehl für den nächsten Morgen. Napoleon führte sich vor Augen, mit welcher Geschwindigkeit der Feldzug bisher verlief. Er hatte sich noch nie so erfolgreich gefühlt, und er war stolz auf seine Männer. Und doch blickte er auch jetzt voraus. Er tauchte die Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben:
Soldaten! In fünfzehn Tagen habt ihr zweiundzwanzig Fahnen und fünfundfünfzig Geschütze erbeutet, ihr habt mehrere Festungen und die reichsten Landstriche Piemonts erobert. Ihr habt fünfzehntausend Gefangene gemacht und mehr als zehntausend Feinde getötet oder verwundet. Der Erfolg, den ich euch versprochen habe, hat sich eingestellt, doch das ist erst der Anfang …
Wann werden diese verdammten Österreicher kehrt machen und gegen uns kämpfen?« Napoleon schäumte und funkelte seine ranghohen Offiziere im Licht der Laterne in seinem Zelt zornig an. »Jedes Mal, wenn wir vorrücken, zieht sich General Beaulieu hinter einen weiteren Nebenfluss des Po zurück. Wir müssen ihn entscheidend schlagen, aber alles, was er uns anbietet, ist ein Nachhutgefecht nach dem anderen.«
Masséna richtete sich auf und erwiderte: »Dann müssen wir sie eben schlagen, indem wir eine Nachhut nach der anderen vernichten.«
»Das ist nicht im Entferntesten witzig, Masséna«, fuhr ihn Napoleon an. »Sie ziehen sich entlang ihrer Nachschublinien zurück, während wir unsere immer weiter ausdehnen. Sie werden immer stärker, unsere Leute sind müde, und viele unserer Bataillone sind weit unter Sollstärke. Die Zeit spielt ihnen in die Hände. Noch ein paar Gefechte wie das heutige, und wir sind reif für einen österreichischen Gegenangriff.«
Er schwieg für einen Moment und dachte an die blutige Überquerung des Flusses Adda bei Lodi, die fast den ganzen Tag gedauert hatte. Mehrere Male waren die Grenadiere unter mörderischem Feuer vom anderen Ufer auf einem schmalen Damm zur Brücke vorgerückt, erst um sechs Uhr abends hatten seine Leute einen Durchbruch geschafft, und die französische Armee hatte in großer Zahl begonnen, den Fluss zu überqueren. Sie hatten die Verfolgung der Österreicher bis Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt, und erst dann hatten die Franzosen das Lager für die Nacht aufgeschlagen. Bis die Zelte des Hauptquartiers aufgebaut waren, war es nach Mitternacht gewesen, und die Offiziere rings um Napoleon waren erschöpft und hatten trübe Augen. Genau wie ihre Männer, dachte er. Es half jedoch nichts. Der Schwung musste aufrechterhalten werden, wenn sie die Österreicher zwingen wollten, zu kämpfen, und wenn sie nicht kämpften, mussten sie aus Italien verjagt werden, sodass es nur noch die gewaltige Festung Mantua einzunehmen galt. Diese konnte durch eine Belagerungsarmee eingeschlossen und durch Aushungern zur Aufgabe gezwungen werden, während Napoleon die Armee nach Tirol führte. Die Österreicher würden dann zwischen der Italienarmee und der Rheinarmee eingeschlossen sein, die sich nach der Gesamtstrategie des Direktoriums in diesem Moment auf der anderen Seite der Alpen in Richtung Österreich vorarbeiten sollte.
Er rieb sich die Augen und blinzelte, um sein Verlangen nach Schlaf zu vertreiben. Dann zog er eine Karte heran und zeigte auf das nächste Flusshindernis.
»Wenn alles so weitergeht wie gewohnt, wird sich Beaulieu hinter den Oglio zurückziehen. Wenn es uns gelingt, ihn von dieser Linie zu vertreiben, können wir Mantua isolieren.«
Junot räusperte sich. »Ist das klug, Monsieur? Sollten wir nicht zuerst unsere Gewinne absichern? Jetzt, da sich Beaulieu zurückgezogen hat, muss Mailand an uns fallen. Unsere Männer brauchen Ruhe. Und wie Sie selbst schon sagten, gehen uns aufgrund unserer langen Nachschubwege Pulver und Proviant aus. Vor allem aber brauchen wir mehr Männer, Monsieur.«
»Er hat recht«, ergänzte Serurier. »Man verspricht uns seit Monaten Verstärkung. Bis jetzt habe ich nicht einen Mann bekommen, um meine Verluste zu ersetzen. Monsieur, Sie sagten, dass es mehr Leute geben werde.«
»Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich an das Direktorium geschrieben habe, um Verstärkung anzufordern«, sagte Napoleon müde. »Man sollte meinen, nach allem, was wir erreicht haben, würden sie uns die Werkzeuge für weitere Siege in die Hand geben. Doch anscheinend hat das Direktorium beschlossen, dass alle verfügbaren Männer zur Rheinarmee geschickt werden.«
»Das habe ich ein bisschen anders gehört«, knurrte Masséna. »Man hat uns Verstärkung geschickt, aber Kellermann, dieser Bastard, schöpft sie für die Alpenarmee ab, wenn sie durch sein Operationsgebiet marschieren.«
»Das ist ein Gerücht«, sagte Napoleon voller Überzeugung. »Diese Männer müssen zu ihm geschickt worden sein, nicht zu uns.«
»Glauben Sie das wirklich?« Masséna lächelte säuerlich.
»Ich weiß es. Kellermann ist ein Ehrenmann. Und er ist intelligent genug, um zu erkennen, dass wir Verstärkung sehr viel nötiger haben als er.«
»Warum bekommt er dann welche und wir nicht?«, fragte Masséna.
»Politik, deshalb«, sagte Junot verächtlich. »Das hier war nur als Nebenschauplatz für den Hauptvorstoß über den Rhein gedacht.« Er sah Napoleon an. »Deshalb hat man Sie für dieses Kommando ausgewählt, Monsieur. Mit Ihrem Sieg über die Monarchisten haben Sie die Politiker in Verlegenheit gebracht. Sie wollten sie aus Paris weghaben, und die Italienarmee sollte das Ende Ihrer Ambitionen bedeuten. Das Problem ist, dass Sie eine Schlacht nach der anderen gewinnen und der Plan nach hinten losgegangen ist. Und deshalb erhalten wir keine Hilfe aus Paris.«
Napoleon überlegte. Junot mochte richtig liegen. Doch selbst ein korrupter Politiker würde doch wohl seine Interessen nicht über die Interessen des Landes stellen. Er hatte die Mitglieder des Direktoriums kennengelernt und Umgang mit ihnen gepflegt, und er hatte gespürt, dass ihre Ideale sie zur Revolution und zu dem Bedürfnis getrieben hatten, ein neues Frankreich zu schaffen. Doch wie es schien, hatte die Zeit dieses Bestreben ausgehöhlt. Wenn der Krieg vorbei war, würde er vielleicht nach Paris zurückkehren und tun, was er konnte, um wieder mehr Idealismus in die öffentlichen Angelegenheiten zu bringen. Doch das war die Zukunft, rief er sich in Erinnerung. Für den Augenblick hatte er drängendere Probleme. Er sah Junot an.
»Es wird Zeit, dass wir der Regierung zeigen, warum sie uns Verstärkung schicken und neu ausrüsten sollten.«
»Monsieur?«
»Was wünschen sich unsere Politiker im Augenblick mehr als alles andere?«
»Dass wir den Feind besiegen und den Krieg beenden«, antwortete Junot.
Napoleon schüttelte den Kopf. »Sie denken zu sehr wie ein Soldat.«
Masséna lachte. »Sie wollen Geld. Die Staatskasse ist leer, und Gold und Silber sind das, was den Krieg am Laufen hält. Von der Politik ganz zu schweigen.«
Napoleon nickte und lachte. »Und Sie, mein lieber Masséna, denken zu sehr wie ein Politiker.«
Masséna zuckte mit den Achseln. »Niemand ist vollkommen, General.«
»Geld.« Napoleon schlug mit der Hand auf den Tisch. »Geld ist das, was sie haben wollen, und genau das werden wir ihnen geben. Wenn es erst einmal in ihre Schatullen zu fließen beginnt, werden wir bekommen, was wir brauchen. Junot, ich möchte, dass Sie gleich morgen früh Nachrichten an all unsere Agenten in Norditalien schicken. Sie sollen das Vermögen sämtlicher Städte schätzen. Sie sollen in Erfahrung zu bringen versuchen, wie viel in Münzen vorhanden ist und wie viel sich in Form von Darlehen beschaffen lässt. Wir werden natürlich höchst vorteilhafte Bedingungen aushandeln, wenn es so weit ist. Ich habe noch nie gehört, dass ein Säbel am Hals eines Bankiers nicht für gerechte Konditionen gesorgt hat, was die Rückzahlung betrifft.«
Die Offiziere lachten, lobten die Idee, und Napoleon fuhr fort: »Schicken Sie die Nachrichten verschlüsselt, und verlangen Sie eine Antwort bis Ende Mai.«
»Ja, Monsieur.«
»In der Zwischenzeit nehmen wir Mailand ein und gönnen den Männern eine kurze Rast. Die Österreicher gehen vorläufig nirgendwohin. Wir marschieren wieder gegen sie, wenn die Männer verpflegt und bei guter Laune sind. Das war dann alles für heute. Berthier wird Ihnen Ihre Befehle bei Tagesanbruch schicken. Gute Nacht, meine Herren.«
Die Offiziere erhoben sich und verließen nacheinander das Zelt. Napoleon blieb am Tisch sitzen und sah auf die Karte. Die Österreicher hatten sich einmal mehr zurückgezogen, aber langsam ging ihnen der Raum aus, in den sie sich zurückziehen konnten. Irgendwann in den kommenden Wochen oder Monaten würde es zu einer Abrechnung kommen. Dann musste die Italienarmee stark genug sein, um sich einer schweren Schlacht zu stellen und sie zu gewinnen.
Ein Klopfen am Rahmen des Zelteingangs ließ Napoleon aufblicken. Berthier stand mit einer wasserdichten Dokumententasche vor ihm.
»Berichte und Zeitungen aus Paris, General. Wollen Sie sie jetzt lesen oder bis zum Morgen warten.«
»Jetzt, bitte, Berthier.«
»Ja, Monsieur.« Sein Stabschef kam zum Tisch und löste die Riemen seiner Mappe. Sie enthielt ein sorgfältig gewickeltes Bündel Zeitungen, ein versiegeltes Kuvert vom Kriegsministerium und einen in Josephines Handschrift an ihn adressierten Brief. Napoleon wurde warm ums Herz bei diesem Anblick, und er griff instinktiv nach dem Brief und fuhr mit dem Zeigefinger sanft über die Schrift. Er lächelte. Es war typisch für sie, ihre Kontakte zu nutzen, um einen Brief an ihn in die offizielle Sendung des Kriegsministeriums zu schmuggeln. Er verweilte kurz bei dem Brief, dann legte er ihn beiseite, griff nach dem Kuvert und brach das Siegel auf.
Das Päckchen enthielt zwei Dokumente, eines von Carnot aus dem Kriegsministerium, das andere von Barras im Namen des Direktoriums. Er las Carnots Schreiben zuerst. Das Kriegsministerium sah sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt außerstande, der Italienarmee die angeforderte Verstärkung zu schicken, versicherte General Bonaparte jedoch, er werde bevorzugt behandelt, sobald am Rhein keine Verstärkungen mehr nötig seien. Der Brief schloss mit einem Geheimdienstbericht, demzufolge Beaulieu demnächst fünfzehntausend Mann frische Truppen erhalten werde. Kalte Wut durchströmte Napoleon. Mit fünfzehntausend frischen Leuten könnte er selbst den Feind aus Italien werfen und quer durch Tirol bis nach Wien zurückjagen. Er fragte sich, wer die größere Gefahr für seine Armee darstellte, die österreichischen Truppen oder die Politiker daheim in Paris.
Er öffnete den Brief von Barras, überflog die üblichen formellen Einleitungsworte und begann den wesentlichen Teil der Wünsche seines politischen Dienstherrn zu lesen. Als er zum Ende kam und den Brief auf den Tisch sinken ließ, zitterte seine Hand vor Zorn.
»Der Teufel soll sie holen«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Teufel soll sie alle holen.«
Berthier stand schweigend daneben und wartete darauf, dass sein Vorgesetzter den Inhalt des Briefs erläuterte. Schließlich sah Napoleon auf, eine Zornesfalte auf der Stirn.
»Anscheinend will das Direktorium das Kommando über die Italienarmee aufteilen.«
Napoleon stieß mit dem Zeigefinger auf das Schreiben. »Das Direktorium hat mir befohlen, die Hälfte der Armee an General Kellermann zu übergeben. Ich soll die Offensive nicht weiterführen. Ich soll nicht in Tirol einmarschieren. Man erlaubt mir noch nicht einmal, Mailand zu besetzen. Alle diese Operationen soll Kellermann durchführen. Ich soll stattdessen«, fuhr er in eisigem Ton fort, »zwei Divisionen nach Süden führen, um Druck auf den Kirchenstaat und das Königreich Neapel auszuüben, damit sie Frieden mit Frankreich schließen. Es scheint, dass unsere Führer mich in meine Schranken verweisen wollen.« Er schüttelte den Kopf, als er abermals einen Blick in den Brief warf. »Druck ausüben – was zur Hölle soll das heißen? Diese Politiker halten mich offenbar für einen Dummkopf.«
Nach kurzem Schweigen räusperte sich Berthier nervös. »Wieso das, Monsieur?«
»Der Ausdruck ist viel zu ungenau, finden Sie nicht? Welche Art von Druck soll ich ausüben? Diplomatischen oder militärischen? Übe ich ersteren aus, und es gelingt mir nicht, ein Abkommen auszuhandeln, werden die Direktoren sagen, ich hätte Gewalt anwenden sollen. Wenn ich Gewalt anwende und scheitere oder uns weitere italienische Staaten zum Feind mache, wird es heißen, ich hätte meine Befugnisse überschritten und verhandeln sollen. Ich muss also Erfolg haben oder ich bin verdammt. Vorausgesetzt natürlich, ich beschließe tatsächlich, die Hälfte meiner Armee an Kellermann abzutreten.« Napoleons Blick huschte über die Karte auf dem Tisch. Er überlegte fieberhaft.
Wenn die Italienarmee schnell genug war, konnte er Mailand und Pavia einnehmen. Waren diese Städte erst einmal in französischer Hand, konnte Napoleon beginnen, Darlehen und »Schenkungen« von den wohlhabenderen Schichten einzufordern, vielleicht auch von einigen der benachbarten Staaten und Fürstentümer. Und wieso bei Geld aufhören, überlegte er. Norditalien war voller Kunstschätze. Sobald das Direktorium diese Beute erhielt, würden sie es sich zweimal überlegen, den Mann zu ersetzen, der dringend benötigte Reichtümer in Frankreichs leere Staatskasse fließen ließ. Darauf würde er bauen. In der Zwischenzeit würde er ihnen akzeptablere Gründe dafür liefern, ihn als einzigen Befehlshaber der Armee zu belassen.
»Berthier, schicken Sie mir meinen Sekretär.«
Nachdem Bourrienne mehrere Bögen Papier ausgelegt hatte und Tintenfass und Feder bereithielt, begann Napoleon, seine Antwort an das Direktorium zu diktieren. Er achtete darauf, dass sein Tonfall respektvoll und unaufgeregt war. Es war wichtig, dass seine Argumente als objektiv, begründet und im Interesse Frankreichs vorgebracht erschienen. Bis in den Morgen schrieb Bourrienne am Rohentwurf des Briefs. Es gebe in einem Krieg nichts Wichtigeres als die Einmütigkeit der Befehlsgewalt, betonte er so nachdrücklich, wie er es wagte. Unter einem General könne die Italienarmee am meisten Wirkung erzielen. Er vermied es sorgsam, Kellermann herabzuwürdigen, der immer noch von seinem Ruhm als Retter der Revolution durch den Sieg bei Valmy zehrte. Napoleon holte tief Luft, ehe er den letzten Absatz diktierte.
»General Kellermann wird die Armee genauso gut führen wie ich, denn niemand ist mehr überzeugt als ich, dass sich die Siege dem Mut und der Kühnheit der Männer verdanken.« Er lächelte über diesen Schachzug, seine Bescheidenheit mit einem Lob für den revolutionären Eifer seiner Soldaten zu unterlegen. Dann fuhr er fort. »Ich bin jedoch der Ansicht, dass es all unsere Ziele gefährdet, Kellermann und mich in Italien zusammenzuspannen. Ich bin überzeugt, dass ein schlechter General besser ist als zwei gute.«
Er nickte zufrieden über diesen Schluss und sah Bourrienne an. »So, das sollte es tun. Schreiben Sie es ins Reine, und bringen Sie es mir, sobald Sie fertig sind.«
»Ja, General.« Bourrienne ließ den Deckel seines Tintenfasses zuschnappen und begann seinen Federkiel mit einem alten Stofflappen zu reinigen. »Soll ich einen Kurier bereitstehen lassen, damit er den Brief nach Paris bringt?«
Napoleon überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Nein, wir warten noch ein paar Tage. Ich möchte, dass möglichst bald nach dem Brief die Nachricht von Beute eintrifft, die ich vielleicht machen werde.«
»Sehr wohl, Monsieur.« Bourrienne klemmte die Papiere unter den Arm, neigte den Kopf und ließ Napoleon allein.
Lange Zeit blickte er reglos auf die Karte, während er in Gedanken bei dem Brief war, den er vom Direktorium erhalten hatte. Es war ein Schock für ihn gewesen, dass sich die Regierung ihrer Sache so wenig sicher war und ihn als Gefahr betrachtete. Napoleon hatte durchaus bemerkt, dass man ihm nach der Niederschlagung des royalistischen Aufstands nicht nur Wohlwollen entgegenbrachte, aber er hatte angenommen, jede Eifersucht auf den Beifall, den er genoss, durch seine unerschütterliche Treue und seine guten Dienste kontern zu können. Wenn die Machthaber in Paris erfolgreiche Generäle so behandelten, dann wäre Napoleon vielleicht besser dran, einen Feldzug so fern der französischen Hauptstadt zu führen, wie es dieser Krieg nur erlaubte.
Vorläufig würde der Kampf gegen die Politiker in Paris um sein Kommando über die Italienarmee ebenso schwer werden wie sein Kampf gegen die Österreicher. Ein Messer in den Rücken würde ihn so sicher umbringen wie eine Kugel in die Brust. Er seufzte müde. So konnte man keinen Krieg führen. Doch wenn er nicht lernte, an beiden Fronten zu kämpfen, konnte er nicht hoffen, sich das Ansehen und den Respekt zu verdienen, nach denen er sich sehnte.
Die kommenden Wochen würden wichtiger denn je sein. Er musste alles, selbst sein Leben, riskieren, um die Direktoren von seiner Unersetzlichkeit zu überzeugen.
Fünf Tage später marschierte die französische Armee in Mailand ein. Die Menschen der Stadt drängten sich in den Straßen, um die zerlumpten Soldaten zu begrüßen, die gekommen waren, um sie aus österreichischer Knechtschaft zu befreien. Die Begrüßung durch den Adel und die wohlhabenden Kaufleute und Bankiers fiel zurückhaltender aus, und Napoleon nahm ihre Geschenke und ihre Lobhudelei als das, was sie waren: Bestechungsversuche und der Appell an seine Eitelkeit, damit er Mailand nicht den freiheitlichen Werten der Französischen Revolution unterwarf. Napoleon behandelte sie durchaus höflich, ehe er sein Ziel verkündete, in Mailand eine demokratische Republik einzurichten, die mit Frankreich verbündet war. Seine Erklärung wurde mit wilden Feierlichkeiten in den engen Straßen der ärmeren Stadtviertel begrüßt. In der Zwischenzeit umstellten mehrere Bataillone Infanterie die kleine österreichische Garnison, die zur Verteidigung der Zitadelle zurückgelassen worden war. Die Streitmacht unter General Despinois würde nicht nur die Österreicher binden, sondern auch die Treue der Mailänder sicherstellen.
Die Feierlichkeiten in der Stadt waren von kurzer Dauer. Während Napoleon die ansässigen Banken plünderte, streiften seine Soldaten durch die Stadt und nahmen sich Essen, Wein und Frauen, wie es ihnen gefiel. Sobald Napoleon hörte, was geschah, erließ er den strengen Befehl an seine Offiziere, ihren marodierenden Soldaten Einhalt zu gebieten. Aber es war bereits zu spät. Die Disziplin war zusammengebrochen, und es war nichts mehr zu machen, bis die Männer ihren Appetit gestillt hatten.
Napoleon wartete ungeduldig, bis sie zu ihren Einheiten zurückgekehrt waren, und dann, eine Woche nach dem Einmarsch in die Stadt, verließen sie Mailand wieder, um den Krieg gegen Österreich fortzusetzen. Diesmal blieb es jedoch still in den Straßen, da die Mailänder sich in ihren Häusern verkrochen und warteten, bis der Klang der Marschstiefel in der Ferne verhallt war, ehe sie sich ins Freie wagten, um zuerst schockiert und dann voll bitterer Wut auf ihre geplünderte Stadt zu blicken.
Napoleon und sein Stab hielten auf einer kleinen Anhöhe nicht weit von der Stadt und sahen zu, wie die Männer vorbeizogen, deren Rucksäcke sich vor Beutegut bauchten.
»Sie sind guter Stimmung, General«, bemerkte Berthier. »Ich hoffe nur, das hält an, bis es gegen die Österreicher geht, wenn wir sie eingeholt haben.«
Napoleon blickte mit finsterer Miene auf die vorbeiziehende Infanteriekolonne und erwiderte mürrisch die fröhlichen Grüße der Männer. »Wenn sie sich weiter in dieser Weise benehmen, befürchte ich, dass wir genauso viel Zeit darauf verwenden werden, Aufstände in den von den Österreichern eroberten Ländereien niederzuschlagen, wie für den Kampf gegen Feind.«
Berthier zuckte mit den Achseln. »Das will ich nicht hoffen, Monsieur.«
Napoleon lächelte bitter. »Sie hoffen es nicht? Ich glaube, es wird unvermeidlich sein. Es gibt kaum einen Mailänder, den wir nicht erzürnt haben. Unsere Männer hatten freie Hand beim gemeinen Volk, während ich die Reichen gründlich ausgeplündert habe.«
In den letzten Tagen hatte Napoleon mehr als zehn Millionen Francs von den Fürsten von Parma und Genua gefordert; das Geld musste auf Banken in Genua eingezahlt werden, bevor es nach Paris überwiesen wurde. Noch mehr Geld wurde gerade vom Königreich Piemont sowie allen Städten unter französischer Herrschaft erpresst. Sehr bald schon würde es in die Staatskasse von Paris fließen. Napoleon hoffte inbrünstig, das würde das Direktorium überzeugen, sich nicht weiter in seinen Italien-Feldzug einzumischen. Die bittere Wahrheit war, dass sich die Direktoren zwar möglicherweise kaufen ließen, aber dafür würde er von nun an seinen Vormarsch mit einer aufgebrachten Bevölkerung im Rücken fortsetzen müssen. Immerhin war ihm die Armee dankbar, vor allem, da ein Teil des Geldes, das er von den lokalen Machthabern eingetrieben hatte, dazu verwendet worden war, ihren ausstehenden Sold zu bezahlen. Mit seinem zunehmenden Bewusstsein für die Notwendigkeit, politisch zu denken, begriff Napoleon, dass eine loyale Armee als Machtbasis so gut war wie jeder Mob in Paris.
Die Armee war gerade mal bis Lodi marschiert, als ein Bote von General Despinois eintraf. Das Volk von Mailand hatte sich gegen die französischen Besatzer erhoben. Despinois versicherte seinem Kommandeur, der Aufstand würde rasch niedergeschlagen werden. Aber es gab Nachrichten von einem weiteren Aufstand in der Stadt Pavia, die noch beunruhigender klangen.
»Pavia?« Napoleon sah den Kurier an, einen jungen Offizier der Husaren. »Was ist in Pavia passiert?«
»Die Garnison dort hat sich den Stadtleuten ergeben.«
»Ergeben?« Napoleon hatte Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. »Gab es einen Kampf?«
»Soviel ich weiß, gab es keinen, Monsieur. Der Kommandant der Garnison, Hauptmann Linois, hat zugestimmt, die Waffen niederzulegen, wenn er und seine Männer verschont würden. Man hält sie in der Zitadelle gefangen.«
»In der Zitadelle, bei Gott?« Napoleon ballte die Fäuste und schlug sie an seine Oberschenkel. »Nun denn, Leutnant. Reiten Sie zu General Despinois zurück. Sagen Sie ihm, er ist befugt, die Revolte in Mailand mit jedem Mittel niederzuschlagen, das nötig ist. Gehen Sie.«
Der Husar salutierte und schwang sich wieder auf sein Pferd, um nach Mailand zurückzueilen. Napoleon drehte sich zu seinen Stabsoffizieren um.
»Berthier, Junot, hier rüber!« Er führte sie zur Seite, außer Hörweite der übrigen Offiziere, und erklärte die Situation, bevor er seine Befehle gab. »Die Armee wird weiter auf Brescia zu marschieren. Drängt die Österreicher bis zum Fluss Mincio zurück. Wenn sie sich auf das andere Ufer zurückziehen, verschafft mir das ein wenig Zeit.«
»Zeit?« Junot zog die Augenbrauen in die Höhe. »Zeit wofür?«
Napoleon nahm seinen Hut ab und fuhr sich über das dunkle glatte Haar. »Zeit, um den Italienern eine Lektion zu erteilen. Ich muss an diesen Rebellen in Pavia ein Exempel statuieren und mich um Hauptmann Linois kümmern. Ich werde zweitausend ausgesuchte Soldaten brauchen. Grenadiere sind am besten für die Aufgabe geeignet, und ich brauche einen guten Feldoffizier. Jemanden, der mutig ist und den es nicht …« Er hielt inne und schürzte die Lippen, bevor er fortfuhr. »… den es nicht vor unappetitlicher Arbeit graust. Wen können Sie empfehlen?«
»Ich kenne genau den richtigen Mann für Sie, General«, antwortete Junot sofort. »Ein Gascogner, Oberst Lannes. So wild wie nur einer.«
»Gut, dann holen Sie ihn. Ich werde Bourrienne ebenfalls mitnehmen. Die Grenadiere sollen sich zum Aufbruch bereitmachen. Sie sollen eine Tagesration Proviant, Pulver und Munition mitnehmen. Alles andere sollen sie hierlassen und holen, wenn wir zur Hauptarmee zurückmarschieren. Kümmern Sie sich darum.«
Die kleine Kolonne legte die zwanzig Meilen nach Pavia bis zum Morgengrauen des folgenden Tages zurück und formierte sich hinter einem Wäldchen nicht weit von den zerfallenden Mauern der alten Stadt. Napoleon und Lannes schlichen vor und kundschafteten die Verteidigungslinien vom Waldrand aus. Eine Handvoll Männer saß auf einer Bank neben dem Tor, das sich über die Hauptstraße zur Stadt wölbte. Auf der anderen Straßenseite gab es mehrere Schweinekoben, deren Bewohner noch in ihrem Dreck schliefen. Die Männer teilten sich einen Brotlaib und unterhielten sich angeregt, ohne groß auf die Umgebung zu achten, die sie eigentlich im Auge behalten sollten. Napoleon ließ den Blick an der Stadtgrenze entlangwandern. Die Aufständischen hatten primitive Versuche unternommen, die Lücken zwischen den Gebäuden mit Karren, Wägen, Fässern und Möbeln zu versperren. Hier und dort waren der Kopf und die Schultern eines Verteidigers zu erkennen. Er wandte seine Aufmerksamkeit der kleinen Zitadelle in der Mitte der Stadt zu. Ein Banner in Grün und Rot hing von der höchsten Bastion. Napoleon kannte das Abzeichen nicht und nahm an, die Bewohner von Pavia hegten Ambitionen, die auf eine Art Unabhängigkeit abzielten.
»Ich glaube nicht, dass sie eine große Gefahr darstellen«, entschied Napoleon. »Wenn wir die Männer durch das Gehölz bis an diesen Ort führen, können wir das offene Gelände überqueren und in der Stadt sein, bevor sie reagieren.«
Lannes betrachtete die Verteidigungsvorrichtungen kurz und nickte. »Und dann, General?«
»Wir entwaffnen die Aufständischen, treiben die Rädelsführer zusammen und statuieren ein Exempel an ihnen.«
Lannes ließ das Fernrohr sinken und wandte den Kopf zu Napoleon. »Ein Exempel?«
»Sie werden an der Mauer der Zitadelle gehängt. Ich muss sicherstellen, dass die Italiener wissen, was mit Leuten geschieht, die gegen uns revoltieren.«
»Ja«, sagte Lannes und nickte. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Dann ab mit Ihnen. Lassen Sie die Männer ihre Waffen laden, aber auf keinen Fall schon den Hahn spannen. Ich lasse jeden auspeitschen, der feuert, bevor der Befehl gegeben wurde. Verstanden?«
»Ja, Monsieur.« Lannes erhob sich halb und eilte geduckt zwischen die Bäume, während Napoleon noch eine Weile die Stadt beobachtete. Nichts deutete darauf hin, dass Alarm ausgelöst worden war. Schließlich kehrte auch er zu seinen Männern zurück.
Einige Minuten später sah Napoleon nach links und rechts, wo die Männer im Halbdunkel mit vorgestreckten Musketen warteten, dann nickte er Lannes zu. Der große Gascogner zog seinen Säbel und holte tief Luft, ehe er den Befehl brüllte.
»Grenadiere … Vorwärts!«
Zweige brachen unter Stiefeln, als die ungleichmäßige blaue Linie durch das Unterholz rauschte, das Dunkel des Walds verließ und sich über das freie Gelände Pavia näherte. Napoleon nahm eine Position hinter der mittleren Kompanie ein, sein Herz schlug heftig vor Aufregung, als er mit ihnen vorwärtseilte. Die Männer am Tor entdeckten sie fast unverzüglich, sprangen von ihrer Bank auf und griffen nach ihren Waffen. Einer drehte sich um, um eine Warnung zu rufen, bevor ihm in den Sinn kam, dass ein drängenderer Ruf zu den Waffen vonnöten war, und er hob seine Muskete und feuerte in die Luft. Der Schuss klang dumpf und flach in der ebenen Landschaft, aber es genügte, um die Verteidiger auf die Gefahr aufmerksam zu machen, und Napoleon wusste, dass ein leises Verhalten der Männer nicht mehr vonnöten war. Sein Säbel fuhr zischend aus der Scheide, und er stieß ihn in Richtung Stadt.
»Angriff!«, rief er. »Greift sie an!«
Die Offiziere und Sergeanten nahmen den Ruf auf, bis die gesamte Truppe unter dröhnendem Kampfgeschrei den windigen Verteidigungsanlagen entgegenwogte. Die ersten Schüsse der Verteidiger wurden hinter den Barrikaden abgegeben, aber die Grenadiere stürmten rücksichtslos weiter. Nur einer der Männer auf Wache hielt die Stellung, breitbeinig und mit gesenktem Bajonett blickte er den Franzosen trotzig entgegen. Die Übrigen machten einfach kehrt und rannten in ihre Stadt zurück. Ihr Kamerad parierte den ersten Angreifer und schlug ihm den Kolben seiner Waffe ins Gesicht, dann wurde er zu Boden gestoßen, und eine Bajonettspitze drang in seine Brust. Der Grenadier zog die Klinge heraus und lief weiter, während sein Opfer sich auf dem Boden krümmte und mit großen Augen auf das Blut starrte, das sich stoßweise aus seiner Wunde ergoss.
Der Schwung des Angriffs war so groß, dass die Männer über die Barrikaden geklettert waren und durch die Straßen der Stadt strömten, ehe sie auf den ersten organisierten Widerstand trafen. Napoleon befand sich an der Spitze einer ungeordneten Kompanie seiner Männer, als sie um eine Ecke bogen und auf einen kleinen Platz kamen. Er hatte gerade noch Zeit, eine Reihe angelegter Musketen wahrzunehmen und sich auf den Boden zu werfen, als die Schüsse krachten und die Waffen der Verteidiger hinter einer dichten Rauchwolke verschwanden. Die Kugeln flogen über ihn hinweg und streckten mehrere der Angreifer nieder. Sofort sprang Napoleon auf, reckte seinen Säbel vor und rief: »Vorwärts! Auf sie!«
Er stürmte weiter und war sich der Grenadiere hinter ihm bewusst, die über ihre gefallenen Kameraden stiegen und sprangen, um ihrem General nachzueilen. Napoleon rannte in die Pulverdampfwolke, in der die grauen Gestalten der Verteidiger schwach zu erkennen waren. Eine Bajonettspitze drang durch den Dunst auf sein Gesicht zu. Napoleon keuchte und stieß das Bajonett mit dem Heft seines Säbels beiseite. Im nächsten Moment wurde er selbst von einem der Grenadiere zur Seite gestoßen, der dem Feind seine Klinge in den Bauch rammte und ihn in die Reihe seiner Kameraden zurückschob. Weitere Grenadiere fegten vorbei, während Napoleon schwer atmend an einer Hauswand innehielt. Unmittelbar vor ihm war der Kampf bereits vorbei, und als er weiterging, um seine Männer einzuholen, stieg er über ein Dutzend niedergemähter Städter hinweg. Einige waren verwundet, einer schrie und presste eine Hand auf die glitzernden Gedärme, die aus seinem aufgeschlitzten Bauch quollen.
Als Napoleon den Hauptplatz der Stadt erreichte, wurde der größte Teil der französischen Soldaten von ihren Sergeanten bereits wieder zu Einheiten geordnet. In der gegenüberliegenden Ecke des Platzes stand eine kleine Gruppe Gefangener streng bewacht neben dem Rathaus. Oberst Lannes war dabei, einen hochgewachsenen, schlanken und gut gekleideten Mann zu befragen, und Napoleon eilte sofort zu ihm.
»Wer ist das?«
»Der Bürgermeister. Er hat die Kapitulation der Stadt angeboten. Ich sagte, dies wäre erst dann akzeptabel, wenn die Garnison und Hauptmann Linois wohlbehalten in unseren Händen sind. Er hat einen Mann losgeschickt, um ihre Freilassung zu befehlen.«
»Gut.« Napoleon seufzte erleichtert. »Dann ist es vorbei.«
Er wandte sich an den Bürgermeister. »Sie müssen die Rädelsführer dieser Revolte benennen.«
»Ich werde sie nicht verraten«, erwiderte der Bürgermeister auf Französisch.
»Wir werden sehen«, antwortete Napoleon knapp. »Bringt ihn zu den übrigen Gefangenen.«
Von einer Seite des Platzes ertönte plötzlich ein Schrei, und die beiden Offiziere wandten den Kopf, um zu sehen, was los war. Eine der Grenadierkompanien hatte ihre Formation aufgelöst und rannte von einem hohen Haus fort, das den Markt überblickte. Napoleon sah eine Handvoll Männer auf dem Dach, die Ziegel auf die französischen Soldaten warfen. Drei Soldaten waren bereits zu Boden gegangen, und vor Napoleons Augen prallte ein weiterer Dachziegel in die Schulter eines vierten Mannes, der mit einem Schmerzensschrei zusammenbrach.
»Steht nicht einfach herum!«, schrie Oberst Lannes. »Schießt die Schweinehunde vom Dach!«
Musketen krachten auf dem Marktplatz, und um die Männer auf dem Dach herum zersprangen Ziegel. Sie duckten sich eilig außer Sicht, und nach einigen weiteren Schüssen ließen die Grenadiere ihre Waffen sinken.
»Sucht diese Männer«, befahl Napoleon. »Sie können den Gefangenen Gesellschaft leisten.«
Augenblicke später geriet die Kompanie, die Lannes links und rechts an dem Gebäude entlangführte, über das die Männer geflohen waren, unter neuen Beschuss mit Dachziegeln. Das Beispiel war gesetzt, und weitere Stadtbewohner waren auf den Dächern und ließen Ziegel auf die französischen Soldaten regnen. Napoleon beobachtete mit wachsender Verärgerung, wie die Verwundeten in die Mitte des Platzes getragen wurden. Inzwischen hatten Bourrienne und die Männer mit den Standarten einen freien Weg durch die Stadt gefunden, um sich ihrem General anzuschließen, und der Sekretär sah schockiert, wie viele Männer auf dem Pflaster lagen und ihre Wunden versorgen ließen, bevor er sich Napoleon näherte.
Napoleon nickte ihm zu und schüttelte den Kopf. »Himmel, ich hasse es, gegen Zivilisten zu kämpfen. Erinnert mich daran, wie wir damals diese Rebellion in Lyon niederschlagen mussten.«
Bourrienne nickte bei der Erinnerung an diesen ersten gemeinsamen Einsatz von ihm und Napoleon als junge Leutnante im Régiment de la Fère. Napoleon nahm seinen Hut ab und wischte sich über die Stirn. »Für die meisten von ihnen ist es nur eine Art Spiel. Erst schleudern sie den Soldaten Beleidigungen entgegen und dann Steine, und sobald wir das Feuer eröffnen, schreien sie ›Massaker‹ und beschuldigen uns irgendwelcher Gräueltaten.« Napoleon setzte seinen Hut wieder auf und zog ihn besonders stramm nach unten, als könnte er ihn vor einem verirrten Dachziegel schützen. »Sie kosten mich zu viele Leute. Es ist an der Zeit, dass wir den Italienern eine Lektion erteilen. Wir können es uns nicht leisten, dass sich dieses Theater in jeder größeren Stadt hinter unseren Linien wiederholt.«
Er wandte sich an einen Sergeanten. »Suchen Sie Oberst Lannes. Sagen Sie ihm, jedes Mal, wenn ein Dachziegel auf seine Männer geworfen wird, sollen sie in das betreffende Haus eindringen, alle töten, die sich darin befinden, und es dann anzünden.«
Der Sergeant lächelte grimmig, salutierte und trabte in Richtung des Musketenfeuers über die Piazza. Bourrienne sah seinen General skeptisch an.
»Ist das klug?«, fragte er leise.
»Klug?« Napoleon zuckte mit den Achseln. »Ich denke schon. Wieso? Was glauben Sie?«
»Ich glaube, wenn wir anfangen, die Bewohner von Pavia abzuschlachten, geben wir einen Maßstab für das Verhalten unserer Leute vor. Und sobald es sich zu den anderen Städten herumspricht, werden wir uns all jene zu Feinden machen, die uns als Befreier willkommen geheißen haben.«
»Das mag so sein«, überlegte Napoleon. »Andererseits könnte man argumentieren, dass ich langfristig betrachtet Leben rette. Wenn die Leute vom Schicksal Pavias hören, wird es fraglos jegliche Flamme der Rebellion ersticken, die in ihren Herzen brennt. Das wird außerdem das Leben unserer Männer retten, Bourrienne, und das ist es doch, worauf es ankommt, oder nicht?«
»Wenn Sie das sagen, General.«
Die Kämpfe gingen bis zum frühen Nachmittag in der ganzen Stadt weiter; schließlich stiegen Flammen und dichte Rauchwolken in den Himmel und hüllten Pavia in ein schmutziges Leichentuch. Die in den Gebäuden Getöteten wurden auf die Straßen hinausgeschleift und als Warnung für andere in großen Haufen liegen gelassen. Frauen und Kinder wurden so wenig verschont wie die Männer, und Napoleon härtete sein Herz bei dem Anblick ab, als er nach dem Ende der Kämpfe durch die Stadt schritt.
»Sie haben es sich ganz allein selbst zuzuschreiben«, murmelte er zu Bourrienne. »Wenn sie sich uns nicht widersetzt hätten, wäre von alldem nichts passiert, bei meinem Wort.«
Nachdem Napoleon seinen Inspektionsrundgang abgeschlossen hatte, wartete Oberst Lannes auf der großen Piazza auf ihn. Eine kleine Schar älterer und krank aussehender Soldaten stand in Habachtstellung hinter ihm.
»Ist das die Garnison?«, fragte Napoleon.
»Ja. Sie wurden in den letzten drei Tagen in den Zellen unter der Zitadelle festgehalten. Sie bekamen nichts zu essen und mussten in ihrem eigenen Dreck ausharren.«
»Wo ist Hauptmann Linois?«
Lannes drehte sich um und zeigte auf einen Mann mit Hängeschultern und einem schmalen Schnauzbart, der vor der Garnison stand.
»Linois!«, bellte Napoleon. »Hierher!«
»Jawohl, Monsieur.« Der Hauptmann salutierte und trabte zu ihm. Als er vor seinem General stand, rümpfte Napoleon die Nase bei dem Gestank, der dem Mann anhaftete.
»Linois, haben Sie eine Vorstellung, wie viel Schaden Sie unserer Sache zugefügt haben?«
Der Hauptmann blickte zu Boden, und Napoleon schlug ihm auf die Wange, ehe er in hartem Ton fortfuhr. »Wenn man in anderen Städten hört, dass sich eine französische Garnison dem lokalen Gesindel ergeben hat, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern – was, glauben Sie, wird man daraus folgern? Wegen Ihrer Feigheit werde ich die Mannschaftsstärke der Garnisonen verdoppeln und mit guten Kampftruppen ausstatten müssen statt mit dem Müll, den Sie befehligen. Truppen, auf die ich baue, um die Österreicher zu besiegen. Nun, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Linois?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf und sah seinen General mit Elendsmiene an. »Sie haben uns überrascht, Monsieur. Es waren Hunderte. Was hätten wir tun können?«
»Kämpfen! Das hättet ihr tun können!« Er trat vor den Hauptmann und stieß ihm den Arm in die Brust, sodass der Mann rückwärtstaumelte. »Der Teufel soll Sie holen, Linois, Sie nutzloser Hurensohn.« Napoleon merkte, dass er kurz vor einem gewaltigen Wutausbruch stand, und er zwang sich, ruhiger zu werden. Nachdem er tief Luft geholt hatte, blähte er die Nasenlöcher. »Also, was soll ich jetzt mit Ihnen anfangen, Linois?«
Linois’ Augen wurden groß. Er spürte, in welcher Gefahr er sich befand. »Monsieur, degradieren Sie mich zum einfachen Soldaten. Das ist das Mindeste, was ich verdient habe.«
»Nur zu wahr«, murmelte Napoleon verächtlich. »Dank der mir vom Direktorium und vom Kriegsministerium verliehenen Macht verurteile ich Sie zum Tode.« Er wandte sich an Lannes. »Nehmen Sie zehn Männer der Garnison und bewaffnen Sie sie. Sie werden als das Erschießungskommando für Hauptmann Linois fungieren. Er wird unverzüglich hier auf dem Platz hingerichtet.«
Linois fiel auf die Knie und streckte flehend die Hände aus. »Nein, Monsieur! Bitte verschonen Sie mich! Schicken Sie mich an die Front. Ich will sterben wie ein Soldat!«
»Dafür ist es zu spät«, erwiderte Napoleon kühl. »Sie hatten die Gelegenheit, und Sie haben bewiesen, dass Sie kein Soldat sind. Schafft ihn fort.«
Linois gab ein leises Wimmern von sich und biss sich auf die Lippe, als ihn zwei Soldaten auf die Füße zerrten und über den Platz zu den übrigen Gefangenen schleiften. Napoleon wandte sich angewidert ab und fing Bourriennes Blick auf. Sein Sekretär sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf.
»Zweifeln Sie mein Urteil an?«, fragte Napoleon leise.
»Das würde ich mir nicht anmaßen, Monsieur«, erwiderte Bourrienne.
»Gut. Vielleicht würden Sie es verstehen, wenn Sie General wären.«
»Dann danke ich Gott, dass ich kein General bin.«
Napoleon musterte ihn kurz, ehe er antwortete. »Ja, danken Sie Gott. Um Frankreichs willen, wenn aus keinem anderen Grund.«
Die Männer des Erschießungskommandos standen in Habachtstellung mit dem Gesicht zum Rathaus. Ihnen gegenüber lehnte Hauptmann Linois an der Wand, den Kopf von einem Stück Sackleinen verhüllt und die Hände auf den Rücken gefesselt. Er zitterte am ganzen Körper, und Napoleon hoffte, er würde sich die Schande ersparen zusammenzubrechen, bevor das Urteil vollstreckt war. Dann wandte er sich ab, um die drei Kompanien Grenadiere zu adressieren, die als Zeugen der Hinrichtung versammelt waren.
»Durch seine Feigheit hat dieser Mann das Leben jedes Einzelnen seiner Kameraden in der Italienarmee gefährdet. Sein Tod wird allen französischen Soldaten vor Augen führen, dass Verrat an seinen Kameraden mehr als verachtenswert ist und niemals ungesühnt bleiben wird. Sagt allen Soldaten, denen ihr begegnet, was ihr heute hier bezeugt habt, damit es keinen Zweifel gibt, welches Schicksal denen bestimmt ist, die Frankreich im Stich lassen, die ihre Kameraden im Stich lassen und ihrer Pflicht als Soldaten nicht nachkommen! Oberst Lannes, vollstrecken Sie das Urteil!«
Er trat zur Seite, während Lannes seinen Säbel zog, ihn über den Kopf hob und die Befehle brüllte.
»Erschießungskommando … anlegen! Zielen!«
Ein letztes Schluchzen Linois’ war zu hören, ein schrecklicher, tierischer Laut aus tiefer Brust, dann ließ Lannes den Säbel nach unten sausen.
»Feuer!«
Die Salve krachte los und hallte von den Wänden des Platzes wider, während die Kugeln der Musketen in Hauptmann Linois schlugen und ihn für einen Moment flach an die Wand drückten, ehe er zur Seite kippte, noch einmal zuckte und dann reglos liegen blieb. Lannes marschierte steifbeinig zu seinem Kommandeur.
»Das Urteil wurde vollstreckt. Wie lauten Ihre Befehle, Monsieur?«
Napoleon holte tief Luft, um seine Entschlusskraft zu stärken. Sein Werk in Pavia war noch nicht vollbracht. Eine letzte Aufgabe blieb zu tun. Er deutete über die Piazza auf die Gefangenen. »Hängt sie. Alle.«
Lannes’ Miene verriet kaum Überraschung, er nickte ernst und wandte sich ab, um seine Befehle auszuführen.
Die Grenadiere waren gedrückter Stimmung, als sie am späten Nachmittag aus Pavia marschierten. Napoleon wollte nicht über Nacht in der verwüsteten Stadt bleiben und beschloss, seine Leute erst in einiger Entfernung vom Schauplatz des Gemetzels ruhen zu lassen. Sie hatten mehrere Wagen beschlagnahmt, um die Verwundeten und Toten zurück zur Armee zu transportieren. Napoleon wollte verhindern, dass die Stadtbewohner die Gräber der Gefallenen schänden konnten. Sie würden ein ehrenhaftes Begräbnis durch die Armee erhalten, sobald sie Brescia erreichten.
Hinter ihnen lag Pavia unter einer Rauchwolke, still wie eine Geisterstadt. Napoleon hielt sein Pferd an und blickte auf den Schauplatz zurück, er war müde und fror. Einen Moment lang sehnte er sich nach einem anderen Leben oder wenigstens nach einer Pause von den ungeheuerlichen Taten, die er hatte vollbringen müssen. Dann wendete er sein Pferd und trabte an seinen Platz an der Spitze der Kolonne.
Sobald Napoleon im Hauptquartier der Armee im Bischofspalast von Brescia ankam, diktierte er einen Brief, der an alle Städte verteilt werden sollte, die zwischen seiner Armee und der französischen Grenze lagen. Es durfte keine Aufstände mehr geben. Wenn französische Soldaten getötet wurden, würden die nächstgelegene Stadt oder das nächstgelegene Dorf niedergebrannt und alle Männer, die man mit Waffen erwischte, erschossen werden. Bourrienne notierte seine Worte schweigend, und als er fertig war, stand er auf und verließ mit einer knappen Verbeugung den Raum. Napoleon stützte den Kopf in die Hände, starrte an die gegenüberliegende Wand und dachte an die Strafmission gegen Pavia. Die Hinrichtung von Zivilisten war keine neue Raffinesse, sondern nur ein unvermeidliches Merkmal von Kriegen. Bourriennes Abneigung gegen die Maßnahmen, zu denen sich Napoleon in Pavia gezwungen sah, war fehl am Platz, versicherte er sich.
Er hob den Kopf und zog ein frisches Blatt Papier heran. Dann öffnete er ein Tintenfass, tauchte seinen Federkiel hinein und schrieb die ersten Worte eines neuen Briefs, Worte, die er schon hundert Male geschrieben hatte und bei denen er dennoch einen leisen Kitzel verspürte, wenn er sie in seiner eigenen Handschrift auf dem Papier sah.
Liebe Josephine.
Er staunte immer noch darüber, dass sie eingewilligt hatte, seine Frau zu werden, und spürte in seinen Adern das vertraute Verlangen danach, wieder in ihren Armen zu liegen. Er hielt die Feder bereit und wartete auf die leidenschaftlichen Worte, die sich jedes Mal wie ein Sturzbach aus ihm ergossen, wenn er an Josephine schrieb. Doch heute Abend wollten sich die Worte nicht einstellen. Sein Kopf war zu müde und zu beschäftigt mit den Anforderungen als Befehlshaber der Italienarmee. Napoleon ließ die Feder einen Moment über dem Papier verharren und hätte sich liebend gern all die Sorgen von der Seele geschrieben, die ihn belasteten. Die kriminelle Vernachlässigung seiner Soldaten durch das Direktorium: zerschlissene Uniformen, durchgelaufene Stiefel und häufig leere Mägen, und noch immer standen mehrere Monate Sold aus. Dann musste er endlich die österreichische Armee zu einer Schlacht zwingen und sie vernichten, und die fortgesetzte Weigerung des Feinds, sich dem Kampf zu stellen, verdross ihn immer mehr. Außerdem bestand weiterhin die Gefahr, dass er seine Armee mit Kellermann teilen musste. Wenn Barras und die übrigen Direktoren zu ihrer Entscheidung standen, würde Napoleon dem Blick der Öffentlichkeit entzogen sein. Die Italienarmee würde fraglos die Initiative im Krieg gegen Österreich verlieren, wenn zwei Feldherrn sich bemühten, ihre getrennten, schwächeren Streitkräfte gegen einen Feind zu koordinieren, der ihnen ohnehin bereits zahlenmäßig überlegen war und demnächst frische Kräfte erwartete. Verzweifelt gern hätte er all das Josephine anvertraut, und doch wagte er es nicht. Seine Soldatensorgen würden für jemanden, der sich in den exklusivsten Kreisen von Paris bewegte, sicher banal und öde wirken. Er befürchtete, sie könnte ihn langweilig finden. Die einzigen Worte, mit denen er sie zu erfreuen wagte, waren Worte der Liebe.
Josephine.
Sie war wahrhaftig die erste Frau, die er geliebt hatte. Natürlich hatte es andere Frauen vor ihr gegeben. Solche, die sein körperliches Verlangen befriedigt hatten oder Gegenstand seiner jugendlichen Verehrung gewesen waren, als er sich wie alle jungen Männer in der Liebe einüben und seinerseits von einem Menschen geliebt werden musste, dessen Zuneigung sich nicht zwangsläufig aus familiären Banden ergab. Bei Josephine hatte er gelernt, die fleischlichen Wonnen ohne Scham oder Verlegenheit zu genießen. Deshalb war es leicht gewesen, sich der Flut von Empfindungen zu ergeben: Leidenschaft, Einsamkeit, Hoffnung, Vorfreude und bisweilen sogar Eifersucht, wenn er einen der seltenen Briefe von ihr erhielt, in denen sie auch nur die geringste Zuneigung gegenüber einem anderen Mann zum Ausdruck brachte. Und aus solchen Empfindungen entstanden mühelos Worte und wurden so schnell niedergeschrieben, wie es seine Feder erlaubte, intensiv und unverfälscht.
Doch heute Abend war er zu müde, zu ausgelaugt, und die gängigen Phrasen eines leidenschaftlichen Liebhabers erschienen ihm schal und ungenügend. Es genügte nicht mehr, seine Gefühle zu Papier zu bringen. Er brauchte Josephine hier, auf der Stelle. Napoleon tauchte seine Feder in das Tintenfass und schrieb eine knappe Mitteilung, in der er fragte, wieso er seit mehreren Tagen nichts von ihr gehört habe. Wenn sie ihn wirklich liebte, schrieb er, würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um unverzüglich zu ihm zu kommen, und nichts anderes erwarte er von ihr. Er schloss mit einem formellen Ausdruck der Zuneigung, dann faltete er das Papier, versiegelte es und warf es zu der übrigen Korrespondenz, die am Morgen nach Paris gehen würde.
Napoleon stand früh am nächsten Tag auf, um die neuesten Geheimdienstberichte zu lesen. Die Österreicher hatten eine neue Verteidigungslinie errichtet, die sich vom Gardasee nach Süden bis zur befestigten Stadt Mantua erstreckte. Wie immer lag der Schlüssel zur Vertreibung der Österreicher aus Italien in der Einnahme von Mantua, aber dazu musste die Festung vom Rest der österreichischen Armee abgeschnitten werden. Bei der morgendlichen Lagebesprechung umriss Napoleon seinen Plan.
»Wir müssen Mantua vor Ende des Jahres einnehmen. Wenn wir die Stadt haben, ist Österreich auf dieser Seite der Alpen erledigt«, begann er. »Demzufolge werden wir uns einen Übergang über den Fluss Mincio erzwingen müssen und Beaulieu nach Norden treiben, fort von Mantua, das von Serurier belagert werden wird.«
Berthier zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Haben Sie Einwände gegen meinen Plan, Berthier?«, fragte Napoleon knapp.
»Nein, General, er klingt vernünftig, vorausgesetzt, es gelingt uns, über den Fluss zu kommen. Wo beabsichtigen Sie, ihn zu überqueren?«
»Bei Valeggio.«
»Aber das ist in der Mitte von Beaulieus Linie. Er wird uns von beiden Flanken attackieren können, selbst wenn es uns gelingt, einen Übergang zu erzwingen.«
»Deshalb müssen wir seine Verteidigungslinie bis aufs Äußerste auseinanderziehen.« Napoleon lächelte. »Augereau wird seine Division zum Westufer des Gardasees hinaufführen. Er wird es unter großem Getöse tun, sodass Beaulieu genau über seine Bewegungen Bescheid weiß. Beaulieu wird die Gefahr für seine Nachschublinien erkennen und gezwungen sein, sein Gewicht weiter nach Norden zu verschieben, um ihr zu begegnen. Sobald er das tut, überqueren wir den Fluss.«
»Und wenn er nicht anbeißt?«, fragte Berthier.
»Dann marschiert Augereaus Division nach Osten und schneidet Beaulieus Nachschubwege ab. So oder so muss er reagieren und Truppen auf seine rechte Flanke verlagern. Dann überqueren wir den Mincio.«
»Damit bleibt immer noch Mantua«, stellte Junot fest. »Die Armee führt keine Artillerie für eine Belagerung mit sich. Das heißt, wir werden sie aushungern müssen.«
»Höchstwahrscheinlich«, räumte Napoleon ein. »Aber wenn uns das Direktorium keine Belagerungsgeschütze zur Verfügung stellt, müssen wir sie uns anderswo besorgen. Meines Wissens verfügt die Armee des Kirchenstaates über mehr als ausreichend schwere Geschütze. Ich bin überzeugt, seine Heiligkeit wird sich gern von ihnen trennen und uns im Tausch gegen Frieden mit Frankreich anständig ausrüsten.«
»Erpressung«, murmelte Berthier. »Wie können wir sicher sein, dass es funktioniert? Was, wenn der Papst beschließt, in den Krieg zu ziehen? Und wenn sich der König von Neapel auf seine Seite schlägt, dann sind wir zwischen ihnen und den Österreichern eingeklemmt. Keine angenehme Lage, Monsieur.«
»Nicht gefährlicher, als zwischen einem alten Mann und einem Schwächling eingeklemmt zu sein«, erwiderte Napoleon. »Verlassen Sie sich darauf, der Papst ist Realist. Auch mit Gott auf seiner Seite weiß er, dass der Sieg im Allgemeinen an die größeren Bataillone geht. Er wird uns geben, was wir wollen.«
»Und wenn er es nicht tut?«
»Dann sei Gott ihm gnädig, denn ich werde es nicht sein.«
Nachdem die Italienarmee zwischen der österreichischen Armee und der Festung Mantua Stellung bezogen hatte, wandte Napoleon im beginnenden italienischen Sommer Letzterer seine Aufmerksamkeit zu. Während die Franzosen die Festung einschlossen, beobachteten Napoleon und sein Stab den Fortgang der Belagerung vom Wachturm auf dem Landsitz eines venezianischen Bankiers. Es war ein schwüler Tag, und nachdem sie die enge Treppe hinaufgestiegen waren, schwitzten sie unter ihren Uniformen. Von der Brustwehr des Turms konnten sie die äußeren Wehranlagen Mantuas sehen und mit ihren Fernrohren untersuchen. Napoleon beobachtete, wie die französische Vorhut an einem der Dämme entlangmarschierte, die strahlenförmig von der Stadt weggingen. Mantua war in der Mitte von drei Seen auf seiner Nordseite errichtet worden und wurde im Süden durch ausgedehntes Sumpfland geschützt. Die fünf Dämme waren die einzige Zugangsmöglichkeit zur Stadt und wurden von mächtigen Bastionen geschützt. Hinter ihren Gräben und Wällen beherrschten Hunderte von Kanonen die Straßen, die auf den Dämmen entlangführten.
Napoleon ließ sein Fernrohr sinken.
»Keine leichte Aufgabe, denke ich.« Er drehte sich um, sein Blick suchte General Serurier. »Und diese Aufgabe wird Ihnen zufallen, Serurier. Es ist unmöglich, die Stadt durch einen direkten Angriff zu nehmen, solange die Wehranlagen nicht zusammengeschossen wurden. Und das kann erst geschehen, wenn wir schwere Artillerie zur Verfügung haben. Ihre Befehle lauten, die Österreicher einzuschließen, weiter nichts. Zumindest bis ich Ihnen Verstärkung liefern kann. Haben Sie verstanden?«
Serurier nickte. »Ja, General. Wann kann ich wohl damit rechnen, die Geschütze und die Männer zu erhalten?«
»Jetzt, da wir uns mit dem Papst verständigt haben, müssten sie jeden Tag losgeschickt werden.«
Napoleon lächelte bei dem Gedanken. Saliceti, sein Kommissar, hatte die Verhandlungen ausgezeichnet geführt. Alle politischen Gefangenen, von denen viele mit der Französischen Republik sympathisierten, waren freizulassen. Die Häfen des Kirchenstaats mussten für die Feinde Frankreichs geschlossen werden, und der Papst war dazu überredet worden, Frankreich eine Abfindung von fünfzehn Millionen Francs in bar und weiteren fünf Millionen Francs in Ausrüstung anzubieten. Wenn die Nachricht von diesen Bedingungen Paris erreichte, würden die Direktoren ihre tollkühne Idee, das Kommando über die Italienarmee aufzuteilen, sicher fallen lassen, dachte Napoleon zynisch. Geld war ein beredterer und einflussreicherer Anwalt seiner Sache als jedes Argument, das er selbst vorbringen konnte.
Bedeutsamer für den Augenblick war, dass ihnen die päpstlichen Armeen genügend schwere Geschütze überlassen hatten, damit sie die Wehranlagen Mantuas dem Erdboden gleichmachen konnten. Junot befand sich in diesem Augenblick in Rom, um den Transport der Kanonen nach Mantua zu organisieren. Waren sie erst einmal aufgestellt, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die französische Armee Zugang zur Stadt verschaffte oder die österreichische Garnison ausgehungert war und kapitulieren musste.
»Serurier, Sie kennen Ihre Befehle. Bringen Sie Ihre Linien sorgfältig in Stellung. Lassen Sie niemanden in die Stadt hinein oder aus ihr heraus.«
»Ja, Monsieur.«
»Meine Herren, wenn Mantua fällt, werden wir unsere gesamte Kraft gegen die Österreicher werfen und sie über die Alpen zurücktreiben. Sie dürfen das an jeden Offizier und jeden Mann in der Armee weitergeben. Sagen Sie ihnen, ihr General gibt ihnen sein Wort, dass sie für all ihre Anstrengungen belohnt werden, noch ehe das Jahr um ist.«
Der Stab begann sich zu zerstreuen, einige beobachteten weiter die Wehranlagen, während andere sich der Treppe zuwandten, wo sie einem Sergeanten begegneten, der die Stufen gerade heraufgestiegen war und ehrerbietig zur Seite trat, als sich die Offiziere an ihm vorbeiquetschten. Dann ging er schwer atmend zu Napoleon.
»Eine Nachricht für Sie, General. Aus Mailand.«
Napoleon nahm den Brief und brach das Siegel auf. General Despinois unterrichtete den Befehlshaber der Italienarmee erfreut davon, dass die österreichische Garnison in der Zitadelle endlich kapituliert hatte. Französische Soldaten hatten nun die Kanonen in ihrer Gewalt, die Mailand beherrschten. Weitere Aufstände der Mailänder waren damit ausgeschlossen. Napoleon nickte zufrieden, ehe sein Blick auf den letzten, kurzen Absatz fiel.
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Gemahlin mit Kindern und Gefolge am Tag vor der Kapitulation in Mailand eingetroffen ist. Eine schöne Unterkunft wurde für sie gefunden, und Madame Bonaparte bittet mich, Ihnen auszurichten, es wird ihr das Herz brechen, wenn Sie nicht unverzüglich zu ihr nach Mailand kommen.
Napoleon las die Worte ein ums andere Mal, und jedes Mal war ihm, als würde eine Last von seinen Schultern genommen. Schließlich ließ er den Brief sinken und sah Berthier mit glänzenden Augen an.
»Lassen Sie mein Pferd und eine Eskorte fertigmachen. Ich reite auf der Stelle nach Mailand!«
Sie bog den Rücken durch und stieß gegen ihn, während Napoleon stöhnte und sein ganzer Körper beim Höhepunkt erschauderte. Er presste sich an sie und hielt sich fest, bis der Moment vorbei war. Dann sank er seufzend vornüber auf Josephine, sein Herz hämmerte, sein Atem ging schnell und keuchend von seinen Anstrengungen. Sie legte den Arm zärtlich um seine Schulter und küsste ihn auf die Stirn.
»War es das Warten wert?«, flüsterte sie und drückte ihn sanft.
»Was?«, murmelte er schläfrig, noch immer durchströmt von der warmen Wonne ihres Liebesspiels. »Was hast du gesagt?«
»Ob sich das Warten gelohnt hat? Nach all den Briefen, die du mir geschrieben hast, ganz der leidenschaftliche Ehemann – auf dem Papier … Ich habe mich nur gefragt, ob du genauso empfindest, wenn wir leibhaftig zusammen sind.«
Napoleon stützte sich auf einen Ellbogen und sah grinsend auf sie hinab. »Was glaubst du denn? Es hat nicht einen Tag gegeben, an dem ich mir diesen Augenblick nicht vorgestellt habe. Dass wir wieder zusammen sind, dass wir uns lieben, so wie eben. Ich fühle mich wieder ganz.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Josephine, du bedeutest mir alles auf der Welt. Es gibt niemand anderen, der mich so bewegt wie du. Ich liebe jeden Zoll an dir.« Er wölbte die Hand um ihre Brust, saugte an ihrer Brustwarze und genoss deren knospenartige Härte an seinen Lippen.
»Ach, das sagst du bestimmt zu all deinen Frauen.«
Er wälzte sich von ihr und runzelte die Stirn. »Es gibt keine anderen Frauen. Ich schwöre es bei meinem Leben.«
»Natürlich nicht.« Sie legte die Hand an seine Wange und küsste ihn rasch. »Aber ich würde es dir nicht wirklich verübeln, wenn es sie gäbe. Nach allem, was ich von Soldaten weiß, gehört es zu eurem Lebensstil. Eine Frau zu Hause und alle möglichen Eroberungen, wenn ihr auf dem Feldzug seid. Und dein Feldzug ist so erfolgreich, mein Liebling. Ganz Paris feiert dich.«
Napoleon ging nicht auf die Schmeichelei ein. »Ich schwöre dir, es gibt keine andere.«
»Wenn du das sagst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich meine nur, es würde mich nicht stören, was das hier betrifft.« Sie langte nach unten und zwickte ihn sachte in den Penis. »Solange mir dein Herz gehört.«
»Mein Herz, mein Körper und meine Seele …«, flüsterte Napoleon, und dann stieg ein finsterer Gedanke in ihm auf, und er wurde von Unsicherheit und Angst gepackt. »Und warst du mir denn treu, Josephine?«
Es gab eine kurze Pause, bevor sie antwortete. »Natürlich. Wofür hältst du mich? Für eine eurer billigen Armeeschlampen?«
»Sei ernsthaft. Sag mir die Wahrheit.«
»Ich sage die Wahrheit.«
»Schwöre es bei deinem Leben.«
»Ich werde nicht schwören, Napoleon. Entweder du vertraust mir, oder du vertraust mir nicht. Was würde es ändern, wenn ich bei meinem Leben schwören würde? Ich sage dir, ich bin treu. Das sollte dir genügen, wenn du mich wirklich liebst, wie du behauptest.«
Napoleon sah sie noch einen Moment lang an und forschte in ihren Augen nach der kleinsten Spur von Verrat, dann drehte er sich auf den Rücken und schloss die Augen.
»Wenn ich denken würde, dass du mir untreu bist, Josephine, würde es mir das Herz brechen. Ich könnte nicht weiterleben. Ich könnte nicht mit dem Wissen leben, dass ein anderer Mann bei dir gelegen ist, so wie ich jetzt. Dass ein anderer Mann dich …« Er konnte es nicht aussprechen. Beim bloßen Gedanken daran zog sich sein Magen zusammen. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln, indem er sich zwang, an etwas anderes zu denken.
»Warum bist du so lange in Paris geblieben? Hatten wir nicht vereinbart, dass du mir so schnell wie möglich folgst?«
»Ich bin so schnell zu dir gekommen, wie ich konnte«, erwiderte Josephine ruhig. »Aber ich musste erst meine Reisetruhen ordnen und dafür sorgen, dass das Haus gut auf unsere Rückkehr vorbereitet ist. Dann war ich einige Wochen krank. Zumindest zu krank, um reisen zu können.« Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie. »Ich hatte gehofft, ich würde ein Kind in mir tragen, aber es war nicht so. Es war nur eine Erkältung. Aber eines Tages werden wir hoffentlich gesegnet sein, auch wenn ich nicht mehr ewig im gebärfähigen Alter sein werde. Außerdem«, fuhr sie in leichterem Ton fort, »wäre ich sicher eine unerwünschte Ablenkung für den einzigen General gewesen, der für Frankreich Schlachten gewinnt, wie es scheint.«
»Eine Ablenkung, ja. Aber keine unerwünschte.«
»Gleichwohl eine Ablenkung.« Sie lachte. »Wahrscheinlich würde es mir Frankreich nie verzeihen, wenn du dich meinetwegen weniger darauf konzentrieren würdest, die Österreicher zu schlagen. Und verzeih mir, wenn ich das sage, aber ich bin an militärischen Dingen nicht so furchtbar interessiert. Ich fühle mich nur in der feinen Gesellschaft wirklich zu Hause und würde lieber diese Welt mit dir teilen als ein bescheidenes Feldlager und die raue Gesellschaft deiner Soldaten.«
»Das ist wohl schwerlich ein bescheidenes Feldlager hier.« Napoleons Handbewegung schloss das ganze Schlafgemach in einem der vornehmsten Häuser Mailands ein. Es war weit größer und eleganter als das gemeinsame Schlafzimmer, das sie in der kurzen Zeit zwischen ihrer Eheschließung und seiner Abreise zur Italienarmee bezogen hatten. »Ich kann dich hier in Italien weitaus komfortabler unterbringen als in Paris. Es wird dir an nichts fehlen.«
»Abgesehen von meinen Freunden.«
»Ich bin überzeugt, du wirst hier neue Freunde finden«, sagte Napoleon ruhig. »Außerdem, ziehst du die Gesellschaft deiner Freunde etwa der Gesellschaft deines Ehemanns vor?«
»Natürlich nicht! Aber du kannst nicht erwarten, dass ich mein Zuhause, meine Freunde, alles, was lange, bevor du aufgetaucht bist, zu meinem Leben gehörte, so einfach aufgebe. Tatsächlich habe ich einige meiner Freunde mitgebracht. Und Hortense und Eugène. Ich hoffe, du wirst versuchen, ein guter Vater für sie zu werden. Sie brauchen einen.«
»Ich werde tun, was ich kann.« Napoleon gähnte, seine Müdigkeit legte sich wie eine weiche, warme Decke über ihn. »Für Eugène werde ich einen Posten in meinem Stab finden. Und was deine Freunde betrifft, so werde ich dafür sorgen, dass sie sich wie zu Hause fühlen. Wir können für die Dauer des Feldzugs gegen Österreich unser eigenes gesellschaftliches Leben hier in Italien aufbauen. Man wird dich wie eine Prinzessin behandeln, das verspreche ich. Und ich werde meine Familie zu uns holen. Meine Mutter, meine Schwestern und Brüder.« Er lächelte versonnen. »Um alle, die ich liebe, um mich zu haben. Das habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt. Seit ich nach Frankreich auf die Schule geschickt wurde.«
Josephine regte sich neben ihm, und er spürte, wie sie leicht erstarrte.
»Was ist los, meine Liebe?«
Nach kurzem Zögern erwiderte Josephine: »Deine Familie, das ist los. Sie haben keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen mich gemacht, vor allem deine Mutter und deine Schwestern. Mir scheint, sie halten mich nicht für würdig, deine Frau zu sein. Als wäre ich nur eine gewöhnliche Schlampe.«
»Das ist ihr korsisches Blut. Sie neigen zu der Ansicht, dass der Rest der Welt unter ihnen steht.«
»Und du nicht?«
»Meine Zukunft ist mit der Zukunft Frankreichs verknüpft. Paoli und seine Handlanger haben uns aus Korsika hinausgeworfen. Ich schulde Korsika nichts. Aber meine Familie fühlt sich immer noch so, als würden sie zu der Insel gehören, vor allem die Frauen und am allerstärksten Mutter. Du musst versuchen, sie nicht zu beachten, Josephine. Alles, was zählt, sind meine Gefühle für dich. Du hast mich geheiratet, nicht sie.«
»Ich habe in deine Familie geheiratet«, entgegnete Josephine. »So sehen sie es, und dafür behandeln sie mich wie einen Eindringling oder einen Wilderer.«
»Wilderer?«, sagte Napoleon schläfrig. »Dann muss ich dein Wild sein.«
»Ach, du!« Sie gab ihm einen spielerischen Klaps, dann drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund und bettete ihren Kopf an seine Schulter, während er einschlief.
Josephines Entourage war genauso, wie Napoleon es befürchtet hatte. Eine Schar grell gekleideter Frauen, alle mit großem Mundwerk und nichts zu sagen, was auch nur annähernd von Belang war. Sie erwiesen sich als unerwünschte Ablenkung für seine Stabsoffiziere und Generäle, die alle möglichen Vorwände für einen Besuch im Hauptquartier fanden und noch lange blieben, nachdem die Einweisungen und Lagebesprechungen vorbei waren. Zusätzlich zu ihrem weiblichen Hofstaat war eine Reihe junger Männer mit Josephine nach Mailand gereist. Manche waren in offizieller Funktion gekommen. Kunstspezialisten, die geschickt wurden, um die schönsten Kunstwerke auszuwählen, die nach den Bedingungen einiger von Frankreich erzwungener Verträge nach Paris geschafft werden sollten. Wissenschaftler und Topografen, die verschiedene Aufsätze und Karten aus den renommiertesten italienischen Akademien auswählen sollten. Und eine Handvoll Offiziere in funkelnden Uniformen, die nie auch nur in der Nähe eines Schlachtfelds gewesen waren – oder eines anderen Felds, dachte Napoleon. Einer stach ihm besonders ins Auge, ein großer blonder Husarenleutnant, der Josephine überallhin zu folgen schien und ihren Mops Fortuné unter dem Arm trug.
»Wer ist er?« Napoleon wies mit einem Kopfnicken auf den Husaren, als sie mit einer kleinen Schar Gäste durch die Ziergärten der Villa spazierten, die er sich als Quartier ausgesucht hatte.
Josephine sah in die Richtung, die ihr Mann anzeigte, und lächelte. »Das ist Hippolyte Charles. Sehr elegant, findest du nicht? Ein hübscher Fang für meinen Salon in Paris. Die Damen beten ihn an.«
»Wieso ist er nicht im aktiven Dienst?«
»Nach allem, was man hört, ist er als Kavallerieoffizier unbrauchbar – auch wenn er anderweitig einen prächtigen Hengst abgibt, wie es heißt. Jedenfalls verfügt er über privates Vermögen, hat kaum Pflichten und würde gern sehen, wie gut sich mein Mann und seine Armee schlagen. Deshalb habe ich ihn eingeladen. Du hast doch nichts dagegen? Er kümmert sich hingebungsvoll um meinen Hund.«
»Nein, natürlich nicht, meine Liebe«, erwiderte Napoleon gleichmütig, obwohl er sich bessere Einsatzmöglichkeiten für einen Kavallerieoffizier denken konnte als die Aufsicht über einen Schoßhund. Andererseits konnte er froh über jeden sein, der ihm diesen elenden Mops vom Leib hielt, dachte er und erinnerte sich an einen schmerzhaften Biss von Fortuné, als sich das kleine Biest einmal geweigert hatte, seinen Platz auf Josephines Bett an ihn abzutreten. Napoleon runzelte die Stirn bei der Erinnerung. »Soll ich ihn in meinem Stab unterbringen?«
Josephine zuckte mit den Achseln. »Wenn du möchtest. Aber ich warne dich. Wo andere einen Verstand haben, ist bei dem Mann nur Luft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir irgendetwas nützt.«
»Vielleicht nicht, aber wenn es dich freuen würde?«
»Du bist sehr gütig.« Josephine lächelte. »Aber ich glaube, ein Mann mit seinen verstandesmäßigen Anlagen ist am besten als mein Hundepfleger aufgehoben.«
Napoleon lachte. »Also gut. Ich kann mir keinen Mann denken, dem ich Fortuné eher gönnen würde.«
Josephine schlug ihm leicht mit dem Fächer an die Schulter. »Was hast du gegen meinen kleinen Liebling?«
Napoleon sah den Mops an, der prompt die Zähne fletschte. »Sagen wir einfach, mir sind bellende Hunde lieber als solche, die beißen.«
Die Zeit, die Napoleon für Josephine erübrigen konnte, war ihm kostbar wie ein Schatz, vor allem, da die Österreicher entschlossen waren, für die Festung Mantua Entsatz zu leisten. Gegen Ende Juli wurde von Tirol aus eine neue Offensive unter dem altgedienten Veteran Feldmarschall Wurmser gestartet. Napoleon wurde frühmorgens aus dem Ehebett geholt und kam für mehrere Tage kaum aus dem Sattel, da die französische Armee von dem in drei Kolonnen vorrückenden Feind zurückgetrieben wurde. Für seine Männer, die so sehr daran gewöhnt waren, vorzurücken, war es ein neuartiges und entmutigendes Erlebnis, in die Defensive gedrängt zu werden. Die Lage war so gefährlich, dass sich Napoleon gezwungen sah, General Serurier von Mantua abzuziehen, mit dem Befehl, alle Belagerungsgeschütze zu vernageln, die eben erst mühsam zur Beschießung der Festung in Position gebracht worden waren. Napoleon konzentrierte sodann seine gesamten Kräfte nacheinander auf jeweils eine Kolonne und besiegte sie alle. Die Rückzugsrouten der Österreicher waren übersät von Leichen, aufgegebenen Kanonen und Wagen. Musketen und andere Ausrüstung waren auf der Flucht weggeworfen worden, und alles, was blieb, waren die Nachzügler und Verwundeten, die inmitten der Trümmer ihrer einst stolzen Armee saßen und auf ihre Gefangennahme warteten.
Doch bevor er sich mit seiner geschlagenen Armee zurückzog, war es Wurmser noch gelungen, Verstärkung und Nachschub nach Mantua zu schaffen, und nun würde die Festung zu Napoleons gewaltigem Verdruss einige weitere Monate durchhalten können. Seruriers Männer, die die Belagerung wiederaufnahmen, begannen rasch, den ungesunden Bedingungen in der Sumpflandschaft um die Stadt zu erliegen, und bis August befanden sich mehr als fünfzehntausend seiner Männer im Krankenstand. Jedes größere Gebäude in der Umgebung Mantuas war voller leidender Soldaten, die von Hunger und Fieber gepeinigt wurden, während draußen die Reihen der Gräber täglich länger wurden. An einen Angriff auf die Festung war nicht zu denken. Bestenfalls konnten sie die Garnison einschließen und hoffen, sie irgendwann auszuhungern.
»Das ist nicht zu fassen!«, tobte er eines Abends im August gegenüber Berthier, als er die neuesten Mitteilungen seiner Herren in Paris las. »Sie mögen den absurden Plan, die Armee zu teilen, ja aufgegeben haben, aber wie sollen wir die Österreicher schlagen, wenn uns das Direktorium keine Verstärkung gewährt? Und jetzt sollen wir anscheinend auch noch Neapel angreifen. Womit denn?« Er schleuderte den Brief mit verächtlicher Miene beiseite. »Ich habe kaum genug Männer, um die Front gegen Wurmser zu halten. Glauben die, ich könne Soldaten aus dem Nichts zaubern?«
Berthier wartete einen Moment, bis sich sein General beruhigt hatte, dann sagte er leise: »Sie müssen ihnen schreiben, Monsieur.«
»Noch einen Brief?« Napoleon schüttelte den Kopf. »Wozu soll das gut sein?«
»Wir müssen es weiter versuchen, Monsieur. Schreiben Sie ihnen, sie müssen Frieden mit dem Königreich Neapel schließen. Das ist der Preis, den wir für einen Sieg über Österreich zahlen. Sobald Wurmser geschlagen ist, werden wir genügend Zeit haben, uns gegen Neapel zu wenden. Aber wenn wir jetzt an zwei Fronten kämpfen, werden wir mit Sicherheit besiegt.«
Napoleon stieß den Finger auf den weggeworfenen Brief. »Glauben Sie etwa, die wissen das nicht? Noch schlimmer ist, dass sie offenbar entschlossen sind, den Waffenstillstand mit Rom zu brechen. Unsere Agenten erzählen mir bereits von Verhandlungen des Papstes mit Neapel und Venedig, um eine Koalition gegen uns zu schmieden. Ich sage Ihnen, Berthier, es ist fast, als wollte das Direktorium mit aller Macht sabotieren, was ich hier in Italien erreicht habe.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie ihnen unterstellen, Sie zu unterwandern«, sagte Berthier ruhig.
»Unterwandern?« Napoleon lachte. »Wohl kaum. Sie üben Verrat an mir. An mir und jedem einzelnen Soldaten der Italienarmee. Und warum tun sie es? Denken sie, ich habe es auf ihre Macht abgesehen? Welchen Grund habe ich ihnen gegeben, das zu vermuten?« Er stand auf und ging ans Fenster, um auf den Garten hinauszublicken. Dort saß Josephine mit ihrem Gefolge, sie lauschten einem Streichquartett. Wie üblich war Hippolyte Charles an ihrer Seite, in seinem Schoß lag zusammengerollt Fortuné. Napoleon runzelte die Stirn. Er wäre Josephine ebenfalls gern so nahe gewesen, doch die Anforderungen seines Kommandopostens schienen seine gesamte Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Müde wandte er sich wieder seinem Stabschef zu.
»Ich schreibe Barras. Ich erkläre ihm, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Armee unter dem Ansturm der Österreicher und der päpstlichen Verbündeten zusammenbricht, wenn wir in Italien keinen Frieden schließen. Wir brauchen Zeit, damit sich unsere Leute ausruhen können. Zeit, bis sich diejenigen, die krank sind, wieder erholt haben. Wenn sich das Direktorium weigert, Friedensverhandlungen aufzunehmen, werde ich als Oberbefehlshaber der Italienarmee zurücktreten.«
»Zurücktreten?« Berthier schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie nicht, Monsieur. Ohne Sie würde die Armee noch im Piemont verkümmern. Sie müssen die Direktoren überzeugen, sich mit unseren Feinden ins Vernehmen zu setzen.«
»Wir beide wissen das«, antwortete Napoleon in bitterem Ton. »Aber wir machen nicht die Politik. Das ist die Aufgabe von Männern, die weit entfernt von den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben. Genau das bedeutet es, Politiker zu sein. Manchmal frage ich mich, ob es sich eine im Krieg befindliche Nation leisten kann, von Politikern regiert zu werden.« Er lächelte sofort. »Nicht sehr klug von einem Soldaten, einen solchen Gedanken laut auszusprechen, was, Berthier?«
»Das mag ein, aber es ist ein Gedanke, der den meisten Soldaten irgendwann einmal in den Sinn kommt.«
»Dann ist es nur gut, dass unsere österreichischen und italienischen Freunde uns auf Trab halten.« Er bedeutete Berthier, an dem kleinen Schreibtisch in der Ecke Platz zu nehmen. »Ich werde zwei Briefe verschicken. Einen an Paris, einen an Wurmser.«
»General Wurmser?«
Napoleon nickte. »Wenn wir uns nicht auf unsere eigene Regierung stützen können, was einen Friedensschluss angeht, dann wollen wir doch sehen, ob wir den Feind dazu bringen, Vernunft anzunehmen. Ich frage ihn nach den Bedingungen für die Kapitulation von Mantua und einen Waffenstillstand.«
»Glauben Sie wirklich, sie werden darauf eingehen, Monsieur?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann nichts weiter tun, als es ihnen vorschlagen, während wir auf eine Antwort aus Paris warten. Wir müssen einfach abwarten, ob jemand zur Vernunft kommt.«
Von den Österreichern kam keine Antwort, und Napoleon verstand, was der Grund dafür war. Auch wenn sie beim jüngsten Feldzug geschlagen worden waren, konnten sie für den nächsten Versuch auf neue Kräfte zurückgreifen. Gleichzeitig begannen ihre diplomatischen Bemühungen mit jenen italienischen Staaten, die Frankreich feindlich gesinnt waren, Früchte zu tragen. Der König von Neapel marschierte an der Spitze seiner Armee nach Norden, um sich Wurmser anzuschließen. Napoleon schickte sofort eine Nachricht an den König, in der er ihn warnte, Neapel werde dasselbe Schicksal wie Pavia erleiden, falls er weiter als bis Rom nach Norden vorrücke, und für eine Weile hielten zumindest die Neapolitaner still; fraglos warteten sie ab, wie es den Franzosen gegen die österreichische Armee ergehen würde, die sich bereits wieder auf einen neuen Angriff vorbereitete. Vom Direktorium kamen nur aufmunternde Worte und die flehentliche Bitte an Napoleon, das Kommando über die Armee nicht niederzulegen.
Aufmunterungen gewinnen keine Schlachten, schäumte er und schickte einen weiteren Brief auf den Weg, in dem er dem Direktorium versprach, noch mehr Geld aus den Italienern zu pressen, wenn man ihm dreißigtausend Mann schickte. Andernfalls würde er vielleicht nicht in der Lage sein, die nächste österreichische Armee zu schlagen, die gegen ihn in den Kampf geschickt wurde. Ende Oktober kam dann die Nachricht, vor der er sich gefürchtet hatte. Ein neuer österreichischer Oberbefehlshaber war ernannt worden, General Alvinczy, und er war bereits bis zum Piave vorgerückt. Während Napoleon seine Männer sammelte, um den neuesten Angriff zu kontern, brachen die Österreicher bei Corona in die erste Verteidigungslinie ein und zwangen Masséna, sich zurückzuziehen. Der Winter setzte früh mit kaltem Regen und bitteren Winden ein, und die französischen Truppen mussten, von der österreichischen Vorhut bedrängt, weiter Gelände preisgeben.
Beinahe zwei zu eins in der Unterzahl sah Napoleon im November endlich eine kleine Chance, die Initiative zurückzugewinnen.
»Der Feind glaubt, er hat uns geschlagen«, sagte er in seinem Hauptquartierszelt zu seinen Kommandeuren. Über ihm trommelte der Regen gleichmäßig auf das Zeltleinen und zwang ihn, die Stimme zu heben, damit ihn alle hörten und es zu keinen Missverständnissen kam. »Also werden wir ihnen eine Freude bereiten. Wir werden uns morgen weiter in Richtung Verona zurückziehen. Sobald es Nacht wird, marschieren wir zurück, um ihre Vorauseinheiten herum, und fallen ihnen bei Villanova in den Rücken. Wenn wir ihren Tross und ihren Nachschub vernichten können, wird Alvinczy seinen Angriff auf Verona abbrechen müssen. Ich werde Massénas und Augereaus Divisionen nehmen. Masséna wird die Etsch bei Ronco überqueren und dann nach Norden marschieren, um die Flanke des Feinds anzugreifen. In der Zwischenzeit wird der Hauptangriff durch Augereaus Division erfolgen.«
»Wo werde ich den Fluss überqueren?«, fragte Augereau.
Napoleon drehte sich zu dem Kartenhalter am Kopfende des Tischs um und fuhr mit dem Zeigefinger den Flussverlauf hinab, bis er zu einer Brücke über den Alpone kam, einem Nebenfluss der Etsch.
»Hier, bei Arcole.« Napoleon wandte sich an Augereau. »Wir müssen den Übergang sichern, sonst besteht keine Möglichkeit, die Österreicher zu überraschen. Arcole ist der Schlüssel. Wenn wir die bevorstehende Schlacht gewinnen, meine Herren, beenden wir den Feldzug siegreich. Wenn wir verlieren, dann wird die Italienarmee vernichtet und zerstreut werden, und unsere Leute werden der Gnade eines jeden italienischen Bauern ausgeliefert sein, der noch eine Rechnung offenhat. Alles hängt von dieser Schlacht ab.« Er wandte sich wieder der Karte zu. »Alles hängt vom Übergang bei Arcole ab.«