62

Napoleon

Paris, Juli 1800

Ich habe ihnen einen großen Sieg geschenkt!« Napoleon schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Was wollen sie noch von mir?«

Der Erste Konsul und seine engsten Berater waren soeben von den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sturms auf die Bastille ins Palais Luxembourg zurückgekehrt. Es hatte die üblichen Paraden von Einheiten der Nationalgarde gegeben, einige Ansprachen zur Erinnerung an die Märtyrer der Revolution und dann den Einmarsch Hunderter Veteranen von Marengo in die Arena. Lucien hatte den Augenblick sorgfältig geplant. Die Männer trugen zerschlissene Uniformen, manche waren bandagiert, und sie führten die Fahnen des österreichischen Regiments mit sich, das sich nach Desaix’ heroischem Gegenangriff ergeben hatte. Als die Soldaten erschienen, spielte die Kapelle ein eigens komponiertes, erhebendes Musikstück, und die Zehntausende von Parisern, die gekommen waren, um das Schauspiel zu verfolgen, hätten eigentlich in wilden, patriotischen Jubel ausbrechen sollen. Stattdessen hatten sie eisern geschwiegen, und die Schlussfanfare tönte flach und falsch, als sie verklang. Napoleon hatte auf der Kutschenfahrt zurück zum Palast seine Wut kaum beherrschen können, und hier, in seinen privaten Gemächern, hatte er sich endlich Luft verschafft. Lucien, Talleyrand und Fouché hatten während seiner Tirade still dagesessen und warteten nun den Moment ab, in dem sie sicher sein konnten, dass sich der Sturm gelegt hatte, ehe sie das Wort zu ergreifen wagten.

Lucien bemühte sich um eine ruhige Stimme, als er schließlich antwortete. »Siege sind schön und gut, Bruder, aber die Leute wünschen sich Frieden.«

»Frieden?« Napoleon legte eine Hand auf sein Herz. »Verstehen sie denn nicht, dass ich ebenfalls Frieden will? Kein Mann in Frankreich sehnt sich mehr nach Frieden, als ich es tue. Aber wir können nur Frieden haben, wenn unsere Feinde besiegt sind. Im Augenblick werden sie nicht weniger akzeptieren als die Wiederherstellung der Bourbonen-Herrschaft und die Zerstörung aller Errungenschaften der Revolution.«

Talleyrand hüstelte, und Napoleon fuhr ihn zynisch lächelnd an. »Sind Sie krank oder haben Sie vielleicht etwas zu sagen?«

»Bürger Konsul, ich bin lediglich wegen der Vorstellung besorgt, wir könnten Frieden nur dann haben, wenn unsere Feinde besiegt sind.«

»Tatsächlich? Ich hätte gedacht, das versteht sich von allein.«

»Es gibt noch einen anderen Weg. Wir müssen einen Frieden aushandeln.«

Napoleon seufzte müde. »Das ist genau das, was wir versuchen. Selbst wenn ihre Armeen besiegt sind und ein Waffenstillstand vereinbart wurde, verzögern die Österreicher bei jeder Gelegenheit Schritte, die zu einem Friedensvertrag führen könnten.«

»Sie werden mit der Zeit zur Vernunft kommen«, sagte Talleyrand.

»Wenn sie die Aussicht auf englisches Gold nicht vorher wieder zum Krieg verleitet.«

»Genau«, konterte Talleyrand. »England ist das Problem. Solange wir mit England im Krieg liegen, gibt es für Frankreich keine Aussicht auf Frieden. Wir müssen mit England verhandeln.«

»Oh, das werden wir.« Napoleon nickte. »Und zwar in dem Moment, in dem wir mit einer Armee an ihrer Küste landen. Wir werden ihnen die Bedingungen für einen Frieden in ihrem eigenen Parlament diktieren.«

»Sie missverstehen mich, Bürger Konsul. Ich meinte, wir müssen im Sinne eines Friedensschlusses mit England verhandeln.«

»Ach so.« Napoleon blickte enttäuscht drein. »Aber solange Pitt Premierminister ist, besteht keine Aussicht auf Frieden. Dieser Mann hat die Zerstörung unserer Revolution zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er verweigert uns Frieden, und er ist bereit, sein Land zu ruinieren, um andere Länder zu bestechen, damit sie sich uns widersetzen.«

»Das ist richtig«, räumte Talleyrand ein. »Dann müssen wir eben warten, bis er abgelöst wird, und wenn wir schlau vorgehen, könnte das früher geschehen, als Sie vielleicht denken.«

Napoleon kniff die Augen zusammen. »Erklären Sie sich.«

»Englands Stärke beruht auf seinem Handel. Es braucht Kunden für seine Waren, deshalb müssen wir Englands Handel attackieren und es so zu Verhandlungen zwingen.«

»Und wie?«, fragte Lucien. »Sie kennen den Zustand unserer Marine. Der größte Teil unserer Flotte ist außer Dienst gestellt, die besten Offiziere sind während der Revolution geflohen, und Mann für Mann, Schiff für Schiff sind sie der Royal Navy nicht gewachsen.« Er warf Napoleon einen Blick zu. »Was in der Bucht von Abukir sehr deutlich wurde.«

»Danke für die Erinnerung«, erwiderte Napoleon kühl.

»Dann greifen wir eben nicht ihren Seehandel an«, fuhr Talleyrand fort. »Wir schneiden sie stattdessen von ihren Kunden ab. Wir schließen mit so vielen Ländern wie möglich Verträge und schmieden Bündnisse, und gleichzeitig benutzen wir unsere diplomatischen Kontakte, um England bei jeder Gelegenheit zu unterwandern.«

»Leichter gesagt als getan«, murmelte Fouché.

Talleyrand sah ihn amüsiert an. »Sie überraschen mich, Bürger. Ich dachte, Sie und Ihre Agenten hätten beträchtlichen Erfolg bei Ihren Bemühungen gehabt, die Gegner des Konsulats zu unterwandern und zu verleumden. Ich möchte lediglich Ihre Methoden auf der diplomatischen Bühne nachahmen.«

Während Fouché die Stirn runzelte, hatte Napoleon Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Er nickte dem Außenminister zu. »Weiter.«

»Wir müssen rasch handeln, während das Beispiel Marengo den europäischen Herrschern noch frisch in Erinnerung ist. Spanien ist schwach und wird sich dem Druck beugen, die in Nordamerika eroberten Territorien an Frankreich zurückzugeben. Es ist außerdem wegen Englands Rivalität in den beiden Amerikas und im Pazifik besorgt. Wir könnten König Carlos vielleicht sogar dazu überreden, mit uns gegen England in den Krieg zu ziehen. Preußen hat kein Verlangen, die österreichischen Niederlagen zu wiederholen, und ohnehin wetteifern die beiden um die Vorherrschaft über die deutschen Fürstentümer. Der russische Zar ist wütend über Englands Anspruch, alle Schiffe auf See zu durchsuchen. Meine Agenten in St. Petersburg sagen, Zar Paul versucht gerade allein aus diesem Grund, Preußen in einen gemeinsamen Krieg gegen England zu locken. Selbst Amerika verliert die Geduld damit, dass sich die Royal Navy in ihren Frachtverkehr auf See einmischt. Da England mit Österreich verbündet ist, bedeutet dies natürlich, dass der Zar gezwungen sein wird, auch gegen Österreich zu kämpfen. Wie Sie sehen, bietet die internationale Lage eine Fülle von Vorteilen, die wir ausnutzen können.« Talleyrand faltete die Hände. »Wenn wir Frieden mit Österreich schließen und alle unsere Bemühungen auf Diplomatie verlegen, können wir England isolieren. Dann wird es früher oder später gezwungen sein, einen Frieden nach unseren Bedingungen zu akzeptieren.«

»Sie stellen das Ganze hin, als wäre es so einfach«, bemerkte Napoleon.

»Ich habe nicht gesagt, dass es einfach wird, Bürger Konsul. Aber es wird funktionieren.«

Napoleon nickte nachdenklich. Talleyrands Rat klang sinnvoll. Und sein Plan hatte den Vorteil, dass er Napoleon Zeit verschaffte, Frankreichs erschöpfte Armeen für die Zeit, da sie wieder gebraucht wurden, umzustrukturieren und neu aufzubauen – und er zweifelte nicht daran, dass diese Zeit kommen würde. Ehe England nicht vollständig unterworfen war, würde jeder Friedensvertrag kaum mehr als eine Atempause sein, bevor der Kampf weiterging. Aber Frankreich brauchte dringend eine Friedensperiode. Die Stimmung unter den Zuschauern vorhin hatte beredt Zeugnis dafür abgelegt, und Napoleons Gedanken gingen von den globaleren Aspekten zu den unmittelbaren Problemen in den Grenzen Frankreichs.

»Also gut, Talleyrand. Tun Sie, was Sie können, um England zu isolieren. Das ist von nun an das Ziel unserer Außenpolitik, dem sich jede andere Erwägung unterzuordnen hat. Verstanden?

»Ja, Bürger Konsul.«

»Gut. Während unsere Diplomaten im Ausland tätig sind, werden wir unseren Wunsch nach Frieden hier in Frankreich unter Beweis stellen. Wir werden eine neue Nation erschaffen. Wir werden die Errungenschaften der Revolution festigen, sodass unsere Feinde erkennen, wie vergeblich ihr Verlangen ist, die Bourbonen und alles, wofür sie stehen, wieder an die Macht zu bringen. Und wir müssen unsere Leute davon überzeugen, dass es bei der Zukunft Frankreichs um ihre Interessen geht. Alle Leute.«

»Was meinst du damit?«, fragte Lucien.

»Ich meine damit, dass wir keinen Erfolg haben können, solange wir nicht die Probleme lösen, durch die das französische Volk gespalten ist.«

Lucien rutschte nervös auf seinem Sitz herum. »Es gibt gute Gründe, warum das Volk gespalten ist, Bruder. Die Klasse, der man angehört, Religion, Politik, das ist genau das, was eine Gesellschaft ausmacht. Und dann gibt es noch diejenigen, die für die Revolution sind, und diejenigen, die dagegen sind. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass Letztere unterdrückt und schließlich ausgerottet werden.«

Napoleon seufzte. »Aber verstehst du denn nicht? Das wird nie passieren. Solange wir Menschen in die Arme derer treiben, die gegen uns sind, wird Frankreich nie im Frieden mit sich sein. Der Prozess der Revolution wird niemals enden. Wir werden immer ringsum Feinde sehen und zu einer blutigen Säuberung nach der anderen gezwungen sein.«

»Und wofür plädierst du dann?«, fragte Lucien misstrauisch.

Napoleon sah ihn einen Moment lang an, ehe er antwortete. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Revolution an ein Ende gelangt. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir diejenigen bereitwillig akzeptieren, die sich der Revolution widersetzt haben.«

»Früher haben wir sie als Feinde des Volks bezeichnet.«

»Aber sie sind das Volk«, entgegnete Napoleon ernst. »Sie waren es immer, auch als der Wohlfahrtsausschuss eine Linie zwischen den Unterstützern der Revolution und ihren Gegnern zog. Das war der Fehler des Ausschusses. Es gab kaum einen Kleinbauern, der kein Revolutionär war, bis der Ausschuss die Kirche ins Visier nahm. In dem Moment, in dem sie die Priester anzugreifen begannen, trieben sie einen Keil zwischen ihre Anhänger. Beim Adel war es dasselbe. Viele von ihnen waren Radikale, aber aufgrund ihrer Geburt wurden sie als Volksfeinde gebrandmarkt.« Verachtung klang aus Napoleons Stimme, als er fortfuhr. »Das Gleiche war es in Korsika, Lucien. Weißt du noch, wie unser Volk die Revolution begrüßt hat? Erinnerst du dich an die Zeiten im Jakobinerklub von Ajaccio?«

»Ich erinnere mich.«

Napoleon lächelte. »Jeder Einzelne von uns war ein leidenschaftlicher Radikaler … bis die französische Regierung beschloss, unsere korsische Identität zu unterdrücken. Sie haben Korsika verloren, weil sie uns nicht als Korsen angenommen haben. Keine große Sache eigentlich, aber wie Menschen nun einmal sind, gab es einen Konflikt, wo es nie einen hätte geben dürfen. Das war der große Fehler. Das müssen wir auflösen.«

Lucien zuckte mit den Achseln. »Und wie? Es hat so viel Blutvergießen gegeben, dass sich die Leute nicht einmal vorstellen können, ihre Differenzen beizulegen.«

Napoleon wusste, dass Lucien recht hatte. Aber wenn sie nicht versuchten, das französische Volk wieder zu einen, würden ihre ausländischen Feinde nicht widerstehen können, die Themen Religion und Gesellschaftsklasse auszubeuten, die Frankreich spalteten. Solange es Emigranten gab, die behaupteten, im Namen der unterdrückten Kirche und des Adels zu sprechen, würde Frankreich selbst dann im Krieg mit sich selbst liegen, wenn es Krieg gegen andere Nationen führte. Das musste aufhören, beschloss Napoleon, bevor Frankreich sich selbst verschlang und England sich am Kadaver seines ewigen Feinds weidete.

»Was schlägst du also vor, Napoleon? Eine Amnestie für die Priester und Aristokraten?«

Napoleon holte tief Luft. »Ich schlage vor, dass wir die Gesetze abschaffen, in denen wir die Adligen für vogelfrei erklären und ihnen erlauben, nach Frankreich zurückzukehren. Darüber hinaus geben wir ihnen ihr Eigentum zurück.«

»Aber doch wohl nicht das Land, das bereits in der Hand der Kleinbauern ist? Wenn wir das tun würden, gäbe es eine neue Revolution, und die würden wir nicht überleben.«

»Nun gut«, räumte Napoleon ein. »Wir geben so viel Landbesitz zurück, wie wir können. Und noch etwas: Wir müssen einen Vertrag mit der Römisch-Katholischen Kirche schließen.«

»Was für einen Vertrag?«

»Wir müssen die Kirche in Frankreich wieder in ihre Rechte einsetzen.«

»Bist du verrückt, Bruder? Nach allem, was die Kirche dem einfachen Volk über die Jahrhunderte angetan hat? Nach all dem Geld, um das sie die Leute betrogen hat? All dem Essen, das sie aus ihren Mündern geraubt hat? Die Radikalen würden es nicht dulden. Für den Fall, dass du es nicht bemerkt hast, die meisten dieser Radikalen sind zufällig in der Armee. Willst du ihre Loyalität wirklich auf die Probe stellen?«

»Nein. Aus diesem Grund muss jeder Vertrag dieser Art geheim verhandelt werden. Und die Kirche muss dem Staat untergeordnet sein. Das gemeine Volk kann seine Religion haben, es kann seine Katholische Kirche haben, solange sie von uns kontrolliert wird, nicht von Rom.«

»Verzeihung, Erster Konsul«, sagte Fouché ruhig, »aber Ihr Bruder hat recht. Meine Agenten halten mich über die Stimmung unter den Soldaten auf dem Laufenden – es wäre zu gefährlich, es auch nur zu versuchen.«

»Es ist zu gefährlich, es nicht zu tun«, erwiderte Napoleon. »Wir brauchen das einfache Volk hinter uns. Wir dürfen ihm keinen Grund liefern, seine Treue unseren Feinden anzubieten. Davon abgesehen vergessen Soldaten ihre politischen Ansichten, sobald sie in den Krieg ziehen.«

Talleyrand zuckte zusammen. »Das klingt nach einem Argument, einen Krieg anzufangen.«

»Diesmal nicht.« Napoleon überlegte einen Moment. »Aber Krieg dient in der Tat ebenso sehr einem Zweck innerhalb einer Gesellschaft wie außerhalb von ihr.«

»Bis eine Gesellschaft kriegsmüde wird. So wie Frankreich im Augenblick.«

»Wir werden früh genug wissen, ob das stimmt«, schloss Napoleon. »In der Zwischenzeit müssen wir uns um Österreich kümmern. Wenn sie dasselbe Spiel wie früher spielen, werden sie die Verhandlungen so lange wie möglich hinauszögern und sich gleichzeitig auf einen neuerlichen Kampf vorbereiten. In diesem Fall wird es noch mehr Krieg geben, ob es unserem Volk gefällt oder nicht. Es ist Ihre Aufgabe, Fouché, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die wir nicht auf unsere Seite ziehen können.«

»Ich werde dafür sorgen«, antwortete Fouché gleichmütig.

»Gut.« Napoleon nickte. Fouchés leicht reptilienhafte Züge machten ihn nervös. Napoleon hegte keinen Zweifel, dass der Innenminister jedes notwendige Mittel anwenden würde, um Opposition gegen die neue Ordnung zu unterdrücken. Es war bedauerlich, aber die Notwendigkeit von Unterdrückungsmaßnahmen war ihm von den Feinden Frankreichs aufgezwungen worden. Politische Freiheit war selbst zu den besten Zeiten ein Luxus. Davon abgesehen: Was interessierten den gemeinen Bauern oder den einfachen Soldaten solche Feinheiten wie eine freie Presse? Solange sie zu essen und ihre Ablenkungen hatten, waren sie zufrieden. Mehr noch, Napoleon konnte darauf bauen, dass sie ihn gegen die Anwälte, Philosophen und Radikalen unterstützten, die den Kern der Opposition gegen das Konsulat bildeten. Zu gegebener Zeit, wenn echter Friede herrschte, mochte Gelegenheit sein, dem Volk zu erlauben, dass es sich freier äußerte.

Bis dahin musste Frankreich vor sich selbst gerettet werden, bevor es vor seinen Feinden gerettet werden konnte.

Nach der Unterzeichnung eines vorläufigen Friedensabkommens verzögerte Österreich, wie von Napoleon erwartet, alle Schritte auf einen echten Friedensvertrag hin, als die Verhandlungen in Lunéville begannen. Die österreichischen Abgesandten präsentierten eine lange Liste mit ihren Bedingungen, von denen Napoleon nur wenigen zustimmen konnte. Nichtsdestotrotz bot sich den französischen Armeen die Gelegenheit, sich während der langen Sommermonate auszuruhen. In der Zwischenzeit arbeitete Napoleon in Paris fieberhaft daran, Regierungssystem und Verwaltung des Landes zu reformieren.

Eine Kommission wurde eingesetzt, um ein Gesetzeswerk zu entwerfen, das alle regionalen Besonderheiten hinwegfegen und Frankreichs Zivil-, Straf- und Steuerrecht auf den neuesten Stand bringen sollte. Napoleon nahm an so vielen Sitzungen wie möglich teil und trieb die Angelegenheit voran, bis der erste Entwurf bereits vier Monate später fertiggestellt war. Pläne zum Ausbau des Straßen- und Kanalnetzes sowie der Häfen wurden entwickelt. Theater wurden von nun an subventioniert, um ihren Beitrag zur Unterhaltung des Volks zu leisten, und es wurden Rückstellungen gebildet, um mehr als zehntausend verwundete Kriegsheimkehrer zu versorgen. Joseph führte eine kleine Gruppe von Kirchenleuten nach Rom, um Verhandlungen über die Wiedereinsetzung der Katholischen Kirche in Frankreich mit dem Papst aufzunehmen. Vor seiner Abreise machte ihm Napoleon klar, dass das Konkordat, das am Ende herauskommen sollte, nicht das Recht der Priester enthalten würde, einen Zehnten zu erheben, auch würde kein Kirchenbesitz zurückgegeben werden und die Ernennung von Bischöfen von der französischen Regierung bestätigt werden müssen.

Alle diese hektischen Aktivitäten nahmen einen großen Teil von Napoleons Zeit in Anspruch. Er stand vor Tagesanbruch auf, und um sechs Uhr morgens war er angekleidet und hatte gefrühstückt. Dann ging er in sein privates Arbeitszimmer, las den Stapel von Dokumenten, den Bourrienne für ihn vorbereitet hatte, und kritzelte Bemerkungen an den Rand, bevor er seine Antworten an die Mannschaft von Sekretären diktierte, die zu diesem Zweck bereitstanden. Mittags nahm er eine kleine Mahlzeit ein und besuchte anschließend einige der Ausschüsse, die er eingesetzt hatte, um das Land moderner und effizienter zu gestalten. Dann gab es ein spätes Abendessen, nach dem sich Napoleon zur Zerstreuung zu Josephine und einem kleinen, inneren Kreis aus Familie und Freunden zurückzog, sofern er sich nicht noch um irgendeine dringende Angelegenheit kümmern müsste. Manchmal spielten sie Karten. Napoleon bevorzugte Siebzehnundvier oder Whist, und er betrog unweigerlich dabei.

»Warum tust du das?«, frage ihn Josephine eines Abends zu Beginn des Herbstes gereizt, nachdem sie ihre Gäste verabschiedet hatten und sich in ihre Schlafgemächer zurückzogen.

»Warum tue ich was, meine Liebe?«

»Beim Kartenspielen betrügen. Du machst es jedes Mal, wenn wir spielen.«

»Tue ich das?«

Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Du weißt, dass du es tust. Also, warum?«

Er zuckte mit den Achseln. »Weil ich dann jedes Mal gewinne.«

Josephine blieb stehen und sah ihn an, als er ihr Schlafzimmer betrat. Sie legte eine Hand an seine Wange und streichelte sie sanft. »Ist es dir so wichtig, bei allem zu gewinnen? Immer der Beste zu sein?«

»Was bleibt einem sonst? Warum sollte sich ein Mann niedrigere Ziele stecken?« Er schob sie sachte in den Raum und schloss die Tür hinter ihnen. Dann schlang er die Arme um ihre Hüfte und zog sie an sich. Der Duft ihres Parfüms drang ihm in die Nase, er küsste sie in die Halsbeuge und staunte über dessen seidene Struktur. »Ich will der beste Liebhaber sein, den du je hattest«, flüsterte er.

»Der bist du«, schnurrte sie und neigte den Kopf, um die Berührung seiner Lippen an ihrem Hals zu genießen. »Du bist der beste.«

Napoleon hätte es gern geglaubt, lieber als alles, was er in seinem Leben je geglaubt hatte. Doch das Wissen um ihre Untreue war wie ein Messer, das man ihm im Leib umdrehte, und er zitterte vor Wut am ganzen Körper.

»Was ist?«

»Nichts. Zieh dich aus.«

Sie löste sich von ihm und sah ihn an. In seinen Augen lag ein wildes Funkeln, das sie für Leidenschaft hielt, und sie murmelte: »Ja, Liebster.«

Er stand da und sah zu, wie sie eilig ihr Kleid, ihr Mieder und ihre Strümpfe auszog und schließlich die Bänder ihrer Unterwäsche löste. Dann stand sie nackt vor ihm und zitterte in der kalten Luft, obwohl ein Diener bereits ein Feuer im Eckkamin angezündet hatte. Er nahm eine ihrer kleinen Brüste in die Hand und fuhr mit dem Daumen über die dunkelbraune Warze, und dabei blickte er ihr die ganze Zeit in die Augen. Dann ließ er seine Hand nach unten auf ihren Bauch und weiter zwischen ihre Beine gleiten. Josephine schloss die Augen und biss sich leicht auf die Unterlippe.

Napoleon zog seine Hand plötzlich zurück und zerrte an den Knöpfen seiner Jacke. Josephine nutzte die Gelegenheit, um ins Bett zu springen, unter die Decke zu schlüpfen und sich zu einer Kugel zusammenzurollen. Er brauchte nur einen Bruchteil der Zeit, die sie gebraucht hatte, um sich auszuziehen, und dann kletterte er zu ihr ins Bett. Es gab kein Vorspiel. Er bestieg sie, drang in sie ein und arbeitete sich zu einem schnellen, kraftvollen Höhepunkt, ehe er stöhnend auf ihr zusammensackte.

»Das ging schnell«, murmelte sie mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme.

»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann«, antwortete er mit heiserer Stimme, und sein Herz schlug schnell.

»Zu beschäftigt, um mir Vergnügen zu bereiten, wie es scheint.«

Napoleon rollte sich von ihr und drehte sich auf den Rücken. Sie hatten diese Diskussion in den letzten Monaten bereits mehrere Male geführt, und er wusste auswendig, wie es weiterging. Sie beschuldigte ihn, keinen Gedanken an sie zu verschwenden, nicht mehr ihr Seelenverwandter zu sein. Er würde versprechen, ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken, sobald er die Zeit erübrigen konnte. Er meinte es aufrichtig. Er liebte sie mehr denn je, doch aufgrund seiner öffentlichen Verpflichtungen blieb sehr wenig Zeit für ihre Liebe. Aber der Streit würde sich noch eine Weile im Kreis drehen, bis sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass er mit ihr ins Theater oder in die Oper gehen würde oder einen Abend in einem der Pariser Salons mit ihr verbrachte. Letztere waren ermüdende Angelegenheiten, bei denen er es entweder mit Speichelleckern zu tun hatte oder mit Leuten, die alles Erdenkliche unternahmen, um ihm ihre überlegene Intelligenz oder bessere Herkunft vor Augen zu führen. Und während der ganzen Zeit dachte er über die drängenden Probleme nach, denen sich Frankreich gegenübersah.

Allmählich wurde klar, dass Österreich nicht die Absicht hatte, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, und Napoleon hatte Moreau angewiesen, seine Kräfte am Rhein zu massieren. Wenn es bis Dezember keinen Vertrag gab, so sein Beschluss, würde er abermals Krieg führen. Dann war in der Vendée erneut ein Aufstand ausgebrochen, angeführt von dem Royalisten Georges Cadoudal. Fouché hatte befohlen, dass Cadoudal und seine Anhänger auf der Stelle gehängt werden sollten, wenn man sie fasste. Doch noch waren sie auf freiem Fuß und planten, ihren Aufstand auszuweiten; es gab sogar Gerüchte, dass sie einen Anschlag auf Napoleons Leben im Sinn hatten.

Er drückte den Hinterkopf ins Polster und gähnte.

»Ich langweile dich also?«

Er fluchte lautlos und beugte sich über sie. »Du bist der Mittelpunkt meines Lebens, Josephine, aber aus allen Himmelsrichtungen werden Forderungen an mich gestellt. Was soll ich machen? Frankreich hängt von mir ab, und ich kann es nicht ignorieren, nicht einmal für dich. Das verstehst du doch sicher?«

»Ich verstehe sehr gut, wo deine Prioritäten liegen.« Sie drehte sich zur Seite, und Napoleon betrachtete einen Moment ihren Rücken, bevor er sie in den Nacken küsste.

»Sobald ich kann, verbringe ich einen Abend mit dir.«

»Wann?«

Er überlegte rasch. Es gab eine Neuaufführung von Haydns Die Schöpfung, Premiere im Dezember. Dorthin würde er sie ausführen und den ganzen Abend aufwendig gestalten. Es würde ein Festbankett im Luxembourg geben, und danach würden die Gäste in einer Kutschenprozession zur Oper fahren. Napoleon merkte sich den Termin vor und beschloss, Lucien gleich am nächsten Morgen alles vorbereiten zu lassen.

Gegen Ende November war Napoleons Geduld mit Österreich schließlich am Ende, und er befahl General Moreau, gegen Wien zu marschieren. Eines Abends Anfang Dezember saß er gerade mit Josephine beim Essen, als sie von Berthier gestört wurden. Napoleon bemerkte sofort das aufgeregte Lächeln seines Stabschefs.

»Was gibt es, Berthier?«

»Ein großer Sieg, Monsieur. Die österreichische Armee ist bei Hohenlinden unvorbereitet in Moreaus Kräfte gestolpert und wurde aufgerieben. Sie haben mehr als achtzehntausend Mann verloren.«

»Was macht Moreau jetzt?«

»Er hat zwei seiner Generäle, Ney und Grouchy, zur Verfolgung der Österreicher geschickt.«

Napoleon erinnerte sich aus den Personalunterlagen im Kriegsministerium an die Namen. Beide waren aggressive Kommandeure, die den Druck auf den Feind sehr viel wahrscheinlicher hochhalten würden, als es bei Moreau der Fall gewesen wäre. Er nickte zufrieden und sah Berthier an. »Ich möchte so bald wie möglich einen vollständigen Bericht über die Schlacht haben. Sehen Sie zu, dass Lucien eine Abschrift erhält und für morgen eine Bekanntmachung in die Zeitungen bekommt. Wenn alles gut geht, wird der Krieg vor Weihnachten zu Ende sein. Dann hat das Volk mehr als genug Grund zum Feiern.«

»Ja, Monsieur. Sonst noch etwas?«

»Ja.« Napoleons Augen glänzten, als ihm ein neuer Gedanke kam. »Sagen Sie Moreau, wenn er den Österreichern einen Waffenstillstand aufzwingen kann, dann soll dieser am Weihnachtstag unterzeichnet werden. Das wird eine ausgezeichnete Geschichte für die Zeitungen ergeben. Und am Tag vorher gehen wir in die Oper.« Er lächelte Josephine an. »An dieses Weihnachten wird sich das Volk von Paris noch in Jahren erinnern.«

Die Kutschen fuhren kurz nach sechs Uhr abends vom Palais Luxembourg ab. Die Kutsche des Ersten Konsuls führte die Prozession an. In den folgenden saßen Freunde und Verwandte, darunter auch Josephines Sohn Eugène und ihre Tochter Hortense. Eine kalte Nacht war über der Hauptstadt angebrochen, und gefrierender Nebel legte sich auf die Ziegeldächer. Dennoch waren die Straßen auf dem Weg zur Oper von vielen Menschen gesäumt. Einzelheiten über die Prozession waren schon Tage zuvor veröffentlicht worden, und die Leute waren zu Tausenden herbeigeströmt, um einen Blick auf den Ersten Konsul und seine Gemahlin zu erhaschen. Viele hatten bereits getrunken, und die Straßen hallten von ihrem Gesang und Jubel wider. Fackeln, die man entlang der Route angezündet hatte, warfen einen rosigen Schein in den Nebel und trugen zur Fröhlichkeit der Szenerie bei. Eine Schwadron Dragoner ritt vor den Kutschen, die Brustschilde der Reiter schimmerten und das Fell der Pferde glänzte, wenn sie Atemwolken in die Nachtluft bliesen.

Napoleon trug den reich mit goldenen Tressen besetzten scharlachroten Rock des Ersten Konsuls. Er lächelte, als er der Menge zuwinkte. Er war so glücklich wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im Laufe des Tages hatte er die Nachricht erhalten, dass die Österreicher um einen Waffenstillstand gebeten hatten und fest zusagten, baldmöglichst einen vorläufigen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Sie hatten kaum eine andere Wahl, da Moreaus Armee drauf und dran war, Wien einzunehmen. Endlich war Frieden in Europa in Reichweite. Und dann würde England auf sich allein gestellt sein. Napoleons Feierlaune deckte sich mit der des Volks von Paris. Er griff nach Josephines Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. Sie wandte sich ihm zu, und obwohl sie einen dichten Pelzmantel trug, spürte er, wie sie zitterte.

»Du frierst?«

»Nein.« Sie lächelte. »Ich bin aufgeregt. Und stolz. So unbändig stolz auf dich.«

Die Kutsche ruckte plötzlich, als sie in die Rue Saint-Nicaise einbog, die beiden wurden aneinandergedrückt und lachten überrascht auf, und Napoleon drückte Josephine rasch einen Kuss auf die Lippen.

»Ich liebe dich«, sagte er leise. »Heute Abend mehr denn je.«

»Und ich liebe dich.« Sie erwiderte den Kuss und drückte seine Hand. »Ich wünschte nur, Eugène und Hortense hätten mit uns fahren können.«

»Sie sind sicher ganz zufrieden dort, wo sie sind. Abgesehen davon, befürchte ich, wenn sie bei uns wären, hätten alle Leute nur Augen für sie. Sie haben fraglos das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt.«

Josephine schüttelte den Kopf, lächelte aber gleichwohl über das Kompliment. Dann leuchteten ihre Augen auf, als sie über Napoleons Schulter hinweg etwas entdeckte. »Oh! Sieh mal da!«

Er wandte den Kopf und sah, dass zwei kleine Kinder auf ein großes Fass auf einem Wagen geklettert waren, der am Straßenrand abgestellt war. Zwischen sich hielten sie eine Trikolore in die Höhe, in die sein Name eingestickt war. Napoleon winkte ihnen zu, und sie riefen erfreut und winkten wie wild zurück. Als sie schon fast vorbei waren, sah Napoleon unter ihnen auf dem Wagen etwas wie einen Funken aufleuchten. Dann machte die Kutsche einen Ruck, und Kinder wie Wagen verschwanden aus seinem Blick.

Josephine lachte. »Wie es scheint, liebt dich die Öffentlichkeit.« Dann bemerkte sie sein leichtes Stirnrunzeln. »Was ist?«

Napoleon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«

Er beugte sich aus dem Fenster und sah zu dem Wagen zurück. Die Kinder winkten immer noch. Er zuckte mit den Achseln und lehnte sich ins Sitzkissen zurück. Josephine sah ihn noch immer an, und er zwang sich zu einem Lachen. »Es ist nichts, wirklich.«

Draußen vor den Fenstern der Kutsche löste sich die Welt in einen grellweißen und dann orangefarbenen Blitz auf, dem einen Sekundenbruchteil später ein ohrenbetäubender Knall folgte, und die Kutsche wurde vorwärtsgeschleudert, als hätte eine Riesenfaust ihr von hinten einen Schlag versetzt. Napoleon und Josephine wurden in einem Regen aus Glassplittern auf die gegenüberliegende Sitzbank geworfen. Im ersten Moment hörte Napoleon nichts, und sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Wolle ausgestopft. Vom Schein der Fackeln war nichts mehr zu sehen, dichter schwarzer Rauch hing in der Straße. Napoleon schüttelte das Glas von seiner Kleidung und tastete mit angstvoll rasendem Herzen nach Josephine. Er fühlte ihren Körper, und Erleichterung durchflutete ihn, als sie sich bewegte. Ein dumpfes Dröhnen erfüllte nun seine Ohren, das sich nur langsam in unterscheidbare Geräusche auflöste: das schrille Wiehern eines verletzten Pferds, Schreie und Stöhnen, Menschen, die in panischer Angst nach Freunden und Angehörigen riefen.

»Napoleon?« Josephines Stimme klang leicht gedämpft, als sie sich auf den Sitz hinaufzog und sein Gesicht in beide Hände nahm. Er sah, dass ihre Wange von einer Schnittwunde blutete. Sie sprach wieder, und diesmal hörte er sie deutlicher, da sich sein Gehör langsam erholte. »Bist du in Ordnung?«

»Es geht mir gut … glaube ich.« Napoleon sah an sich hinab und beugte und streckte seine Glieder. Nichts tat weh, nirgendwo war Blut. Dann drehte er den Kopf zu dem zertrümmerten Fenster auf seiner Seite der Kutsche.

»Eine Explosion. Eine Bombe.«

Plötzlich fiel ihm der Konvoi der Kutschen hinter ihm ein, und er drückte die Tür auf, sprang auf die Straße und blickte nach hinten. Der Wagen mit dem Fass, auf dem die beiden Kinder gestanden hatten, war verschwunden. Die Straße war übersät mit Körpern von Menschen und Pferden und den zerstörten Resten von Kutschen. Soweit Napoleon blicken konnte, waren sämtliche Fensterscheiben geborsten und die Gebäude unmittelbar am Ort der Explosion eingestürzt. Ein Offizier der Konsulargarde kam zu ihm gerannt und packte ihn am Arm. »Zurück in die Kutsche, Monsieur! Wir müssen Sie von hier wegschaffen.«

»Lassen Sie mich in Ruhe.« Er deutete zu den rußgeschwärzten Gestalten, die sich inmitten des Blutbads regten. »Helfen Sie diesen Leuten.«

Der Offizier sah ihn kurz an, dann nickte er und wandte sich an seine Männer. »Folgt mir.«

»Mein Gott …«, murmelte Josephine.

Napoleon drehte den Kopf und sah, dass sie ihm aus der Kutsche gefolgt war. Sie sah an ihm vorbei, dann schlug sie die behandschuhte Hand vor den Mund und riss in nackter Angst die Augen auf. »Meine Kinder! Meine Kinder … mein Eugène. Hortense? Wo sind sie?«

Sie strich an ihm vorbei und lief zu den zerstörten Resten der nachfolgenden Kutschen, und Napoleon ging mit bangem Herzen hinter ihr her. Wen die volle Wucht der Explosion getroffen hatte, der konnte nur durch ein Wunder überlebt haben.

63

Napoleon folgte Josephine durch die Reste einer zerstörten Kutsche zur nächsten, über Schutt und geborstenes Holz, abgetrennte Glieder und Pferdekadaver. Einige der Zuschauer und die Männer der Garde hatten sich Fackeln besorgt und durchsuchten den Schauplatz nach Überlebenden.

»Mutter!«, rief eine Stimme, und Josephine riss den Kopf herum.

»Eugène! Bist du das?«

Eine Gestalt winkte aus dem Halbdunkel. »Ja, hier drüben.«

Napoleon und Josephine kletterten über einen Schutthaufen von einem der eingestürzten Gebäude und stellten fest, dass die Kutschen im hinteren Teil der Prozession halbwegs heil geblieben waren. Pferde und Kutscher von Eugènes Gefährt waren durch umherfliegendes Mauerwerk und Holzsplitter von der vorausfahrenden Kutsche getötet worden. Die Tür hing schief in einer verbogenen Angel, und Eugène winkte verzweifelt zu ihnen heraus. »Hier drin! Schnell!«

Als Napoleon und Josephine die Kutsche erreichten, sahen sie, dass Eugène seine Schwester in den Armen hielt. Ein Streifen Blut färbte ihr Seidenkleid leuchtend rot, und sie blickte mit einem benommenen Gesichtsausdruck zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater auf.

»O Gott.« Josephines Stimme versagte, und es dauerte einen Moment, ehe sie fortfahren konnte. »Sie ist verletzt. Aus dem Weg!« Sie warf sich in die Kutsche, stieß Eugène beiseite und verfolgte den Blutstrom zu einer Wunde am Handgelenk des Mädchens. Blut spritzte in einem Bogen durch die Kutsche und landete auf Josephines Wange.

»Du musst Druck auf die Wunde ausüben!«, schrie Napoleon und zwängte sich neben seine Frau in das Gefährt. »Eugène, such einen Arzt! Schnell!«

»Wo?«

»Tu es einfach!«

Eugène stolperte davon, und Napoleon wickelte eilig den hübschen Schal von seinem Hals und band ihn so fest er konnte um die Wunde. Hortense schrie vor Schmerz leise auf, und Josephine sah ihren Mann wütend an.

»Ich muss den Blutfluss stoppen«, erklärte er freundlich. »Es ist ihre einzige Chance.«

Doch noch während er es sagte, sickerte frisches Blut durch den Stoff.

»Mama, mir ist kalt.« Hortenses Augen flatterten. »So kalt.«

Sie begann heftig zu zittern, und Josephine fasste an ihr Kinn. »O Gott, bitte nicht. Nein, Hortense. Bitte, lieber Gott.« Sie schüttelte ihre Tochter. »Hortense …«

Das Mädchen stöhnte leise, und ihr ganzer Körper bebte.

Josephine blickte auf. »Sie braucht Hilfe.«

»Eugène sucht jemanden.«

»Mutter …« Hortenses Stimme war kaum mehr als ein Murmeln. »Mir ist kalt. Halt mich.«

Josephine drückte ihre Tochter an sich und strich ihr über die Wange. »Mein Mädchen …« Tränen glitzerten in Josephines Augen, liefen ihr über die Wange und verschmierten ihre Schminke. Napoleon verknotete seinen Verband und hielt die kalte Hand des Mädchens. Josephine wiegte ihre Tochter in den Armen, als wäre sie ein Kleinkind. Sie flüsterte ihr weiter Koseworte und Beruhigungen zu, bis Eugène zurückkam.

»Ich habe einen Weg für eure Kutsche freimachen lassen und nach einem Arzt geschickt, der unverzüglich zum Palast kommen wird.«

»Guter Junge.« Napoleon tätschelte den Arm seines Stiefsohns. »Jetzt müssen wir deine Schwester und deine Mutter von hier wegbringen.« Napoleon dirigierte Josephine vorsichtig von ihrer Tochter fort, die inzwischen das Bewusstsein verloren hatte. Dann schob er die Hände unter die Schultern des Mädchens und sah Eugène an. »Hier. Pack mit an!«

Das Arbeitszimmer wurde nur durch das Feuer im Kamin erhellt, und Napoleon saß in einem Sessel und starrte in die Flammen, während das Holz zischte und knisterte. Er war immer noch von Ruß und Dreck verschmiert, und sein festlicher Uniformrock stand offen. In den Händen hielt er ein großes Glas Weinbrand. Beim Blick in die orangefarbenen Flammen liefen die Explosion und ihre schrecklichen Folgen vor seinem geistigen Auge ab, als würde er sie noch einmal erleben.

Nachdem Napoleon geholfen hatte, Hortense zu seiner Kutsche zurückzutragen und Josephine zusammen mit ihrem Sohn sicher darin unterzubringen, war Napoleon dem Kutscher mit dem Befehl entgegengetreten, sofort zum Palast zurückzufahren. Er selbst war am Schauplatz des Anschlags geblieben und hatte den Männern der Konsulargarde geholfen, das Trümmerfeld nach weiteren Überlebenden zu durchsuchen. Es war so schlimm wie nur irgendein Schlachtfeld, das Napoleon in seinem Leben gesehen hatte, abgesehen davon, dass viele der Opfer Frauen und Kinder waren. Diejenigen, die der Explosion am nächsten gewesen waren, waren in Stücke gerissen worden. Fouché war an den Anschlagsort geeilt und hatte ängstlich nach seinem Herrn gesucht, und aus seiner Miene sprach die pure Erleichterung, als er Napoleon am Arm fasste.

»Gott sei Dank! Es gibt bereits Gerüchte, Sie seien getötet worden.«

Napoleon sah sich um. »Ich hatte Glück.«

»Nein.« Fouché schüttelte den Kopf. »Frankreich hatte Glück. Wir müssen schnell handeln, um die Gerüchte im Keim zu ersticken. Die Leute müssen wissen, dass Ihnen nichts geschehen ist, bevor jemand die Situation auszunutzen versucht. Kommen Sie, Monsieur.« Er zog Napoleon sanft zum Ende der Straße.

»Wohin gehen wir?«, fragte Napoleon leise.

»Zur Oper.«

Napoleon blieb abrupt stehen und löste sich aus Fouchés Griff. »Zur Oper? Nach allem, was geschehen ist? Sind Sie verrückt?«

»Sie müssen sich in der Öffentlichkeit sehen lassen, Monsieur«, ließ Fouché nicht locker. »Die Oper ist so gut dafür geeignet wie jeder andere Ort. Und sie ist nicht weit weg. Kommen Sie, Monsieur. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie lasen unterwegs einige Angehörige der Konsulargarde auf, und als sie die Treppe erreichten, die zum Haupteingang hinaufführte, hatte eine neugierige Menge ihre Sitzplätze verlassen, um mehr über die Explosion zu erfahren. Die Garde bahnte Napoleon einen Weg, und er stieg die Stufen hinauf und drehte sich oben angekommen um. Sofort ertönte ein Geräusch, als würde die ganze Menge erleichtert aufseufzen, dann setzte ein aufgeregtes Stimmengewirr ein, ehe eine einsame Stimme rief: »Es lebe Napoleon!«

Der Ruf wurde rasch aufgenommen und hallte von der hohen Fassade der Oper wider. Napoleon winkte zur Menge, als Antwort auf ihre offen gezeigte Zuneigung und ihre Erleichterung, weil er unversehrt geblieben war. Der Jubel hielt Minute um Minute an, bis Fouché ihn an der Schulter berührte und ihm laut ins Ohr sagte: »Ich habe eine Kutsche für Sie beschlagnahmt. Sie steht gleich um die Ecke und wird Sie zum Palast und zu Ihrer Frau zurückbringen.«

Napoleon nickte stumm, dann ließ er den Arm sinken und folgte Fouché die Treppe hinunter und an der Front der Oper entlang bis zur Ecke. Die Kutsche, die in der Seitenstraße stand, wurde von mehreren berittenen Polizisten Fouchés bewacht.

»Sie können ihnen trauen«, sagte Fouché, als er Napoleons Gesichtsausdruck bemerkte. »Bei meinen Männern sind Sie in Sicherheit.«

Er half Napoleon in die Kabine. »Ich komme zu Ihnen, sobald ich die Jagd auf die Leute in die Wege geleitet habe, die hinter dem Anschlag stecken.«

Napoleon nickte und schloss die Tür. Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an und ratterte über die Kopfsteinpflasterstraße, während die berittenen Polizisten ihr einen Weg durch die Menge bahnten und sich aufmerksam umsahen, ob dem Ersten Konsul irgendwo weitere Gefahr drohte.

In seinen Privatgemächern ging Napoleon sofort nach seiner Frau sehen. Sie war in ihrem Salon, zusammen mit ihrem Sohn, ihrem Arzt und einigen der engsten Freunde. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, während sie zusah, wie der Doktor Hortenses Wunde versorgte. Napoleon blickte einen Moment auf die Szenerie, bis der Arzt ihn bemerkte und leise rief: »Sie wird wieder genesen, Monsieur. Sie hat viel Blut verloren, aber sie ist ein starkes Mädchen.«

Napoleon nickte dankbar, dann schlüpfte er leise aus dem Raum und ging in sein Arbeitszimmer. Er fühlte sich schuldig. Die Bombe war für ihn bestimmt gewesen, nicht für Josephines Tochter, und sie wäre nicht verletzt worden, wenn er nicht Erster Konsul geworden wäre oder den Ausflug zur Oper beschlossen hätte. In seinem Arbeitszimmer befahl er einem Diener, den Kamin anzuzünden, dann schenkte er sich einen Weinbrand ein und setzte sich, um auf Fouché zu warten.

Kurz nach Mitternacht öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer mit einem leisen Klicken, und Napoleon blickte auf, als der Innenminister den Raum betrat. Er wies mit einem Kopfnicken zu einem Sessel auf der anderen Seite des Kamins, und Fouché setzte sich.

Napoleon räusperte sich. »Wie hoch war die Schlachterrechnung?«

»Mehr als fünfzig Opfer bis jetzt, die Hälfte davon tot.« Fouché hielt einen Moment inne, ehe er das Thema wechselte. »Aber Sie leben und sind unverletzt, und das ist die Hauptsache. Ich habe bei den Zeitungsherausgebern den Boden für die Geschichte bereitet, die ich morgen verbreiten will. Ich habe ihnen erzählt, es sei das Werk royalistischer und jakobinischer Agenten.«

Napoleon schniefte. »Eine unwahrscheinliche Kombination.«

»Mag sein, aber diese ungeheuerliche Tat könnte uns jenen Vorwand liefern, den wir brauchen, um gegen beide hart durchzugreifen. Ich habe befohlen, auf beiden Seiten alle zusammenzutreiben, die wir im Verdacht haben, Rädelsführer zu sein. Irgendwer wird etwas über die Verschwörung wissen. Es geht nur darum, die Fragen in der richtigen Weise zu stellen.«

»Sie sprechen von Folter.«

»Folter? Das ist nicht das Wort, das ich benutze. Wir nennen es ›eindringliche Befragung‹ oder so ähnlich, damit uns die Zeitungen gewogen bleiben. Vielleicht entdecken wir, wer hinter dem Anschlag steckt, aber was wir mit Sicherheit erhalten, da wir schon dabei sind, ist eine Menge nützlicher Informationen.« Seine Augen glänzten bei der Aussicht, ehe er eine nüchternere Miene aufsetzte und sich zum Ersten Konsul vorbeugte. »Ich habe vorhin die Nachricht über Ihre Stieftochter gehört. Es heißt, sie wird genesen. Das ist sicher ein Trost für Sie.«

»Ich brauche keine tröstenden Worte«, erwiderte Napoleon ruhig. »Ich möchte, dass Sie die Männer finden, die hinter dieser Sache stecken. Es ist mir egal, was dafür erforderlich ist. Es ist mir egal, wie viele Leute zu Schaden kommen, damit Sie Informationen über die Hurensöhne erlangen, die mich töten wollten. Finden Sie sie, Fouché. Finden Sie sie und führen Sie sie der Gerechtigkeit zu. Sie werden mit ihrem Kopf dafür bezahlen.«

Das Netzwerk der Agenten und Informanten des Innenministers durchkämmte die Straßen, Cafés und Salons der Hauptstadt, und nach wenigen Wochen hatten sie die Identität der beiden Männer aufgedeckt, welche die Sprengvorrichtung zusammengebaut hatten. Sie wurden rasch verhaftet und Fouché und seinen Verhörspezialisten vorgeführt, die alle Feinheiten in der Kunst, Informationen zu erlangen, bestens kannten. Fouché berichtete, dass die Männer für Cadoudal arbeiteten und keine Verbindung zu den Jakobinern unterhielten. Nichtsdestoweniger wurde diese Tatsache unterdrückt, um die Verhaftung und Verbannung Hunderter politischer Gegner zu rechtfertigen, die in den Wochen nach der Explosion stattgefunden hatte. Die beiden Männer waren unter dem gnadenlosen Druck von Fouchés Verhörspezialisten zusammengebrochen und hatten eine Reihe führender Royalisten mit der Verschwörung in Verbindung gebracht, darunter viele Emigranten. Nachdem die Männer alles verraten hatten, was sie wussten, wurde ihnen im Schnellverfahren der Prozess gemacht, sie wurden zum Tod verurteilt und vor Morgengrauen im Innenhof von Fouchés Ministerium erschossen.

Es war keine Überraschung für Napoleon, als er erfuhr, dass der Anschlag in England geplant und mit englischem Gold bezahlt worden war. Sein Herz verhärtete sich, was den entschlossensten und skrupellosesten Feind der Revolution anging. Dass die englische Regierung zu solch hinterlistigen terroristischen Methoden Zuflucht nahm, war für Napoleon ein deutliches Zeichen dafür, zu welchen Anstrengungen sie bereit waren, um Frankreich zu besiegen.

Er hatte jedoch wenig Zeit, um seinen Groll zu pflegen. Einmal mehr wandten die Österreicher bei den Verhandlungen in Lunéville Verzögerungstaktiken an, und als Ende Januar noch immer kein vorläufiger Friedensvertrag unterschrieben war, sandte Napoleon eine barsche Warnung, dass die französischen Armeen ihren Vormarsch auf Wien fortsetzen würden, wenn die Unterschrift nicht umgehend erfolgte. Die Österreicher vollzogen eilig eine Kehrtwende, stimmten den französischen Bedingungen zu und unterschrieben Anfang Februar den Vertrag von Lunéville. Einen Monat später wurde ein Vertrag mit dem König von Neapel geschlossen, der seine Häfen daraufhin für englische Schiffe schloss. William Pitts Koalition war damit gescheitert, und im März wurde er aus dem Amt gedrängt. England waren endlich die Verbündeten ausgegangen. Napoleon zog einen kalten Trost aus dem Sturz seines Widersachers. Frankreich beherrschte Europa und konnte es sich leisten, zu warten, bis die Engländer so gedemütigt waren, dass sie um Frieden bettelten. In der Zwischenzeit arbeitete er weiter jede wache Stunde daran, Frankreich für alle Zeiten zu verändern, sodass es nie mehr einen Rückfall in die krassen Ungleichheiten der Jahre vor der Revolution geben konnte.

Korruption von Regierungsbeamten wurde offengelegt und bestraft. Minister wurden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen und erhielten neue Aufgaben. Ein System von Getreidesilos wurde als Absicherung gegen die Folgen von Missernten eingerichtet, und die neu gegründete Bank von Frankreich wurde zur einzigen Quelle einer Papierwährung, welche die verhassten und so gut wie wertlosen Assignaten ablöste. Eingedenk der Notwendigkeit, an den Patriotismus des Volks zu appellieren, entwarf Napoleon Pläne, um neue Straßen und Avenuen anzulegen – die nach den jüngsten Siegen der Armee und den noch zu erringenden Siegen benannt werden sollten. Diese Pläne boten gleichzeitig den Vorteil, Durchgangsschneisen zu schaffen, die breit genug waren, damit sie im Fall eines Aufstands von einer Handvoll Kanonen beherrscht werden konnten.

Der ständige Strom neuer Initiativen, der sich aus dem Büro des Ersten Konsuls ergoss, ließ die Rolle der übrigen Zweige der Legislative verblassen, die es nach der neuen Verfassung gab, und während der Senat Napoleons Handeln weitgehend billigte, widersetzte sich das Tribunat einer Aufgabe seiner Machtbefugnisse. Napoleon wusste, bald würde die Zeit kommen, da er gezwungen war, die Verfassung zu seinen Gunsten umzugestalten. Vorher würde er alles tun müssen, um die Unterstützung des Volks zu gewinnen. Was er sich am meisten wünschte, war Frieden, und nachdem dieser auf dem Kontinent endlich erreicht war, begann Frankreich mit dem Beginn des Frühjahrs, die Vorteile von Ordnung und Wohlstand zu genießen.

Und genau in diesem Moment begann die Lage sich zu ändern.

»Der Zar ermordet?« Napoleon erhob sich aus seinem Sessel. »Wann?«

»Vor drei Wochen, Ende März«, antwortete Talleyrand. »Zar Paul wurde von einer Gruppe von Generälen und führenden Mitgliedern seiner eigenen Familie getötet, darunter sein Sohn Alexander, der jetzt der neue Herrscher ist.«

Napoleon lachte sarkastisch auf. »Ich glaube, in eine gefährlichere Familie konnte man nie geboren werden.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Was wissen wir über diesen Alexander? Welche Absichten verfolgt er in Bezug auf uns?«

»Unser Botschafter sagt, Alexander will unbedingt die Beziehungen zu England reparieren. Ein ungünstiger Zeitpunkt. Gerade als wir dachten, wir könnten vielleicht eine Allianz mit Russland schmieden.«

Napoleon schwieg einen Moment, ging ans Fenster und sah in die Gärten des Palasts hinab. »Der Teufel soll diese Russen holen. Eines Tages werden sie uns noch alles verderben.«

Die Neuigkeit verschlimmerte erheblich seine Sorgen bezüglich der Meldung, dass eine englische Armee in Ägypten gelandet war. Die letzte Hoffnung einer französischen Intervention in Indien war durch den Generalgouverneur und seinen Bruder zunichtegemacht worden, einem mehr als fähigen Soldaten, der viel dazu beigetragen hatte, die militärische Lage zugunsten Englands zu verändern. Dann war da noch das Problem eines Aufstands in der Kolonie San Domingo, und Spanien war nicht bereit, Louisiana an die Franzosen zurückzugeben. Solange der Feind die Meere beherrschte, würde Frankreich der leichte Zugang zu seinen Kolonien verwehrt bleiben. Es war an der Zeit, mit dem Teufel ins Bett zu schlüpfen, folgerte Napoleon widerwillig. Er wandte sich an seinen Außenminister.

»Wir müssen so schnell wie möglich Frieden mit England schließen. Wir brauchen Zeit, um unsere überseeischen Angelegenheiten zu regeln. Zeit, um unsere Marine stark zu machen.«

»Zu welchem Zweck?«, fragte Talleyrand ruhig.

»Damit wir den Ärmelkanal von feindlichen Kriegsschiffen freiräumen und eine Armee in England an Land bringen können, wenn der Konflikt erneut ausbricht – und das wird er tun.«

»Ich verstehe.« Talleyrand zuckte mit den Achseln. »Es wird also kein dauerhafter Frieden sein, den wir anstreben?«

»Es kann keinen dauerhaften Frieden mit England geben. Entweder Frankreich obsiegt, oder England tut es. Die Welt ist zu klein, als dass wir sie uns teilen könnten.«

»Wie lauten Ihre Anweisungen, Erster Konsul?«

»Schicken Sie einen Abgesandten zu Premierminister Addington. Richten Sie ihm aus, Frankreich möchte Frieden. Ich stelle mir vor, dass die Engländer nicht in der Stimmung sein werden, ein solches Angebot abzulehnen. Sie befinden sich schon ebenso lange im Krieg wie wir.«

Napoleon hatte die englische Gemütsverfassung gut eingeschätzt. Der neue Premierminister stimmte der Aufnahme von Gesprächen zu, und im Laufe des Sommers mündeten die zaghaften Verhandlungen allmählich in den Entwurf eines vorläufigen Abkommens. Napoleon war begierig darauf, das Dokument zu unterzeichnen, aber die Engländer fanden einen Vorwand nach dem anderen, um die Unterschrift zu verzögern. Zum Ende des Sommers hatte Napoleon genug. Wie bei Österreich stellte er ein Ultimatum. Das Abkommen würde bis Oktober unterschrieben sein, oder Frankreich würde die Verhandlungen abbrechen und wieder in den Krieg ziehen. Die Engländer gaben nach. Das Dokument wurde unterzeichnet, und die Feindseligkeiten endeten. In den Wochen darauf trafen sich die Vertreter Frankreichs und Englands in Amiens, um die letzten Einzelheiten des Friedensvertrags zu klären.

Ende März 1802 schließlich, als sich der Erste Konsul und seine Gattin für eine kurze Erholungspause in das Schloss von St. Cloud zurückgezogen hatten, erschien Talleyrand eines Abends bei ihnen. Er wurde in die Orangerie geführt, wo Napoleon und Josephine neben einem kleinen Ofen Tee und Gebäck zu sich nahmen. Talleyrand verbeugte sich elegant vor Josephine, ehe er Napoleon seine Neuigkeit überbrachte.

»Der Vertrag ist unterzeichnet.« Er lächelte freundlich. »Die Engländer haben vor ein paar Tagen ihr Siegel daruntergesetzt.«

»Keine Änderungen der Bedingungen in letzter Minute?«, fragte Napoleon gleichermaßen gut gelaunt.

»Wir haben bekommen, was wir gefordert haben. England wird die Kolonien zurückgeben, die sie von uns erobert haben, außerdem diejenigen, die sie Spanien und Holland weggenommen haben. Die einzigen Territorien, die sie behalten dürfen, werden Trinidad und Ceylon sein. Sie haben außerdem zugestimmt, Malta an den Johanniterorden zurückzugeben und Ägypten an die Türkei. Im Gegenzug werden wir unsere Truppen aus dem Königreich Neapel und dem Kirchenstaat abziehen.«

Napoleon rieb sich erfreut die Hände. »Wunderbar. Könnte ich jetzt nur das Gesicht von Mr. Pitt sehen! Es hätte nicht besser laufen können.«

»Nein, es kommt alles genau zur rechten Zeit. Nächsten Monat werden wir das Konkordat mit Rom in den Händen haben. Es wird nicht einen Menschen in Frankreich geben, der nicht jubiliert.«

»Ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht doch ein oder zwei geben könnte. Aber die Nachricht wird allen Streitereien über die Legitimität der neuen Verfassung ein Ende bereiten. Ich habe für Ordnung, wirtschaftliche Belebung und internationales Ansehen gesorgt. Wer wird es jetzt noch wagen, mich infrage zu stellen?«

Für einen Moment ließ der Gesichtsausdruck des Außenministers Überraschung erkennen, dann trat die übliche Maske an ihre Stelle. »Sie haben natürlich recht, Bürger Konsul. Die Nation schuldet Ihnen weit mehr, als sie jemals zurückzahlen kann. Aber für das öffentliche Erscheinungsbild ist es sicherlich besser, diesen Erfolg den gemeinsamen Bemühungen der Konsuln, Senatoren und Abgeordneten zuzuschreiben.«

»Wieso?«, erwiderte Napoleon rundheraus. »Nur ein Narr würde nicht meine lenkende Hand hinter alldem sehen. Frankreichs Geschicke haben sich hauptsächlich dank meiner Anstrengungen verbessert, Talleyrand. Ich wüsste nicht, was es schaden soll, die Leute das sehen zu lassen.«

»Der Schaden wird darin bestehen, dass manche Leute – eifersüchtig und verlogen, wie sie sind – Gerüchte in die Welt setzen werden, dass es ein Zeichen Ihrer diktatorischen Ambitionen ist.«

»Sollen sie ruhig.« Napoleon tat die Idee mit einer Handbewegung ab. »Die Leute wissen, dass ich kein Diktator bin. Ich strebe nicht nach Macht für mich selbst. Es geht mir nur darum, den allgemeinen Willen des französischen Volks zum Ausdruck zu bringen. Sie verstehen das.«

Talleyrand blinzelte. »Wollen wir es hoffen, Bürger Konsul. Wenn Sie mich nun entschuldigen mögen, ich muss in mein Ministerium zurück und dafür sorgen, dass die Nachricht von dem Vertrag an unsere Botschaften geschickt wird. Ich bin hergekommen, weil ich es Ihnen einfach persönlich sagen wollte. Madame Bonaparte.« Er verbeugte sich erneut vor Josephine.

Napoleon nickte. »Ich danke Ihnen, Talleyrand. Für alles, was Sie getan haben.«

»Wie Sie sagten, Bürger, es sind Sie, dem wir für alles danken müssen, was Sie erreicht haben.«

Er neigte den Kopf, machte kehrt und schloss die Tür der Orangerie hinter sich, ehe er sich in Richtung der Ställe entfernte.

Josephine sah ihm einen Moment lang nach, dann schenkte sie sich und ihrem Mann noch eine Tasse Tee ein. »Dieser Mann durchschaut dich, Napoleon. Du musst dich vor ihm in Acht nehmen.«

»In Acht nehmen?« Der Gedanke schien Napoleon irgendwie zu kränken. »Mach dir keine Sorgen um ihn. Ich weiß genau, was er ist. Jeder Zoll ein Aristokrat, aber zumindest liegen ihm die Interessen des Landes am Herzen. Zumindest so weit kann ich ihm trauen.«

Josephine schürzte die Lippen. »Vielleicht …« Sie trank von ihrem Tee und fuhr dann fort: »Dieser Frieden, glaubst du, er wird halten?«

»Nein«, erwiderte Napoleon ohne Umschweife. »Die Engländer haben mehr aufgegeben, als ihnen lieb sein kann, und der Vertrag löst keines der Probleme, die zum Krieg geführt haben. Tatsächlich ist dieser Vertrag zum Scheitern verurteilt. Doch zumindest wird ganz Europa eine kurze Friedensperiode feiern können. Und das ist auf jeden Fall eine gute Sache.«

Josephine musterte ihn ruhig. »Heißt das, du wirst mehr Zeit mit mir verbringen können? Mir scheint, seit dem Anschlag auf dein Leben arbeitest du härter denn je. Es ist … als würdest du mir aus irgendeinem Grund aus dem Weg gehen.«

Napoleon sah sie an. Er nahm den gekränkten Blick in ihren Augen wahr und begriff plötzlich, wie sehr er sie für selbstverständlich genommen hatte. Und doch wollte er den Vorwurf nicht hinnehmen. »Es ist nicht meine Schuld, Josephine. Frankreich braucht mich. Ich muss mich der Nation hingeben. Es ist meine Pflicht. Es gibt so vieles zu tun. Immer noch so vieles zu tun.«

Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich weiß. Ich weiß das alles. Und es stimmt. Aber ich bin deine Frau, Napoleon. Hast du mir gegenüber keine Verpflichtungen? Als Hortense verletzt war, weißt du, bei wem ich Trost suchen musste? Bei meinem Sohn. Weil mein Mann zu beschäftigt war.«

Sie sprach die Worte in einem kalten, harten Ton, der ihn verletzte.

Josephine fuhr fort. »Du bist so beschäftigt, weil du es so entschieden hast. Es gibt nicht einen Zweig der Regierung, den du nicht beaufsichtigst, in den du dich nicht einmischst. Ich habe neulich eine Bemerkung aufgeschnappt, die einer deiner Beamten machte. Während du einen Brief diktiert hast, beugte er sich zu einem seiner Kollegen hinüber und murmelte: ›Gott schuf Bonaparte, und dann ruhte Er.‹ Ich würde mich an deiner Stelle nicht geschmeichelt fühlen. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er sich über deinen Ehrgeiz lustig gemacht hat.«

»Wer hat das gesagt?«

»Das verrate ich dir nicht«, erwiderte sie mit Nachdruck. Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen, ehe Josephine in besorgterem Ton fortfuhr. »Ich glaube nicht, dass es gesund ist, wenn ein Einzelner so schwer arbeitet. Nicht für dich und nicht für Frankreich.«

»Warum nicht?«

»Wenn du jede Verantwortung auf dich nimmst, was soll dann aus Frankreich werden, falls du uns genommen wirst? Auch du bist nicht immun gegen Krankheit. Und übrigens auch nicht gegen eine Bombe. Das Land würde in Anarchie stürzen, wenn du verloren gehst.«

Napoleon nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht.«

Josephine beugte sich vor und nahm seine Hand. »Dann musst du Männer finden, mit denen du die Last teilen kannst. Männer, denen du vertraust.«

»Nein. Geteilte Macht ist geschwächte Macht. Die einzige Garantie für ein stabiles Frankreich ist, wenn ich weiter die Kontrolle über die Regierung und die Armee innehabe.« Er sah seine Frau an und fragte sich, inwieweit er ihr seine Überlegungen anvertrauen sollte. Dann schnitten ihm ihre spitzen Bemerkungen über sein Versagen als Ehemann wieder ins Herz. Zumindest schuldete er ihr Vertrauen. Napoleon nahm ihre Hand in seine beiden und senkte die Stimme. »Ich habe mich bereits entschieden. Ich muss Frankreichs Herr bleiben, das Land braucht mich. Ich muss Erster Konsul auf Lebenszeit werden und das Recht bekommen, einen Nachfolger zu bestimmen. Nur das wird unserem Volk eine bessere Zukunft garantieren.«

Josephine schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt. Die große Menge an Macht hat dir den Kopf verdreht. Wie kannst du nur einen Moment glauben, die Politiker in den verschiedenen Räten werden dem zustimmen?«

»Nein, das glaube ich nicht«, räumte Napoleon ein, dann lächelte er fein. »Und deshalb habe ich nicht die Absicht, sie um ihre Zustimmung zu bitten.«

64

Der Kardinal aus Rom begann seinen Vortrag in Latein, und die mit monotoner Stimme abgelesenen Worte hallten durch den Innenraum von Notre Dame. Die meisten Gäste verstanden nicht viel von dieser Sprache, und ihre Mienen täuschten Interesse und Respekt nur vor, während die Botschaft des Heiligen Vaters verlesen wurde. Die Konsuln saßen auf einer Seite der Kanzel, während der Rest des Publikums in ordentlichen Reihen und im Sonntagsstaat mit dem Gesicht zum Kardinal saß. Man hatte Napoleon bereits eine Übersetzung gezeigt und ihm versichert, dass das Grußwort des Papsts an die Katholiken Frankreichs, in dem er seine große Freude über die Versöhnung zwischen dem französischen Volk und der Kirche zum Ausdruck brachte, keine unangenehmen Überraschungen enthielt. Tatsächlich hielt es Napoleon für ein ziemlich ödes Dokument, dem die feurige Leidenschaft der großen Reden der Revolutionsführer fast völlig fehlte. Dennoch, wenn die Landbevölkerung bekam, was sie brauchte und es dazu beitrug, das französische Volk zu einen, würde sich das Konkordat als sehr nützlich erweisen. Er staunte einen Moment lang über die Macht, die Religion auf die Gemüter von Menschen ausübte, obwohl Wissenschaft und Philosophie so viel mehr Einsicht in das Funktionieren der Welt und der Menschen, die sie bevölkerten, boten. Religion leistete seiner Ansicht nach wenig mehr, als dass sie diverse abergläubische Vorstellungen und Vorurteile in ein System brachte. Sie war der Vernunft nicht zugänglich, ganz ähnlich wie der Geist jener, die immer noch treu der Bourbonen-Monarchie anhingen. Zu gegebener Zeit würde eine Zwangserziehung der Massen aller Religion den Garaus machen – Napoleon hatte in Gedanken bereits grob ein nationales Schulsystem entworfen. Für den Augenblick erfüllte Religion ihren Zweck für ihn, und er würde sie akzeptieren, bis der Zeitpunkt kam, da man sie auf den Abfallhaufen der Geschichte werfen konnte.

Der Kardinal leierte immer weiter, und Napoleon ließ den Blick durch den Innenraum der Kathedrale wandern, über die Reihen der Offiziere und Politiker in den vorderen Reihen, die mit dem Gesicht zur Kanzel saßen. Er wusste sehr wohl um den Zorn und die Ablehnung, welche dieser Vertrag mit dem Papst unter ihnen hervorgerufen hatte. Es war ein knapp kalkuliertes Risiko gewesen, über ihre Köpfe hinweg an das französische Volk zu appellieren, aber es war wichtiger, die Royalisten von der Kirche zu trennen, als sich um die ideologischen Bedenken der Intellektuellen und Radikalen in der Pariser Gesellschaft zu sorgen. Davon abgesehen, würde er in den kommenden Monaten alle Unterstützung aus dem Volk brauchen, die er bekommen konnte.

Napoleon runzelte die Stirn und senkte den Kopf, als würde er über die Botschaft des Papstes nachsinnen. In Wirklichkeit versuchte er nur, sein Gesicht vor den anderen Leuten zu verbergen, da er befürchtete, einige von ihnen könnten seine Gedanken hinter seiner besorgten Miene erraten. Was ihn belastete, war Angst wegen der Reaktion des Tribunats hinsichtlich des Friedens, den er Frankreich gebracht hatte. Talleyrand, Fouché, Lucien und ihre Anhänger hatten fleißig den Boden für eine Abstimmung darüber bereitet, Napoleon zum Ersten Konsul auf Lebenszeit zu machen. Der Rat der Tribunen hatte dagegen nur angeboten, Napoleons gegenwärtiges Amt um weitere zehn Jahre zu verlängern.

War das der Lohn dafür, dass er Frankreich zum ersten Mal seit der Revolution Frieden gebracht hatte? Er schäumte innerlich und ballte die Faust, dann schob er sie in seinen Rock, damit man sie nicht sah. Glaubten die Narren tatsächlich, er würde dieses Besänftigungsmittel einfach klaglos akzeptieren, wenn noch so viel zu tun war, um Frankreich wieder an die Spitze der europäischen Mächte zu führen? Glaubten sie wirklich, jemand anderer hätte in der kurzen Zeit, seit er an der Macht war, so viel erreichen können wie Napoleon? Frankreich brauchte ihn. Mehr als es die undankbaren Mitglieder des Tribunats brauchte. Wenn die Zeit gekommen war, da das französische Volk deutlich zum Ausdruck brachte, was es empfand, würde Napoleon dafür sorgen, dass die gehässigen und kleinlichen Geister, die zwischen ihm und der glorreichen Realisierung von Frankeichs Zielen standen, mit all dem anderen unnützen Ballast, der die Nation hemmte, beiseitegefegt wurden.

Er holte tief Luft und blickte wieder auf. Der Kardinal war am Ende der päpstlichen Botschaft angekommen und stieg gerade von der Kanzel. Er ging gemessenen Schritts zum Altar und bereitete sich darauf vor, den Konsuln die Kommunion zu spenden. Napoleon hatte diesen Augenblick erwartet. Die Katholische Kirche würde sich wohl kaum die Gelegenheit entgehen lassen, mithilfe dieser Zeremonie ihrer Vorrangstellung selbst gegenüber den Herrschern Frankreichs Geltung zu verschaffen. Als sich der Kardinal umdrehte, die Hostie in der einen und den Kelch in der anderen Hand, stand Napoleon auf, verbeugte sich knapp und schritt unerschrocken den Gang zwischen den mächtigsten Männern Frankreichs hinunter. Er hielt das Kinn hoch erhoben und den Blick starr auf die Eingangstür der Kathedrale gerichtet. Doch auch so nahm er aus den Augenwinkeln die erstaunten Blicke und die belustigte Bewunderung der Anwesenden wahr.

»War das klug?«, fragte Talleyrand, als sie kurze Zeit später auf dem Balkon des Palais Luxembourg standen und den Jubel der riesigen Menschenmenge entgegennahmen, die sich zur Feier des Konkordats versammelt hatte. Der Erste Konsul und sein Außenminister sonnten sich in der Bewunderung des Volks.

»Es war notwendig. Es war wichtig, sowohl dem Papst als auch unserem Volk zu zeigen, dass der Staat der Kirche keine Gefolgschaft schuldet.«

»Nun ja, ich denke, genauso wird es Seine Heiligkeit sehen, wenn ihm der Kardinal berichtet. Ich hoffe nur, es lässt das Konkordat nicht kurz nachdem es geschlossen wurde schon wieder in die Brüche gehen.«

»Das wird es nicht«, erwiderte Napoleon zuversichtlich. »Die Kirche braucht das Abkommen ebenso sehr wie wir.« Er sah den Außenminister an. »Die eigentliche Schwierigkeit, der wir uns gegenübersehen, besteht darin, den Frieden mit England zu bewahren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie uns so viel Zeit wie möglich verschaffen, ehe der Krieg wieder ausbricht.«

»Ich werde tun, was ich kann«, erwiderte Talleyrand ruhig.

»Nein.« Napoleon schüttelte den Kopf. »Sie werden tun, was ich sage. Unser aller Schicksal hängt davon ab.« Er wandte sich wieder der Menge zu und winkte ein letztes Mal, ehe er sich umdrehte und durch die hohen Glastüren in sein Arbeitszimmer zurückging. Talleyrand folgte ihm. Fouché saß bereits neben dem Schreibtisch und wartete auf sie. Napoleon hatte es für klüger gehalten, die Huldigung der Öffentlichkeit nicht mit Fouché zu teilen, der jetzt bereits zu einer sinisteren Gestalt geworden war und den die Leute in den kommenden Monaten wahrscheinlich zu hassen und fürchten lernen würden. Napoleon nahm an seinem Schreibtisch Platz, und Talleyrand suchte sich einen Stuhl, der so weit von Fouché entfernt war, wie es die Höflichkeit gerade noch zuließ.

»Halb Paris muss da draußen sein.« Fouché lächelte. »Mir scheint, die Leute lieben Sie inzwischen, Erster Konsul.«

»Lieben?« Napoleon zuckte mit den Achseln. »Kann schon sein, dass sie das für mich empfinden. Im Augenblick. Aber die Menge ist wankelmütig. Das haben wir während der Revolution alle erlebt. Deshalb bedeutet mir ihre Liebe wenig. Mich interessiert lediglich, dass wir ihnen keinen Grund liefern, sich der neuen Ordnung zu widersetzen. Das ist unser Auftrag, meine Herren. Solange uns das gelingt, können wir Frankreich nach Belieben umbauen und seinen Einfluss in andere Länder tragen.« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. »Sie haben den Frieden, den sie sich wünschten. Sie haben Recht und Ordnung. Wir müssen die Vorteile des Konsulats weiter ausdehnen. Ich möchte, dass jeder Mann in Frankreich die Möglichkeit hat, aus eigenem Verdienst aufzusteigen und nicht, weil er der Sohn eines Aristokraten ist. Ich möchte, dass es allen Menschen in Frankreich möglich wird, Bildung zu erlangen und vorwärtszukommen. Wir werden ein nationales Bildungssystem schaffen. Wir werden außerdem ein nationales System öffentlicher Anerkennung für Leistung ins Leben rufen.« Seine Gedanken eilten weit voraus. »Eine Auszeichnung für Leistung auf allen Gebieten, zivilen wie militärischen. Wir werden eine Körperschaft gründen, die von der Nation geehrt wird, eine Ehrenlegion, wenn Sie so wollen.«

»Ehrenlegion?« Talleyrand schürzte die Lippen. »Ein lobenswerter Gedanke, wenngleich ich mir nicht sicher bin, ob die militärischen Empfänger solcher Auszeichnungen erfreut sein werden, sie sich mit Wissenschaftlern, Künstlern und dergleichen zu teilen.«

»Mag sein, aber sie werden sich daran gewöhnen müssen. Was zählt, ist, dass wir alle Leute in das neue System einbinden.«

»Und was ist mit denjenigen, die lieber nicht dazugehören wollen?«

»An dieser Stelle kommt unser Freund Fouché ins Spiel.«

Fouché neigte höflich den Kopf.

Napoleon fuhr fort. »Während die Regierung das Zuckerbrot bereithält, droht Fouché mit der Peitsche. Es wird eine strenge Zensur von Zeitungen, Theatern, öffentlichen Versammlungen geben. Niemandem wird es erlaubt sein, Ideen zu verbreiten, die das Regime untergraben. Gleichzeitig wird Fouché ermächtigt werden, ein System von Militärtribunalen in den Gebieten einzurichten, in denen es irgendwelche Unruhen gibt. Für die Allgemeinheit wird der Zweck der Tribunale sein, gefasste Aufständische im Schnellverfahren abzuurteilen. In der Praxis werden sie uns Mittel und Rechtfertigung liefern, um Royalisten und Radikale zu verhaften, die uns Ärger machen.«

»Ich verstehe. Und wann beabsichtigten Sie das alles umzusetzen?«

»Sobald ich Erster Konsul auf Lebenszeit geworden bin.«

Talleyrand konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. »Glauben Sie wirklich, die Räte werden Ihnen derart viel Macht zubilligen?«

»Das glaube ich nicht einen Moment«, gab Napoleon zu. »Und deshalb werden Sie und meine übrigen Anhänger einen Zusatz zum Antrag des Tribunats einbringen, in dem mir eine Verlängerung meiner Amtszeit angeboten wird.« Napoleon verschränkte die Hände. »Sie werden den Antrag unter der Bedingung annehmen, dass es eine Volksabstimmung darüber gibt, ob ich Erster Konsul auf Lebenszeit werden soll, mit dem Recht, meinen Nachfolger zu bestimmen.«

Die beiden anderen Männer schwiegen einen Moment, dann beugte sich Fouché mit einem erregten Funkeln in den Augen vor. »Ausgezeichnet … ganz ausgezeichnet. Sie werden kaum Einwände erheben können, wenn die Entscheidung dem Volk überlassen wird. Andernfalls würden sie wie Verräter an der Demokratie dastehen. Sie werden keine andere Wahl haben, als dem Zusatzantrag zuzustimmen.«

Talleyrand nickte anerkennend. »Das wird sie vollkommen überrumpeln.«

Napoleon schwieg, während die beiden anderen über seinen Geniestreich nachdachten. Es war das perfekte politische Manöver, und die Tatsache, dass seine Gegner gezwungen sein würden, das Plebiszit sogar zu unterstützen, bot einen besonderen zusätzlichen Genuss.

»Eins dürfen wir nicht aus den Augen verlieren«, sagte Talleyrand. »Wir müssen schnell handeln. Wenn sich die Leute erst einmal an Frieden gewöhnt haben, wird die Verehrung des Volks unweigerlich nachlassen. Der Zusatzantrag lässt sich schnell durchdrücken, aber wir müssen darauf bestehen, dass die Volksabstimmung möglichst bald stattfindet.«

»Natürlich«, stimmte Napoleon zu. »Es gibt keinen Grund, warum sie nicht schon im August stattfinden könnte.«

Talleyrand dachte einen Moment darüber nach und nickte. »Dann also im August.«

Wie von Napoleon vorausgesehen, wurde der Ergänzungsantrag von einer klaren Mehrheit getragen. Als alles vorbei war, schlichen seine politischen Gegner aus den Sitzungssälen der verschiedenen Kammern und kochten vor Wut, weil sie gezwungen gewesen waren, aufgrund ihrer lauthals bekundeten Unterstützung für die Stimme des Volks dafür zu stimmen. Besser noch, die Verkündigung des Ergebnisses war für August geplant, genau wie von Napoleon gewünscht.

In den folgenden Monaten sorgte er dafür, dass das Volk von Paris mit jeder Menge Unterhaltung und Militärparaden versorgt wurde. Er ordnete an, dass seine untergebenen Offiziere dazu in Paradeuniform zu erscheinen hatten, mit Federbauschen an den gold verzierten Zweispitzen. Im Kontrast dazu erschien er selbst in einem schlichten Uniformrock, wie ihn ein Offizier vielleicht auf einem Feldzug tragen mochte, und befestigte eine Revolutionskokarde an seiner Kopfbedeckung. Die Zeitungen im ganzen Land lobten die Verbesserungen, die der Erste Konsul in fast allen Lebensbereichen bewirkte. Hinter der Fassade von Frieden und Wohlstand brachte Fouché Napoleons Kritiker und Feinde zum Schweigen. Bekennende Royalisten und Jakobiner wurden ohne viel Aufhebens verhaftet, vor die Militärtribunale gestellt und ohne Rücksicht auf juristische Feinheiten rasch verurteilt. Viele wurden deportiert oder in die Verbannung geschickt. Eine Handvoll unbußfertiger Gefangener wurde zum Tode verurteilt und in Kasernen außerhalb von Paris gebracht, wo man sie erschoss und in namenlosen Gräbern verscharrte.

Trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen bestand im Grunde nicht der geringste Zweifel daran, dass sich das Volk dem Helden anschließen würde, der das korrupte Direktorium hinweggefegt hatte und sein Leben der Aufgabe widmete, das Los der Franzosen zu verbessern. Mitte Juli bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen im ganzen Land, da die Leute ihr Votum abgaben. Während die Stimmen ausgezählt wurden, blieb Napoleon in Paris und arbeitete hart an Plänen, den Getreidepreis zu regulieren, sodass die ärmsten Bürger nie wieder Hunger zu fürchten hatten.

So meldeten es zumindest die Zeitungen. In Wahrheit machte sich Napoleon Sorgen, wie hoch die Mehrheit für ihn in der Volksabstimmung ausfallen würde. Fiel sie nicht hoch genug aus, würden seine Gegner Mut fassen, weil noch eine erhebliche Zahl von Leuten gegen Napoleon war. Nur eine überwältigende Mehrheit würde die Angelegenheit unstrittig klären und Frankreich wie dem Rest Europas beweisen, dass Napoleon mit einer moralischen Autorität regierte, welche die Bourbonen in den Jahrhunderten ihrer Herrschaft über Frankreich nie besessen hatten.

Am letzten Julitag, nachdem die endgültigen Ergebnisse an die Hauptstadt übermittelt worden waren, nahm Napoleon an einem Picknick mit Josephine und ihren Freunden in den Gärten der Tuilerien teil. Sie hatte beabsichtigt, es am Ufer der Seine abzuhalten, abseits des Trubels und der schwülen Hitze der Hauptstadt, aber Napoleon konnte die Vorstellung nicht ertragen, nicht in Paris zu sein, wenn das Ergebnis der Volksabstimmung bekannt wurde. Also saß die Gruppe mit Blick zum Fluss auf sauberen Decken, inmitten gestutzter Blumenbeete. Das faulige Wasser floss vorbei und spiegelte die überbevölkerten Elendsquartiere am gegenüberliegenden Ufer. Eine Kompanie der Konsulargarde bildete einen losen Kordon um die Gäste herum. Ihre Anwesenheit störte die friedliche Idylle, die Josephine hatte schaffen wollen.

»Müssen die dort stehen?«, fragte sie leise. »Sie lassen uns wie Gefangene aussehen.«

»Hm?« Napoleon sah sie an und nahm gleichzeitig wahr, dass er seit mehreren Minuten ein Stück Schinken-Käse-Tarte in der Hand hielt. Er biss davon ab und antwortete, sobald er geschluckt hatte. »Sie sind hier, um uns zu beschützen.«

»Vor wem? Ich dachte, alle lieben dich.«

»Versuche einfach, nicht weiter auf sie zu achten, Liebste, dann tun es deine Gäste sicher auch nicht.«

»Nicht auf sie achten?« Josephine wandte sich zu einigen der Männer um, die in fünfzig Schritt Entfernung in Habachtstellung standen. Alle trugen eine hohe Bärenfellmütze, die ihre natürliche Körpergröße noch betonte. »Das geht wohl nicht. Außerdem würde ich wirklich gern wissen, vor wem sie uns beschützen«, ließ sie nicht locker.

»Vor den üblichen Unzufriedenen, und vor Leuten, die von ausländischen Agenten angeheuert wurden, um Unruhe zu stiften.«

»Jetzt klingst du genauso wie eine dieser speichelleckerischen Zeitungen, die mit Freuden über jeden herfallen, der dich kritisiert.«

»So schlimm ist es nicht. Die Franzosen dürfen immer noch sagen, was sie wollen.«

»Solange sie es nicht zu laut sagen.«

Napoleon seufzte. »Wer hat diesmal mit Dreck geworfen? Dein Freund Barras? Oder diese hochnäsige Madame de Staël?«

Josephine schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Musstest du sie aus Paris verbannen?«

»Das war ich nicht. Es war die Entscheidung des Polizeiministers.«

»Dieser erbärmliche Fouché«, höhnte Josephine. »Der ist doch kaum mehr als dein Schoßhund.«

»Er ist sehr viel mehr. Wenn Fouché de Staël ins Exil geschickt hat, dann kannst du dir sicher sein, dass er gute Gründe dafür hatte.«

»Wirklich? Bist du dir sicher? Aus der Pariser Gesellschaft ist in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Leuten verschwunden, und niemanden von ihnen würde ich als gefährlichen Feind bezeichnen.«

»Sie mussten gehen. Zum Wohl der Öffentlichkeit.« Napoleon griff nach einigen Trauben und schob sich eine in den Mund. »Sie dürfen zurückkehren, sobald sie Vernunft annehmen und ihre Ansichten für sich behalten können. Wer weiß, wie weit sie ihre Verschwörungen treiben würden, wenn wir ihn erlaubten, in Paris zu bleiben.«

»Nun hör aber auf. Wie viele von denen sind denn deiner Ansicht nach wirklich gefährlich?«

»Ich weiß es nicht. Aber die Männer, die dich und mich töten wollten und Hortense verletzt haben, die sind nicht aus dem Nichts aufgetaucht.«

Es war eine unsanfte Erinnerung, und Napoleon taten seine Worte leid, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Josephine drehte sich empört von ihm weg, aber Napoleon durchschaute die Geste, als sie sich rasch eine Träne mit dem Ärmel fortwischte.

»Es tut mir leid, meine Liebe. Ich wollte dich nicht aufregen.« Er streckte die Hand aus und legte sie sanft auf ihre Schulter. »Wirklich nicht.«

»Es spielt keine Rolle«, antwortete sie mit stockender Stimme. »Du hast wahrscheinlich recht. Wie meistens.« Sie sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln, aber dann erstarrte ihr Gesichtsausdruck bei einem Blick über seine Schulter. »Dort kommt dein widerlicher kleiner Polizist.«

Napoleon fuhr herum und stand auf, als er Fouché durch den Garten auf die Picknickgäste zuschreiten sah. Sobald er Napoleon erblickte, setzte er ein Lächeln auf und beschleunigte seinen Schritt.

»Das Ergebnis?«, fragte Napoleon sofort. »Ist es da?«

»Ja, Bürger.« Fouché lachte leise. »Oder sollte ich sagen: Erster Konsul auf Lebenszeit?«

Napoleon packte Fouché am Arm. »Die Zahlen. Sagen Sie mir, wie sie ausgefallen sind.«

»Dreieinhalb Millionen Ja-Stimmen … Achttausend haben mit Nein gestimmt.«

»Großer Gott«, murmelte Napoleon. »Ist das wahr?«

»Verlassen Sie sich darauf. Wäre die Wahl manipuliert worden, hätten die nicht einmal achthundert bekommen.«

»Das war es dann. Frankreich ist so gut wie mein.«

65

Trotz des Vertrags von Amiens behielt Napoleon die Aktivitäten der Engländer in den folgenden Monaten genau im Auge. Obwohl die meisten Bestimmungen von beiden Ländern respektiert wurden, blieben die Differenzen zwischen ihnen so tief wie der Ozean. Auch während Napoleon Regierungssystem und Verwaltung Frankreichs mit allen möglichen Reformen zu verbessern trachtete, wanderten seine Gedanken ständig zu der Auseinandersetzung mit dem ältesten Feind der Revolution. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass der Krieg wieder aufflammen würde, doch solange auch nur die geringste Chance auf dauerhaften Frieden bestand, würde er sie ergreifen.

Talleyrand hegte inbrünstig dieselbe Hoffnung, und er suchte jede wache Stunde nach Mitteln, wie verhindert werden konnte, dass Europa in einen blutigen Konflikt zurückschlidderte. Der Außenminister war eisern gegen Krieg eingestellt, und zum ersten Mal spürte Napoleon, dass eine Zeit kommen könnte, da die Prinzipien des Mannes mehr Gewicht haben würden als seine Nützlichkeit. Napoleon traute ihm nicht. Sein Verdacht wurde bestätigt, als Fouché ihm die polizeiliche Akte zeigte, die über Talleyrand geführt wurde.

Während Napoleon die Dokumente durchsah, saß Fouché so still und schweigsam auf der anderen Seite des Schreibtischs, dass Napoleon seine Anwesenheit kaum wahrnahm. Auf der letzten Seite angekommen, holte er tief Luft und lehnte sich zurück.

»Höchst interessant …« Napoleon schob die Akte über den Tisch und lächelte. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es auf Verrat hinausläuft.«

Fouché zog kurz die Augenbrauen in die Höhe. »Vielleicht nicht. Aber die Namen seiner Gefährten und Geliebten lassen einige Rückschlüsse zu, finden Sie nicht?«

»Die sind schlicht nur das Treibgut im Kreislauf der Pariser Salons.« Napoleon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie stellen keine Gefahr für uns dar.«

»Mag sein.« Fouché hielt inne und sah dem Ersten Konsul in die Augen. »Aber wir sollten das Risiko für Sie … und Ihre Familie nicht ignorieren oder unterschätzen. Nachdem diese teuflische Sprengvorrichtung Sie auf dem Weg zur Oper fast getötet hätte – wer kann da sagen, wie viel Verrat es noch gibt im Land? Sie müssen auf der Hut sein, Bürger.«

Napoleon runzelte die Stirn bei der Erinnerung, während Fouché innehielt, um seine Worte wirken zu lassen, ehe er fortfuhr. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich Talleyrand Tag und Nacht beobachten lassen, damit wir eine vollständige Liste seiner Kontakte erhalten.«

»Mit meiner Erlaubnis?« Napoleon dachte nach. »Und wenn ich Ihnen die Erlaubnis nicht erteile, nehme ich an, Sie lassen ihn trotzdem beobachten.«

»Selbstverständlich nicht, Bürger«, erwiderte Fouché gekränkt. »Ich bin Ihr treuer Diener. Ich würde Sie niemals täuschen.«

»Tatsächlich?«

»Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass jede Bedrohung für die Regierung und das französische Volk erkannt und beseitigt wird, bevor sie Schaden anrichten kann.«

»Und Sie halten Talleyrand für eine Bedrohung.«

»Das bezweifle ich, Monsieur. Im Augenblick nicht. Meine Sorge ist, dass er nicht diskret genug ist, was die Leute angeht, mit denen er verkehrt, und in dem, was er in einem unachtsamen Moment vielleicht ausplaudern könnte.«

Napoleon musste lachen. »Talleyrand ist der diskreteste Mensch, dem ich je begegnet bin! Davon abgesehen, würde er Frankreich niemals verraten.«

»Nein. Nicht Frankreich. Aber als Adliger könnte er die alte Ordnung der neuen vorziehen. Möglicherweise ist seine Vision Frankreichs nicht dieselbe wie unsere, Bürger.« Fouché zuckte mit den Achseln. »Das wäre angesichts seiner Vergangenheit durchaus verständlich.«

Napoleon dachte darüber nach. Es traf zu, dass Talleyrand Aristokrat war. Doch seine Ansichten, so wie er sie zum Ausdruck brachte, zeugten von einem radikalen Denken. Auch wenn er während der Revolution im Ausland gewesen war, hatte Talleyrand seinem Land seit seiner Rückkehr treu gedient. Es war hauptsächlich seinem Geschick zu verdanken, dass der Vertrag von Amiens so vorteilhaft für Frankreich ausgefallen war, und dank ihm konnte Frankreich endlich Frieden mit dem Rest Europas genießen. Und doch … Was, wenn Talleyrand zugunsten der Royalisten gegen Napoleon intrigierte? Was, wenn hinter seinem gesellschaftlichen Zirkel mehr steckte, als es den Anschein hatte? Einige der in dem Bericht Genannten zählten sicherlich zu Napoleons schärfsten Kritikern und politischen Gegnern. Wie Fouché gesagt hatte – Napoleon sollte lieber auf der Hut sein.

»Nun gut. Lassen Sie ihn beobachten. Aber sorgen Sie dafür, dass er nichts davon merkt. Ich möchte nicht, dass Talleyrand glaubt, ich hätte das Vertrauen in ihn verloren. Nur für den Fall, dass es keinen Beweis für eine Untreue gibt.«

»Ich verstehe, Bürger.« Fouché beugte sich vor und nahm seine Mappe zur Hand. »Ich kümmere mich sofort darum.«

Etwas in seinem Tonfall ließ Napoleon seinen Polizeiminister aufmerksam ansehen. Er glaubte, eine Spur von Triumph herausgehört zu haben, und Napoleon fragte sich plötzlich, ob sich Fouché aufrichtig Sorgen um Talleyrands Loyalität machte oder einen potenziellen Rivalen in seinem Ringen um mehr Macht und Einfluss im Herzen der Regierung zu untergraben versuchte. Das schmale Gesicht mit der straff gespannten Haut über dem Schädel und die zusammengekniffenen, wissenden Augen riefen kein Vertrauen hervor, und Napoleon begriff, dass Fouché – mangels öffentlicher Zuneigung – gezwungen war, zu intrigieren, um sein Vorankommen zu sichern. In gleicher Weise war Talleyrand darauf angewiesen, seinen Charme und seinen Witz einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen. Zwei Seiten derselben Medaille also, schloss Napoleon müde. Würde es von nun an immer so sein – ein ständiges Positionsgerangel zwischen seinen Untergebenen, ein pausenloses Intrigieren gegeneinander?

»Fouché?«, sagte er leise.

»Ja Bürger?«

»Ich weiß die gewissenhafte, um nicht zu sagen fanatische Art und Weise zu schätzen, in der Sie Ihre Pflicht ausgeübt haben. Aber vielleicht ist es jetzt, da mich die Volksabstimmung auf Lebenszeit an die Macht gebracht hat, nicht mehr nötig, so viele Leute zu verhaften.«

»Sie haben immer noch Feinde, Bürger.«

»Und ich würde es vorziehen, wenn Sie mir keine neuen schafften. Verstanden?«

»Ja.«

»Also seien Sie vorsichtig mit Talleyrand. Er hat mächtige Freunde.«

»Mag sein. Aber das wird ihn nicht retten, wenn er Verrat begeht.«

»Nein«, räumte Napoleon ein. »Sehen Sie einfach zu, dass Sie genügend Beweise haben, wenn es so weit ist.«

In den folgenden Monaten behielt Napoleon seine wichtigsten Minister argwöhnisch im Auge. Fouché setzte seinen Feldzug gegen die Rebellen im Vendée so rigoros wie eh und je fort, ging in Paris jedoch zurückhaltender vor, wo er einige der strengen Auflagen für öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen lockerte und nicht mehr so oft Journalisten einsperrte. Talleyrand für seinen Teil arbeitete weiter hart daran, die ausländischen Botschafter davon zu überzeugen, dass es Frankreich mit seinem Friedenswunsch ernst meinte. Seine Aufgabe wurde durch die Unversöhnlichkeit der Engländer und den Opportunismus des Ersten Konsuls nicht einfacher. Obwohl die Engländer garantiert hatten, Malta binnen drei Monaten an den Johanniterorden zurückzugeben, war die Insel immer noch in ihrer Hand. Als der Sommer zu Ende ging und die britische Garnison nicht abgezogen war, rief Napoleon seinen Außenminister und den britischen Botschafter in das Schloss in St. Cloud, das renoviert worden war und nun als Diplomatenresidenz der Regierung abseits des Lärms und Drecks der Hauptstadt diente.

Um dem Treffen ein wenig von der angespannten Atmosphäre zu nehmen, hatte Talleyrand vorgeschlagen, ein Buffet mit Köstlichkeiten aus der Region im Empfangszimmer mit Blick auf den Garten aufbauen zu lassen. Auch eine kleine Gruppe von Honoratioren war eingeladen worden, und während Josephine als Gastgeberin für den Rest fungierte, zogen sich die drei Männer in eine kleine Laube am Ende des Hauptrasens zurück, wo sie sich in den Schatten von Weinranken setzten, um sich zu unterhalten. Lord Whitworth war hochgewachsen, über einen Meter achtzig groß, und starrsinnig, mit der üblichen Unverblümtheit, die an Grobheit grenzte und so typisch für viele seiner Landsleute von hoher Geburt zu sein schien. Wenigstens sprach er ein anständiges Französisch, räumte Napoleon ein, als sie rasch vom Austausch von Höflichkeiten zur eigentlichen Angelegenheit des Tages wechselten.

»Ich muss zugeben«, sagte Lord Whitworth und schlug die langen Beine übereinander, »dass die Regierung Seiner Majestät sich sehr über die Weigerung Frankreichs wundert, einen Handelsvertrag zwischen unseren Ländern zu unterzeichnen.«

»Wie kann ich dem zustimmen, wenn Sie nach wie vor in Malta bleiben?«, erwiderte Napoleon. »Sie verstehen doch sicher, dass es schwer ist, einen neuen Vertrag gegenüber meinem Volk zu rechtfertigen, solange der alte noch nicht erfüllt ist.«

Whitworth legte den Kopf leicht schief. »Die Lage hat sich verändert.«

»Nein, das hat sie nicht. Ihre Truppen sind immer noch dort. Übergabe binnen drei Monaten, sagten Sie. Dann sagten Sie, Sie könnten nicht abziehen, ehe ein Großmeister des Ordens ernannt worden sei. Als der Papst den neuen Großmeister guthieß, haben Sie sich geweigert, die Ernennungsurkunde zu unterschreiben. Als ich anbot, neapolitanische Truppen als neutrale Besatzungsmacht zu akzeptieren, wollten Sie diese nicht auf der Insel landen lassen.« Napoleon hielt inne und seufzte. »Lord Whitworth, Frankreich hat in dieser Angelegenheit große Geduld bewiesen, aber unsere Geduld ist nicht grenzenlos. Also sagen Sie mir: Wann wird England Malta an seine rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben?«

»Ja, also …«, erwiderte der Botschafter verlegen. »Die Sache ist nämlich … Die Regierung Seiner Majestät hat beschlossen, dass die Bestimmungen des Vertrags nicht mehr gelten, nachdem die ursprüngliche Frist von drei Monaten abgelaufen ist.«

»Wie bitte?«, entgegnete Napoleon in scharfem Ton. »Das müssen Sie erklären.«

»Es ist natürlich unsere ehrliche Absicht, die Insel zu verlassen. Da jedoch die Bedingungen des Vertrags der aktuellen Situation nicht gerecht werden konnten, macht England sein Recht geltend, im Besitz der Insel zu bleiben.«

»Welches Recht?« Napoleon schnaubte höhnisch. »Sie haben kein Recht, dort zu sein.«

»Ich bitte Sie, sich differenzierter auszudrücken, Monsieur.«

»Ihre anhaltende Besetzung verletzt den Geist und den Buchstaben des Vertrags, und Sie wissen es.«

»Das ist Ihre Meinung.«

»Das ist die Meinung eines jeden vernünftigen Menschen in Europa!«

Ehe Lord Whitworth auf Napoleons plötzlich aufflammenden Zorn reagieren konnte, griff Talleyrand ein. »Der Erste Konsul hat recht, Mylord. Die Haltung Ihrer Regierung ist unwürdig, und alle wissen es. Dennoch verstehe ich, dass Sie so an Malta hängen. Es besitzt eine gewisse strategische Bedeutung für die Royal Navy, und da der neue Großmeister zufällig Zar Alexander ist, macht es Sie verständlicherweise nervös, Russland einen Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen, insbesondere wenn man das Interesse des Lands am Zerfall des türkischen Reichs berücksichtigt.« Talleyrand hielt inne und lächelte dann. »Habe ich die Sorgen Ihrer Regierung damit in etwa richtig wiedergegeben?«

Whitworth nickte kaum merklich. »Nehmen wir einmal an, ich stimme dem zu.«

»Könnten wir dann weiterhin annehmen, Sie akzeptieren, dass der mögliche Nutzen aus einer anhaltenden Besetzung der Insel nichts im Vergleich zu dem gewaltigen Verlust an Menschenleben und Wohlstand wäre – falls Ihre Nichterfüllung des Vertrags ein Aufleben der Feindseligkeiten provozieren würde?«

»Wollen Sie England etwa drohen, Monsieur?« Whitworths Ton war wütend. »Wünschen Sie einen Krieg?«

»Nein, Mylord. Sie?«

»Natürlich nicht.«

Napoleon stieß ihm den Zeigefinger entgegen. »Dann geben Sie Malta auf.«

Whitworth schüttelte den Kopf. »Dem wird England nicht zustimmen. Zumindest nicht jetzt.«

»Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Nach einer kurzen Pause antwortete Whitworth. »Nicht in den nächsten sieben Jahren.«

»Sieben Jahre?« Napoleon riss wütend die Augen auf. »Sieben Jahre? Sie scherzen doch wohl, mein Herr, oder?«

»Ich versichere Ihnen, ich scherze nicht, Monsieur.«

»Das ist ungeheuerlich!« Napoleon ballte die Fäuste und beugte sich so abrupt vor, dass Talleyrand befürchtete, er könnte den Botschafter schlagen. Er stand auf und trat zwischen die beiden.

»Meine Herren, senken Sie doch um Himmels willen die Stimme.« Er deutete zum Rasen, wo einige der Gäste nach Napoleons Ausbruch den Kopf zu der Laube gewandt hatten. Der Außenminister fuhr fort. »Wir müssen unsere Gemütslage der Vernunft unterordnen. Das Schicksal Europas hängt von uns ab.«

Napoleon sah ihn einen Moment lang zornig an, dann kniff er den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, löste die Fäuste und lehnte sich zurück. Talleyrand wartete noch einen Moment, dann wandte er sich wieder an den Botschafter. »Mylord, mir scheint, dass Malta hier gar nicht das eigentliche Problem ist. Vielleicht glaubt Ihr Land, dass Frankreich irgendwie eine Gefahr für die Interessen Englands darstellt. Wenn Sie versuchen könnten, Ihre Befürchtungen genauer zu erläutern, könnten wir vielleicht zu einem besseren Einverständnis gelangen.«

Whitworth dachte über den Vorschlag nach und nickte. »Nun gut. Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich die Überlegungen meiner politischen Herren zwar kenne, aber nicht für sie spreche. Was hier zwischen uns gesagt wird, ist nichts weiter als ein informeller Austausch. Einverstanden?«

Talleyrand sah Napoleon fragend an. »Ist das annehmbar, Bürger?«

Napoleon nickte, wenngleich er den Botschafter noch immer mit gefurchter Stirn betrachtete. »Fahren Sie fort.«

Whitworth räusperte sich und begann. »Trotz des Vertrags ist England besorgt, dass Frankreich nicht zum Frieden entschlossen ist. Wir müssen mit Europa Handel treiben, doch wir stellen fest, dass der Erste Konsul gewillt zu sein scheint, den englischen Geschäften mit dem Kontinent jedes nur erdenkliche Hindernis in den Weg zu legen. Dann wäre da unsere Sorge wegen der territorialen Ambitionen Frankreichs. In den letzten Monaten haben Sie Piemont, Elba, Holland und Parma annektiert. Wir fragen uns, welche Länder Sie als Nächstes an sich reißen werden. Insbesondere, da Sie entschlossen zu sein scheinen, die Zahl der deutschen Fürstentümer zu verringern und sie in den französischen Einflussbereich zu ziehen. Und was ist mit Ihren breiter gefassten Interessen?« Er sah Napoleon direkt an, als er weitersprach. »Unser Botschafter in Spanien hat festgestellt, dass Sie zu höchst undiplomatischen Drohungen Zuflucht genommen haben, um Spanien zur Rückgabe Ihres Territoriums Louisiana in Amerika zu bewegen. In diesem Augenblick schlägt eine große französische Armee einen Sklavenaufstand in San Domingo nieder. Sie verstehen doch sicher unsere Nervosität angesichts einer so starken Streitmacht in einer Region, wo wir weitaus weniger Soldaten stationiert haben? Von unserer Seite des Kanals sieht es so aus, als würde Frankreich den Frieden lediglich dazu benutzen, den Boden für einen Krieg zu bereiten. Versetzen Sie sich in unsere Lage, und Sie werden zustimmen müssen, dass unsere Bedenken sehr wohl berechtigt erscheinen.«

»Ich verstehe das sehr gut.« Talleyrand nickte. »Aber ich versichere Ihnen, Frankreich genießt den gegenwärtigen Frieden und regelt lediglich noch ausstehende Angelegenheiten, damit es sich der Vorteile der wachsenden Harmonie zwischen unseren Nationen erfreuen kann.«

»Welche Harmonie?« Whitworth schüttelte den Kopf. »Was an Harmonie noch geblieben sein mag, es welkt im Augenblick und wächst nicht.«

»Dann müssen wir dringend alles tun, was wir können, um die Lage zu verbessern, und zwar so rasch wie möglich. Also sagen Sie uns, was würde die Regierung Seiner Majestät von Frankreich verlangen, um die Spannungen zwischen unseren Ländern abzubauen?«

Napoleon beobachtete Whitworth aufmerksam, während der Engländer seine Gedanken sammelte und antwortete: »Öffnen Sie Europas Häfen für unsere Schiffe und unsere Kaufleute. Bringen Sie diesen Aufstand in San Domingo in Ordnung, und holen Sie Ihre Armee nach Hause. Und geben Sie die Gebiete, die Sie annektiert haben, ihren früheren Eigentümern zurück.«

»Er verlangt Unmögliches!«, beschwerte sich Napoleon bei Talleyrand, dann ging er auf den Botschafter los. »Und wenn ich diesen Forderungen nachgäbe, würden Sie sich revanchieren? Würden Sie Malta aufgeben? Würden Sie aufhören, den Emigranten Zuflucht zu bieten, die ihre Galle in die schändlichen Pamphlete ergießen, die in unseren Straßen auftauchen? Glauben Sie bloß nicht, ich wüsste nicht, wer ihre Lügen finanziert. Aus derselben Quelle stammt das Geld für die Bewaffnung der Aufständischen in der Vendée, und fraglos sind auch die Hurensöhne, die mich ermorden wollten, daraus versorgt worden. Sie gewähren ihnen auf den Kanalinseln Zuflucht, und es sind Ihre Schiffe, die sie an unseren Küsten absetzen, damit sie ihr Unheil anrichten können. Ist England bereit, zu akzeptieren, dass Frankreich nicht mehr das Land der Bourbonen ist? Ist England bereit anzuerkennen, dass Frankreich endlich eine freie Nation ist?«

»Eine freie Nation?« Whitworth lächelte spöttisch. »Eine freie Nation unter Bonaparte. Was genau ist der Unterschied zwischen einem absoluten Monarchen und einem Ersten Konsul auf Lebenszeit?«

»Der Unterschied ist, dass ich vom Volk gewählt wurde.« Napoleon schob das Kinn vor. »Ich verkörpere seinen Willen.«

»Wirklich? Und wer wollte behaupten, dass Seine Majestät nicht den Willen unseres Volks verkörpert?«

»Warum fragen Sie es dann nicht?« Napoleon lächelte kühl. »Warum fragen Sie Ihr Volk nicht? Wenn Sie keine Angst haben, was es antworten könnte.«

Whitworth sah ihn einen Moment lang schweigend an, ehe er zu einer Erwiderung ansetzte. »Die einfachen Leute verfügen nicht über die Kenntnisse und über den Willen, in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Und bis sie dazu in der Lage sind, legen die gesellschaftlich Höherstehenden fest, was ihr Interesse und das von England im Ganzen ist.«

Napoleon schüttelte den Kopf. Diese Aristokraten waren alle gleich, von einem Ende Europas bis ans andere. Arrogant, gierig und wild entschlossen, sich an die Macht zu klammern, die ihnen von ihren Vorfahren in den Schoß gelegt wurde. Eher kämpften sie bis zum letzten Atemzug, als dass sie einem Mann wie Napoleon mit all seinen natürlichen Vorteilen an Intellekt und Ehrgeiz erlaubten, ihre veralteten Nationen zu weitaus leistungsfähigeren und gerechteren Gesellschaften umzubauen.

Talleyrand blickte mit wachsender Verzweiflung von einem der beiden Männer zum anderen. Es gab keinen Funken von Versöhnung zwischen ihnen, und das Herz wurde ihm schwer, wenn er an das unvermeidliche Schicksal dachte, das die Völker Frankreichs und Englands erwartete. Heute konnte er nicht mehr tun, als sich zu bemühen, die Kluft zu überbrücken. Er würde warten müssen, bis die unmittelbare Spannung verflogen war und es dann noch einmal versuchen.

Er stand auf. »Meine Herren, wir haben genug geredet. Wenn wir nicht zum Fest zurückkehren, werden die anderen Gäste befürchten, dass etwas nicht stimmt. Ihretwillen fordere ich Sie auf, dass wir eine herzliche Zuneigung in unserem Benehmen an den Tag legen, solange der Frieden noch eine Chance hat.«

Er deutete zu der Gästeschar, die auf dem Rasen um Josephine versammelt war. Napoleon nickte dem Botschafter knapp zu, verließ die Laube und marschierte über das ordentlich geschnittene Gras. Whitworth starrte ihm hinterher und murmelte: »Ich fürchte beinahe, dieser Mann könnte sich ebenso sehr als Ihr Problem erweisen wie als das unsere.«

Dann machte er sich in weit gemächlicherem Tempo auf den Weg zurück zu den Gästen, als würde er die Gartenanlagen bewundern. Talleyrand stand noch einen Moment reglos da, die Augen auf Napoleon gerichtet, und dachte über die letzten Worte des Botschafters nach.

Das Jahr endete ohne Anzeichen dafür, dass die Engländer gewillt waren, Malta zu verlassen. Im Januar beschloss Napoleon, den Druck auf sie zu erhöhen, und befahl die Vorbereitung einer Expedition zum letzten verbliebenen Territorium Frankreichs in Indien in Pondicherry. Vielleicht gab es ja doch noch eine winzige Chance, ein wenig Gelände vom Earl of Mornington und seinem Bruder, Arthur Wellesley, zurückzugewinnen.

Die öffentliche Freude über den Friedensvertrag vom vergangenen Jahr verwandelte sich täglich mehr in die Furcht vor dem Ausbruch eines neuen Kriegs, und Napoleon fühlte sich genötigt, vor dem Senat und den Versammlungen der Tribunen und Abgeordneten eine Rede zum Stand der Beziehungen zwischen England und Frankreich zu halten.

Als er vor ihnen am Rednerpult stand und das graue Licht des Wintertags durch die Fenster fiel, spürte Napoleon ihre Angst und ihr Bedürfnis nach Ermutigung. Er umriss die Sorgen Frankreichs und betonte die Gefahr durch Englands anhaltende Unterstützung jener Kräfte, die das Konsulat destabilisieren und all die Vorteile aushöhlen wollten, die Napoleon und seine Regierung dem Volk gebracht hatten. Als sich schließlich graue Wolken über Paris ballten und Saaldiener die Kerzen anzuzünden begannen, kam Napoleon zum Schluss seiner Ansprache.

»Sie alle kennen mich am besten als Soldaten, und doch sagen ich Ihnen, es gibt in meinem Herzen keinen größeren Ehrgeiz, als dass Frankreich immerwährenden Frieden und Wohlstand genießen möge. Es könnte kein größeres Geschenk für diese unsere Nation geben als eine Generation, die in ihrer Lebenszeit die Verwüstungen des Kriegs nie kennenlernt. Aber welchen Wert hat ein solcher Frieden, wenn die Ehre unserer Nation von der schändlichen Propaganda und den Provokationen aus England herabgewürdigt wird?« Er hielt inne, und sein Blick traf Lord Whitworth auf der Zuschauertribüne, um niemanden im Saal im Zweifel darüber zu lassen, an wen seine letzten Worte gerichtet waren. »Es ist die Tragödie Englands, dass sein Parlament in zwei Fraktionen gespalten ist. Auf der einen Seite gibt es die Friedenspartei, die dem Nutzen und Gewinn eines weltweiten Friedens verpflichtet ist. Auf der anderen Seite gibt es die Kriegspartei, und sie umfasst gemeine und kriegslustige Geister, in deren Herzen ein unversöhnlicher Hass auf Frankreich wohnt. Wenn die Kriegspartei in den kommenden Monaten die Macht erringt, wird das Blut zahlloser Unschuldiger an ihren Händen kleben. Wenn es zum Krieg kommt, dann wird die Geschichte urteilen, dass England die Ursache dafür war, nicht Frankreich. Und wenn es zum Krieg kommt, dann gebe ich Ihnen mein Wort, dass Frankreich siegen wird und unsere Armeen diejenigen, die uns gezwungen haben, zu den Waffen zu greifen, aufs Äußerste demütigen werden.«

Der Applaus war gedämpft und ernst, wie es Napoleon vorausgesehen hatte. Dies war kein Aufruf zum Angriff, sondern eine düstere Warnung, dass Frankreich bereit sein musste, gegen einen Feind zu kämpfen, der absolut rücksichtslos erschien. Während Napoleon den Applaus im Saal entgegennahm, sah er, wie sich Whitworth von seinem Platz erhob. Ihre Blicke trafen sich, und der Brite schüttelte bedauernd den Kopf, ehe er kehrtmachte und dem Ausgang zustrebte.

Es dauerte nicht lange, bis die Berichte von Napoleons Rede London erreichten, und der König erschien rasch zu einem eigenen Auftritt vor dem Parlament. König George wies Napoleons Warnung kurz und bündig zurück und autorisierte die Mobilisierung des Militärs und die Verstärkung der Marine, um sie in einen Verteidigungszustand zu versetzen. Napoleon reagierte, indem er eine Armee von mehr als hunderttausend Mann an der Kanalküste zusammenziehen ließ. Im April schloss Talleyrand Verhandlungen mit Vertretern der amerikanischen Regierung über den Verkauf des riesigen Gebiets von Louisiana in Nordamerika ab. Der Preis betrug sechzig Millionen Francs. Noch nie war Land so billig verkauft worden, doch andererseits, überlegte Napoleon, hatte Frankreich auch noch nie so dringend Geld gebraucht.

Am Ende des Monats bat Lord Whitworth offiziell um eine Audienz beim Ersten Konsul. Sie trafen sich im Palais Luxembourg. Nachdem pro forma ein Mindestmaß an Höflichkeiten ausgetauscht worden war, überreichte der Botschafter Napoleon ein Dokument. Talleyrand stand daneben und verbarg seine Verzweiflung hinter der üblichen unbeteiligten Maske.

»Was ist das?«, fragte Napoleon.

»Eine Botschaft von Premierminister Addington im Namen Seiner Majestät. Er denkt, dass die Anwesenheit einer so großen Armee genau gegenüber der britischen Küste eine direkte Bedrohung darstellt. Der Premierminister verlangt deshalb, dass die Armee aufgelöst wird. Eine Nichterfüllung dieser Forderung wird als feindseliger Akt bewertet werden.«

Napoleon nahm den versiegelten Brief und legte ihn auf seinen Schreibtisch, ehe er antwortete. »Darf ich fragen, wie Frankreich die rapide Vergrößerung der britischen Marine interpretieren darf? Es scheint, als würde beinahe täglich ein neues Kriegsschiff vor unseren Küsten auftauchen. Wenn ich meine Armee auflöse, wird es dann seine Schiffe außer Dienst stellen?«

Lord Whitworth ging nicht auf die Frage ein und gestikulierte zu dem Brief. »Ich habe Anweisung, bis zum 8. Mai auf eine Antwort zu warten. Falls Sie der Aufforderung Seiner Majestät nicht nachkommen, soll ich Paris verlassen und nach London zurückkehren.«

Napoleon fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Dann werden Sie Frankreich den Krieg erklären.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Whitworth richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass er möglichst gebieterisch auf Napoleon hinabsah. »Wie alle Welt weiß, wünscht sich England nichts mehr als Frieden.«

In Napoleon zerbrach ein letztes Maß an Beherrschung, als er den hochnäsigen englischen Aristokraten ansah. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass der Brief in die Höhe sprang. »Dann erfüllen Sie den Vertrag! Verlassen Sie auf der Stelle Malta!«

Einen Moment lang schauten sie einander zornig an, dann neigte der Botschafter den Kopf und wich einige Schritte zurück. »Ich kehre jetzt in die Botschaft zurück. Ich werde auf Ihre Antwort warten. Bis zum 8.«

Nachdem er gegangen war, wandte sich Talleyrand an Napoleon und fragte: »Werden Sie die Armee auflösen?«

»Nein.«

»Das bedeutet dann also Krieg.«

»Sieht so aus«, antwortete Napoleon gleichmütig. »Allerdings werden wir England die Schande überlassen, ihn zu erklären.«

»Denken Sie, sie werden es tun?«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Dann möge Gott uns allen beistehen.«

Lord Whitworth wartete bis zum festgesetzten Tag in Paris, und nachdem er keine Antwort von Napoleon erhalten hatte, verließ er Paris mit seinem gesamten Haushalt in einem kleinen Konvoi von Kutschen. Vier Tage später ging er in Calais an Bord eines Schiffs und brach nach England auf. Im Parlament beantragten die Tories, angetrieben vom neu belebten Fanatismus William Pitts, Frankreich den Krieg zu erklären.

Eines Morgens Ende Mai saß Napoleon mit Josephine beim Frühstück, als ein Diener eintrat und sich mit einer versiegelten Nachricht dem Tisch näherte. Napoleon brach das Siegel auf, entfaltete das einzelne Blatt und las die hastig geschriebene Mitteilung. Dann legte er es stirnrunzelnd beiseite und starrte aus dem Fenster, bis Josephine leise hüstelte.

»Worum geht es, mein Lieber? In dem Brief?«

»Hm?« Napoleon sah sie einen Moment lang an, als hätte er ihre Frage nicht verstanden. Dann warf er einen Blick auf das Papier. »Ach … Es ist von Talleyrand. Er hat ein offizielles Schreiben aus London erhalten. Die Engländer haben Frankreich am 16. Mai den Krieg erklärt.«

»Krieg?« Josephine machte eine längere Pause, bevor sie fortfuhr. »Wie lange, glaubst du, wird er diesmal dauern?«

Napoleon dachte kurz über die Frage nach. »Ich habe keine Ahnung. Was ich aber weiß, ist, dass es diesmal keinen Frieden geben kann, ehe entweder England oder Frankreich vollständig vernichtet ist. Alle anderen Möglichkeiten haben wir erschöpft. Es wird, wie man sagt, ein Kampf bis zum bitteren Ende werden.« Er betrachtete den Brief. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit er zuletzt in den Krieg gezogen war. Damals war er ihm glorreich vorgekommen, und er hatte darin geschwelgt. Aber jetzt? Napoleon wurde das Herz schwer, wenn er an den kommenden Konflikt dachte. Es würde ein unvergleichlicher Krieg werden. Zwei große Mächte, von denen eine das Land beherrschte und die andere die Gebieterin über die Meere war, in einem Ringen, das ganz Europa umfassen und seine dunklen Schwingen in die entlegensten Winkel der Welt ausstrecken würde. Es würde Krieg in einer Größenordnung sein, die kein Mensch je gesehen hatte.

66

Arthur

Poona, August 1803

Arthur legte sein Rasiermesser beiseite und spülte die Reste der Seife aus seinem Gesicht. Als er die letzten Tropfen fortgetupft hatte, ließ er das Handtuch sinken und sah in den Spiegel. Mit vierunddreißig war sein Körper fit und sportlich wie der eines zehn Jahre jüngeren Mannes. Das war auf das harte Training zurückzuführen, das er täglich absolvierte und auf dem er auch bei seinen Leuten bestand. Dennoch hatte es viele Monate gedauert, bis er sich von seiner Krankheit erholt hatte, und an den Schläfen wurde sein Haar grau. Er schüttelte betrübt den Kopf wegen des Tributs, den Indien körperlich gefordert hatte. Gerechterweise musste er jedoch sagen, dass dieses Land ihm die Möglichkeit geboten hatte, seine Ideen hinsichtlich der besten Methoden der Kriegsführung zu entwickeln. Wäre er in Europa geblieben, hätte er niemals selbstständige Kommandos über so große Streitkräfte bekommen, wie er sie in Indien befehligt hatte.

Im Jahr zuvor war er zum Generalmajor befördert worden, und jetzt führte er eine Armee von nahezu fünfundzwanzigtausend regulären Soldaten und Sepoys. Wie von den Briten vorausgesehen, war vor einigen Monaten ein Krieg unter den Marathen-Staaten ausgebrochen, und der Peshwa Baji Rao hatte sich an den Generalgouverneur gewandt und um Unterstützung dabei gebeten, ihn in Poona wieder an die Macht zu bringen. Richard hatte die Gelegenheit geschickt genutzt, um einen vorteilhaften Vertrag abzuschließen, ehe er Arthur mit dem Kommando über die Armee betraute, die Baji Rao zurück auf den Thron bringen würde. Der Generalgouverneur hatte aus der peinlichen Affäre mit General Baird gelernt und das Kommando zunächst General Stuart angeboten. Aber Stuart hatte taktvoll abgelehnt und gesagt, Arthur solle das Kommando führen, da er die beste Armee, die je in Indien zusammengestellt wurde, auch ausgerüstet, organisiert und ausgebildet hatte. Das waren seine Worte gewesen, wie sich Arthur erinnerte. Seine Professionalität und seine Fähigkeiten wurden anerkannt, und keine Ressentiments oder gemurmelten Vorwürfe der Vetternwirtschaft beschmutzten länger seinen Ruf.

Also hatte er seine Armee von Mysore nach Norden geführt, war Anfang Mai in Poona eingedrungen und hatte Baji Rao in seinen Palast zurückbefördert. Weit davon entfernt, ein nützlicher Verbündeter zu sein, wurde Baji Rao von seinem Volk gehasst, sein Reich war verarmt und zerfiel. Obwohl von den Engländern wieder auf seinen Thron gesetzt, begann der Peshwa sofort mit Scindia zu intrigieren, um seine Retter zu vertreiben. Der Mann war jedoch derart unbeholfen in der Kunst der Täuschung, dass Arthur praktisch umgehend von der Intrige erfahren hatte und in Poona geblieben war, um Baji Rao von jedem Versuch abzuhalten, das Abkommen mit dem Generalgouverneur zu brechen. Gleichzeitig erwiesen sich Versuche, Verträge mit Scindia und Holkar auszuhandeln, als schwierig. Berichte von Arthurs Agentennetzwerk hatten aufgedeckt, dass Scindia bemüht war, Allianzen mit anderen Marathen-Führern zu schmieden, um Krieg gegen die Briten zu führen. In der Zwischenzeit hatte Holkar dem Nizam den Krieg erklärt und war in das Gebiet von Hyderabad einmarschiert, angeblich, weil der Nizam ihm Geld schuldete. In der Folge davon war Arthur gezwungen gewesen, sein Kommando zu teilen und Oberst Stevenson mit zehntausend Mann zum Schutz von Hyderabad loszuschicken.

Und Arthur hatte noch weitere Probleme. Die Mannschaften und Pferde, die er aus dem Süden Indiens mitgebracht hatte, waren an eine Ernährung gewöhnt, die auf Reis basierte, doch die Marathen fütterten ihre Tiere mit Jowarry – einem grobkörnigen Getreide, das für die Männer in Arthurs Armee nicht geeignet war. Deshalb erstreckten sich seine Nachschubwege bis nach Mysore zurück. Das war schon übel genug, doch noch schlimmer war, dass sich viele seiner Vertragshändler mit einem großen Teil seines Reisvorrats aus dem Staub gemacht hatten. Diese Schwierigkeit konnte mit der Anwerbung neuer Vertragspartner behoben werden, doch in der Zwischenzeit war die Armee langsam von Poona aus vorgerückt, um Scindias Festung in Ahmadnagar zu bedrohen. Die Monsunregenfälle hatten die Wege in klebrigen Schlamm verwandelt, und das hieß, dass die Armee nicht mehr als drei Meilen am Tag bewältigte. Arthur hatte seine Leute kurz verlassen, um weitere Ochsen aufzutreiben und sicherzustellen, dass die Lage in Poona stabil war. Der Frieden zwischen Frankreich und England hatte die strategische Situation in Indien über Nacht verändert. Nach den Bestimmungen des Vertrags von Amiens hatte die Regierung in London zugestimmt, Pondicherry an die Franzosen zurückzugeben. Schon war eine Reihe französischer Soldaten in Indien aufgetaucht, die bei den örtlichen Rajas und Kriegsherren nach Anstellung suchten. Ihnen dicht auf den Fersen folgte ein Strom französischer Kaufleute, die darauf erpicht waren, dem Handel der Ostindien-Gesellschaft Konkurrenz zu machen. Gerade als es ausgesehen hatte, als sei der französische Einfluss auf dem Subkontinent gebannt, waren die Franzosen mit einem Mal wieder im Spiel.

Arthur warf einen letzten Blick auf sein Spiegelbild. Er fragte sich, wie lange er körperlich noch durchhalten würde. Er hatte die Belastung von mehreren Jahren Feldzügen in diesem unbarmherzigen Klima hinter sich, und die Wahrscheinlichkeit, dass er bei guter Gesundheit nach England zurückkehren würde, wurde immer geringer. Davon abgesehen, war die Erinnerung an Kitty stets gegenwärtig geblieben, und er sehnte sich danach, sie wiederzusehen. Der letzte Brief von ihr war vor mehreren Monaten eingetroffen. Sie schrieb, ihr Herz gehöre immer noch ihm, und sie habe die Freier, die ihr älterer Bruder ihr aufdrängen wollte, erfolgreich abgewehrt. Das war nur ein kleiner Trost für Arthur, während er auf der anderen Seite der Erde war. Er kannte die Dubliner Gesellschaft gut genug, um zu wissen, dass der Vizekönig über einen üppigen Vorrat schneidiger junger Stabsoffiziere verfügte, die den Töchtern der einheimischen Würdenträger ins Auge springen konnten, Kitty eingeschlossen.

»Verdammt«, murmelte er, griff nach seinem Hemd, zwängte den Kopf durch den Kragen und knöpfte es eilig zu. Sein Diener hatte den Rest der Uniform auf einer Truhe neben dem Wasserbecken ausgelegt, und nachdem er für einen letzten Moment den kühlen, losen Sitz des Hemds genossen hatte, begann Arthur müde, sich anzuziehen. Dann trat er auf die Veranda der Residenz hinaus, wo sich Barry Close gerade zum Frühstück gesetzt hatte. Obwohl Close erst kürzlich von Mysore hierher versetzt worden war, hatte er bereits nützliche Kontakte mit den mächtigsten Männern in Poona geknüpft.

»Guten Morgen, Sir.« Close nickte. »Wage zu behaupten, Sie haben so gut geschlafen wie lange nicht, hm?«

»Bequemer jedenfalls.« Arthur winkte einem von Closes Butlern zu. »Lammkoteletts, bitte.«

Der Butler verneigte sich. »Acha, Sahib.«

Als der Mann außer Hörweite war, fragte Arthur: »Gibt es neue Entwicklungen beim Peshwa?«

»Bloß, dass er so verräterisch wie immer ist. Meine Informanten im Palast sagen, es gibt einen regelmäßigen Austausch von Nachrichten mit Scindia und Holkar. Ich habe ihn gestern Abend darauf angesprochen. Ich sagte, es sei irgendwie ungeziemend für einen Mann, der unserer Seite verpflichtet ist, mit seinen früheren Feinden zu verkehren.«

»Er hat es also nicht abgestritten?«

»Natürlich hat er das, Sir. Aber Sie kennen Baji Rao – der Mann ist ein notorisch schlechter Lügner. Er beteuerte, bei seinen Kontakten mit der anderen Seite ginge es nur um die Forderung, sich wieder seiner Autorität zu beugen. Er hat bei all seinen Göttern geschworen, dass er ein verlässlicher und treuer Verbündeter Britanniens bleiben wird.«

»Es ist immerhin vorstellbar, dass er die Wahrheit sagt«, überlegte Arthur.

»Nur in dem Maß, in dem es vorstellbar ist, dass Schweine fliegen lernen«, erwiderte Close. »Der Peshwa ist ein finsterer Schurke, der in jedem Augenblick nur von dem angetrieben wird, was er am meisten fürchtet.«

»Ja. Verstehe.« Arthur blickte über das Gelände zum Haupttor von Poona und den in der Morgensonne leuchtenden Kuppeln auf dem Palast des Peshwas in der Ferne. »Wir müssen ihn jedenfalls unbedingt davon abhalten, ein doppeltes Spiel zu spielen. Ich glaube, Sie sollten ihn wissen lassen, falls er weiterhin heimlich gegen uns opponiert, würde ich mich gezwungen sehen, das Land einzig im Namen der Ostindien-Gesellschaft in Besitz zu nehmen.«

Close sah ihn an. »Würden Sie diese Drohung wahrmachen, Sir?«

»Das würde ich. Ich bin ermächtigt, im Namen des Generalgouverneurs zu handeln, und ich werde nicht davor zurückschrecken, alles Nötige zu tun, um den Marathen-Staaten Frieden und Ordnung zu bringen. Sie müssen dafür sorgen, dass er davon überzeugt ist.«

»Ich werde tun, was ich kann, Sir.«

»Dessen bin ich mir gewiss. In der Zwischenzeit setzen wir unsere Anstrengungen fort, Holkar aus dem Territorium des Nizam zu vertreiben und ihn und Scindia dazu zu bringen, ihre Armeen aufzulösen und die Autorität des Peshwa anzuerkennen.«

»Das ist sehr viel verlangt, Sir.«

»Das verstehe ich, aber wir halten Poona, wir haben den Peshwa in der Hand, und wir setzen ein Beispiel für entschlossenes Handeln, wenn es erforderlich ist.« Arthur beugte sich vor und schenkte sich Tee ein. »Wenn sie vernünftig sind, werden sie unsere Forderungen früher oder später erfüllen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann gibt es Krieg, und meine Armee wird sie jagen und vernichten.«

Close fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Nach den neuesten Berichten verfügt Scindia über mehr als vierzigtausend Mann und achtzig Kanonen. Und der Raja von Berar ist mit weiteren fünfundzwanzigtausend Mann und vierzig Kanonen auf dem Weg zu ihm.«

»Ich habe die Berichte ebenfalls gelesen«, sagte Arthur unwirsch. »Unsere Armee ist ihnen mehr als gewachsen.«

»Sie haben sicher recht, Sir.«

Die Tür zur Küche ging auf, und der Butler kam mit einem Teller Lammkoteletts heraus. Arthur warf einen Blick auf den Mann, ehe er eine letzte Bemerkung in dieser Angelegenheit an Close richtete. »Ich habe recht, und ich werde es Ihnen und ganz Indien beweisen, bevor das Jahr um ist.«

Während Arthur aß, wandte sich die Unterhaltung leichteren Dingen zu wie etwa der Nachricht, dass der Peshwa Ende des Monats eine Tigerjagd veranstalten wollte. Angesichts der zähen Verhandlungen mit Scindia und Holkar neigte Arthur dazu, an ihr teilzunehmen, und sie begannen über die Vorzüge verschiedener Feuerwaffen zu sprechen. Als das Frühstück zu Ende war und Arthur sich den Mund mit einer Serviette abtupfte, kam eine kleine Gruppe von Reitern die Straße entlanggetrabt, die zum Stadttor führte. Sie waren nach mehreren Tagen scharfen Ritts über und über mit Staub bedeckt und nur am Schnitt ihrer Kleidung und Uniformen als Europäer erkennbar. Es war eine Handvoll Zivilisten und eine Schwadron Dragoner. Als sie von der Straße abbogen und auf den Eingang zum Gelände der Residenz zusteuerten, setzen sich Arthur und Close auf und betrachteten sie genauer.

»Wer zum Teufel sind die wohl?«, brummte Close. »Die sehen ganz danach aus, als würden sie schlechte Neuigkeiten bringen.«

Nach kurzem Schweigen nickte Arthur. »Darauf können Sie wetten. Der Mann, der neben dem Kommandeur der Schwadron reitet, ist mein Bruder Henry.«

»So ist es. Sie haben bei Gott scharfe Augen, Sir.«

»Eigentlich nicht.« Arthur lächelte. »Aber nur wenige Männer in Indien haben eine solche Nase.«

Henry verließ seine Eskorte und steuerte weiter auf die Residenz zu, während die Soldaten von ihren erschöpften Pferden stiegen und sie zu den Trögen neben dem Eingang führten. Arthur stand auf, ging von der Veranda nach unten und winkte seinem Bruder zu.

»Henry! Was führt dich hierher?«

»Charmante Begrüßung, muss ich sagen. Nach einer so anstrengenden Reise und nachdem ich dich so lange nicht gesehen habe, hätte ich mehr erwartet.« Henry hielt sein Pferd an und glitt aus dem Sattel. Ein Diener kam aus dem Haus geeilt und nahm die Zügel, während Henry sich streckte und sein Gesäß rieb. Er nickte dem Diener zu. »Lassen Sie ihn tränken, füttern und striegeln.«

Arthur zog die Augenbrauen hoch. »Du bleibst nicht?«

»Nur für die Dauer meines Berichts. Dann reite ich mit deiner Antwort zu Richard zurück.«

»Mir berichten? Wieso, was ist passiert?«

Henry sah zu dem Tisch, an dem Close noch saß, und sie winkten sich kurz zu. »Lass mich erst eine Erfrischung zu mir nehmen. Ich schwöre, in meiner Kehle hat sich der Staub von halb Indien abgelegt. Wir sind aus Madras direkt hierhergeritten und haben nur angehalten, wenn die Gäule kurz vor dem Zusammenbrechen waren. Keine sehr angenehme Erfahrung.«

Arthur lächelte über die zur Schau getragene Unbekümmertheit seines Bruders, ehe er freundlich antwortete. »Ich bitte um Verzeihung, wie unhöflich von mir. Bitte setz dich zu uns.« Er deutete zum Tisch, und sie stiegen auf die Veranda hinauf zu Close. Während Arthur den Butler um einen Krug frisch gepressten Saft schickte, klopfte sich Henry den Staub von der Kleidung und ließ sich auf einem der Rohrstühle nieder.

»Also«, begann Arthur. »Nun sag, was führt dich hierher?«

»Es sind die Franzosen. Du weißt, dass Richard sie wegen ihres Anspruchs auf Rückgabe ihrer Kolonie in Pondicherry hingehalten hat.«

»Ich habe davon gehört.«

»Die Lage hat sich verändert. Am 15. Juni ist eine französische Fregatte eingetroffen, um die Kolonie zurückzufordern. Mehr als zweihundert Mann sind an Land gegangen und haben die Festung in Besitz genommen. Sie sagen, ein mächtiges Geschwader Kriegsschiffe sei auf dem Weg zu ihnen, zusammen mit einem General und einer Division französischer Soldaten.«

»Höchst unangenehm. Wer weiß noch davon?«

»Richard hat mich losgeschickt, sobald er es erfahren hat, aber du kannst dir sicher sein, dass es sich inzwischen unter den meisten unserer Marathen-Freunde herumgesprochen hat.«

»Was bedeutet, sie werden sich eiligst darum bemühen, mit den Franzosen Kontakt aufzunehmen und zu einem Arrangement zu kommen, das uns Unannehmlichkeiten bereitet.«

»Milde ausgedrückt.« Henry beugte sich vor, und sein Tonfall wurde ernst. »Wir dürfen das Unvermeidliche keine Sekunde länger aufschieben. Richard will, dass du sofort gegen Scindia vorgehst. Er hat General Lake bereits befohlen, in das Gebiet zwischen Jumna und Ganges vorzurücken. Alles hängt von einer entscheidenden Niederlage der Marathen ab. Dann können wir den britischen Einfluss auf der ganzen Breite des Subkontinents durchsetzen.«

»Man muss den Ehrgeiz unseres Bruders bewundern«, antwortete Arthur trocken. »Hier im Feld ist die Situation sehr viel komplizierter. Meine Armee steckt im Schlamm fest, und meine Versorgungslage ist angespannt.«

»Im Augenblick ist nicht die beste Zeit, einen Feldzug zu beginnen«, sagte Close.

»Es gibt keine beste Zeit«, erwiderte Henry. »Jedenfalls sind das seine Anweisungen.«

Arthur zog die Augenbrauen in die Höhe. »Anweisungen oder Befehle?«

»Richard überträgt dir in dieser Angelegenheit seine ganze Machtbefugnis. Er hat volles Vertrauen, dass du die richtige Entscheidung triffst.«

»Ich verstehe«, erwiderte Arthur kühl. Wenn der Feldzug scheiterte, würde Richard von jeder Schuld freigesprochen werden. Sollte er freilich ein Erfolg werden, würde er ihn sich für seine grandiose strategische Weitsicht selbst anrechnen. Davon abgesehen, spürte Arthur, dass seine Loyalität zu seinem Bruder auf die Probe gestellt wurde. Die Ausdehnung der britischen Interessen in Indien hatte ein Vermögen gekostet, und die Regierung in London und die Direktoren der Ostindien-Kompanie würden den Generalgouverneur in naher Zukunft sicher zur Rechenschaft ziehen. Es war nur natürlich, dass Richard wissen wollte, inwieweit er sich auf die Unterstützung seines Bruders verlassen konnte. Dennoch nahm ihm Arthur den Trick zutiefst übel.

Er seufzte. »Also gut, sag ihm, ich werde Scindias Armee vernichten.«

Der Monsunregen hielt den Vormarsch von Arthurs Armee auf die Festung von Ahmadnagar weiterhin auf. Die Räder seiner Kanonen saugten sich im Schlamm fest, und die Treiber des Artilleriezugs peitschten ihre Ochsen vorwärts, während sich Soldaten, die oft selbst knietief im Schlamm steckten, mit den Schultern gegen die Speichen stemmten, um die Gefährte wieder auf festeren Untergrund zu schieben. Selbst dieser war im Regen nicht ungefährlich, leichtere Schlammauflagen ließen ihn glitschig werden, und die Männer mussten aufpassen, dass die Lafetten mit den Kanonen darauf nicht ins Rutschen gerieten und sie unter sich begruben.

Kaum hatte sich Henry mit Arthurs Antwort auf den Rückweg nach Kalkutta begeben, wurde eine Nachricht an Scindia geschickt, in der man ihn für den kommenden Konflikt verantwortlich machte, weil er nicht zu Verhandlungen bereit sei. In seiner Antwort schob Scindia seinerseits den Briten die Schuld zu und schrieb, ihre Vorbedingungen hätten sinnvolle Verhandlungen unmöglich gemacht. Scindias Botschaft endete mit einem hetzerischen Aufruf an alle Ureinwohner des Subkontinents, sich zu erheben und das britische Joch abzuschütteln. Es war ein hohl klingendes Ziel, denn den Bewohnern der Gebiete, die bereits unter britischer Herrschaft lebten, war klar, dass sie durch einen Aufstand mehr zu verlieren als zu gewinnen hatten. Doch Arthur wusste, der wahre Adressat von Scindias Ruf zu den Waffen waren die Franzosen. Wenn sie genügend Berater und Waffen stellten, konnten die Armeen der Marathen die Briten vielleicht doch stürzen.

Nach vier Tagesmärschen traf die britische Armee vor Scindias Festung in Ahmadnagar ein. Arthur ritt mit einer kleinen Eskorte voraus, um die Wehranlagen des Feinds zu begutachten. Mit dem ersten Tageslicht hatte der Regen an diesem Morgen endlich aufgehört. Bis sie einen kleinen Hügel gefunden hatten, der nahe genug war, um ihnen einen guten Blick zu gewähren, hatte der Himmel aufgeklart, und die aufgehende Sonne wärmte die Landschaft schnell und ließ feinen Dunst aufsteigen. Vor ihnen lag die Pettah – eine kleine, von Mauern umgebene Stadt – und daneben die Festung selbst. Ahmadnagar war rund und hatte massive Steinmauern mit Furcht einflößenden Türmen in regelmäßigen Abständen. Ein tiefer, mit Wasser gefüllter Graben umgab die Befestigungen. Arthur schlug seinen durchnässten Umhang zurück und griff nach seinem Fernrohr. Um ihn herum taten es ihm die Stabsoffiziere gleich, während die sie begleitenden Dragoner ihre Tiere ein Stück entfernt grasen ließen.

»Die Kundschafter sagen, zwischen der Pettah und der Festung befindet sich eine Garnison mit tausend Soldaten aus den Marathen und weiteren tausend arabischen Söldnern unter dem Kommando französischer Offiziere«, bemerkte Arthur und suchte die Mauern der Pettah sorgfältig ab. »Sieht nach der üblichen Kombination aus Ziegel, Schlamm und Mauerwerk aus.« Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf eine Gruppe feindlicher Soldaten, die sie von einem der Türme aus beobachteten. »Rund sieben Meter hoch, würde ich sagen.«

»In die Stadtmauern müsste ganz leicht eine Bresche zu schlagen sein«, bemerkte Hauptmann Fitzroy. »Wenn wir die schweren Kanonen erst einmal aus dem verdammten Schlamm gezogen haben.«

»Wir werden die Stadt nicht belagern«, erwiderte Arthur. »Dafür ist nicht genügend Zeit. Wir nehmen sie mit einem direkten Angriff ein, bevor wir uns der Festung zuwenden. Entscheidend ist, dass wir die Soldaten, die in der Pettah in Garnison liegen, nicht in die Festung entwischen lassen.«

Fitzroy musterte die Festungsmauern eine Weile. »Das wird eine harte Nuss werden. Die schwersten Geschütze, die wir haben, sind Zwölfpfünder. Es wird Wochen dauern, bis wir damit ein Loch in diese Mauern schlagen. Wir können Ahmadnagar immer noch umgehen, Sir.«

»Nein, ich brauche eine vorgelagerte Nachschubbasis und einen Rückzugsort, falls der Feldzug gegen uns läuft. Deshalb müssen wir die Festung einnehmen. Es lässt sich nicht vermeiden. Aber lassen Sie sich nicht zu sehr von diesen Mauern einschüchtern. Für mich sehen sie alt und verwittert aus. Ich bezweifle, dass sie viel aushalten.«

Er schob sein Fernrohr zusammen und steckte es wieder in den Sattelhalfter, ehe er sich an Fitzroy wandte.

»Reiten Sie sofort zur Kolonne zurück. Ich werde drei Bataillone für den Angriff verwenden, das 74ste, das 78ste und ein Bataillon Einheimischer der Ostindien-Kompanie. Sie sollen Sturmleitern zusammenbauen und eins der Geschütze mitbringen, damit wir das Tor aufsprengen können.«

»Sehr wohl, Sir. Welche Zeit soll ich ihnen für den Beginn des Angriffs nennen?«

»Welche Zeit?« Arthur hielt inne und streckte seine Rückenmuskeln. »Na, wir werden sofort angreifen.«

67

Nichts an der ganzen Sache ist kompliziert, meine Herren«, erklärte Arthur. »Wir haben nicht die Zeit für eine lehrbuchmäßige Belagerung der Stadt. Ich will, dass sie beim ersten Versuch eingenommen wird, verstanden?«

Die Offiziere nickten.

»Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Garnison möglichst schnell zerstört wird. Unsere Kavallerie-Vorposten werden die Stadt umstellen, um jeden Versuch zu vereiteln, die Festung zu erreichen. Und denken Sie daran: Wenngleich ich will, dass Ihre Leute schnell und hart vorgehen, müssen sie die Stadtbevölkerung respektieren. Wen man beim Plündern oder Vergewaltigen erwischt, der wird gehängt.«

»Sir?« Ein Offizier der Ostindien-Kompanie meldete sich.

»Was gibt es, Hauptmann Vesey?«

»Meine Leute sind aus Madras, wie die meisten Sepoys. Zwischen ihnen und den Marathen gibt es jede Menge böses Blut. Sie werden sich nur schwer davon abhalten lassen, Rache zu üben.«

»Das interessiert mich nicht«, sagte Arthur mit Nachdruck. »So lauten meine Befehle, und Sie werden sie ausführen, und zwar genauestens.«

»Ja, Sir.«

Er hielt inne, um sicherzugehen, dass die Offiziere nicht an seiner Aufrichtigkeit zweifelten. Arthur hatte während seiner Zeit in Indien genug von den Leiden der ärmsten Einheimischen gesehen, um zu wissen, dass sie die britische Herrschaft mit offenen Armen begrüßen würden, wenn man sie nur menschlich behandelte. Er ging jedoch nicht davon aus, dass viele seiner Offiziere und Mannschaften seine langfristige Vision von Indien teilten, und wenn britische Truppen die Gunst der Bevölkerung in diesen riesigen Landstrichen gewinnen wollten, würde gnadenlos Disziplin durchgesetzt werden müssen. Er warf einen Blick in die Runde seiner Offiziere und fuhr mit der Lagebesprechung fort.

»Oberst Wallace wird das Haupttor der Pettah angreifen. Die anderen beiden Kolonnen werden links und rechts davon mit Leitern die Mauern stürmen. Sollte einer dieser Versuche gelingen, sodass unsere Leute in die Stadt gelangen können, kämpfen sie sich sofort zum Tor vor und öffnen es, falls Oberst Wallace es in der Zwischenzeit nicht geschafft hat. An die Arbeit, meine Herren.«

Die drei Kolonnen bezogen Stellung, um den Angriff zu beginnen. Oberst Harness befehligte die Kolonne auf der linken Seite, und Arthur sah, wie er vorzurücken begann, bevor die beiden anderen bereit waren. Vor der Kolonne unterhielten die Männer einer leichten Kompanie ein beständiges Feuer auf die Verteidiger in den Bastionen an beiden Enden des ins Auge gefassten Mauerabschnitts. Bisher war nichts vom Feind auf den Brustwehren zu sehen, und Arthur spürte ein nervöses Kribbeln.

Neben ihm knurrte Fitzroy: »Der verdammte Harness stürmt auf die Mauer zu wie ein liebestoller Märzhase. Die anderen Kolonnen sind noch nicht einmal so weit. So fällt der Angriff völlig auseinander.«

»Es spielt keine große Rolle«, erwiderte Arthur. »Es wird den Feind genauso verwirren wie uns, also beruhigen Sie sich, Mann.«

Fitzroy schaute verlegen. »Ja, Sir.«

Alle drei Kolonnen wurden von Kompanien königlicher Soldaten geführt und von den Sepoys unterstützt. So war es überall in Arthurs Armee. Die verlässlichsten Einheiten wurden mit einheimischen Soldaten zu einer Brigade zusammengeschlossen, um die Entschlossenheit Letzterer zu stärken. Harness führte eine gemischte Truppe aus Männern des 78ten und einem der Bataillone aus Madras. Das 78ste stammte aus Schottland, und es war das einzige Regiment in Indien, das Kilts trug. Mit den hoch erhobenen Fahnen an der Spitze der Kolonne marschierten die Männer gleichmäßig durch die Linie der Scharmützler auf den Wall zu. Gelegentlich tauchte eine Rauchwolke aus den flankierenden Bastionen auf, wenn die arabischen Verteidiger einen schnellen Schuss auf die sich nähernde Kolonne riskierten, ehe sie wieder in Deckung gingen. Sobald sie die Mauer erreicht hatten, legten die vorderen Reihen eilig ihre Leitern an, und die ersten Männer begannen nach oben zu klettern.

»Wo sind die Verteidiger?«, sagte Fitzroy leise. »Es muss doch Männer auf diesem Wall geben. Warum zeigen sie sich nicht?«

Arthur antwortete nicht, sondern verfolgte angestrengt, wie die linke Kolonne vorankam. Die ersten Männer hatten das obere Ende der Leiter erreicht und schwangen sich auf die Brustwehr. Allerdings sprangen sie nicht auf den Wehrgang dahinter hinab, sondern blieben einen Moment wie erstarrt stehen, ehe sie von nachrückenden Kameraden zur Seite gestoßen wurden. Bald balancierte ein knappes Dutzend Männer auf der Mauerumrandung, und immer weitere kamen auf den Leitern nach oben.

»Was zum Teufel ist da los?«, entfuhr es Arthur, dann machte er sofort den Mund zu und setzte die unerschütterliche Miene auf, von der er wusste, dass sie andere Männer beeindruckte. Plötzlich begriff er, warum die Männer nicht auf den Wehrgang hinter der Brustwehr sprangen – es gab keinen. Nur eine senkrechte Wand auf der Innenseite bis zum Erdboden. Vor seinen Augen zuckte ein Mann unter dem Einschlag einer Musketenkugel und stürzte rückwärts von der Mauer. Einen Moment darauf wurde ein weiterer Mann von den Verteidigern hinter dem Wall niedergeschossen. Dann schien irgendwer am Fuß der Mauer zu begreifen, was vor sich ging, und langsam begannen die Männer auf den Leitern nach unten zu klettern und sich vom Wall zurückzuziehen, wo sie unter Beschuss aus den Bastionen standen.

Arthur ballte gereizt die Fäuste wegen des Rückschlags, aber dann entspannte er sich. In diesem Fall war es nur gut, dass Harness den anderen Kolonnen vorausgestürmt war. Er zeigte auf die Kolonne an der rechten Flanke und sagte zu Fitzroy: »Reiten Sie hinunter, und sagen Sie Vesey, was passiert ist. Sagen Sie ihm, er soll seine Leitern an die Bastionen anlegen, auf keinen Fall an die Mauern.«

»Ja, Sir.« Fitzroy salutierte und trieb sein Pferd auf die rechte Seite des Tors zu, dem sich Wallaces Leute beherzt näherten, eine Sechspfünder-Kanone mitschleifend. Nachdem Fitzroy die Warnung weitergegeben hatte, teilte sich die rechte Kolonne in zwei Hälften und steuerte die Bastionen zu beiden Seiten des ihnen zugeteilten Mauerabschnitts an.

Arthur zog sein Teleskop hervor, um den Fortgang des Angriffs so genau wie möglich zu beobachten. Einer von Harness’ Grenadieroffizieren hatte ein paar Männer um sich geschart, und sie waren zur nächsten Bastion gezogen und hatten eine Leiter angelegt. Die ersten drei Männer und der Offizier begannen schnell nach oben zu steigen. Als sie sich dem oberen Ende näherten, tauchte plötzlich eine Handvoll Verteidiger auf und stieß die Leiter mit Stangen von der Wand fort, sodass sie umkippte und die Soldaten auf ihr zu Boden stürzten. Der Offizier war sofort wieder auf den Beinen. Der Hut war ihm vom Kopf geflogen, und ein leuchtend roter Streifen lief von einer Kopfverletzung an seiner Wange hinunter. Er half seinen Leuten, die Leiter wieder aufstellen, und während die Scharmützler ihr Feuer auf die Verteidiger darüber richteten, raste er, gefolgt von seinen Männern, wieder die Leiter hinauf. Oben hielt er nicht an. Er zog seinen Säbel, kletterte über die Brustwehr und fiel über die Araber in der Bastion her. Seine Klinge blitzte und funkelte, als er eine Schneise durch seine Feinde schlug. Die Grenadiere wimmelten die Leiter hinauf und begannen, mit ihm zusammen die Bastion von Feinden zu räumen. Der Kampf war kurz, da sich immer mehr Grenadiere ins Getümmel stürzten und dann in der Bastion verschwanden. Oberst Harness dirigierte seine Männer eilig an den Ort des Geschehens; sie strömten über die Brüstung, und das Knattern und Knallen von Musketenfeuer tönte über die Mauern der Pettah hinweg.

Drüben auf der rechten Seite hatten Veseys Leute eine weitere Bastion erreicht und befanden sich in einem verzweifelten Kampf mit ihren Verteidigern. Da zwei Bastionen nicht eingreifen konnten, sah sich Oberst Wallace wenig Gefahr ausgesetzt, als er mit der mittleren Kolonne auf dem Weg vor dem Haupttor wartete. Vor ihm war die Sechspfünder-Kanone geladen worden, und die Geschützmannschaft schaffte sie eilig zum Tor, sodass die Mündung gegen die massiven, aber alten Balken drückte.

Arthur trieb Diomed vorwärts, um zu den Männern zu stoßen, die darauf warteten, die Stadt zu stürmen. Er war entschlossen, dabei zu sein, wenn sie in den Ort eindrangen, um sicherzustellen, dass die Offiziere ihre Leute tatsächlich davon abhielten, zu plündern oder die Zivilbevölkerung innerhalb der Mauern anzugreifen. Als er an der Kolonne entlang auf das Tor zu ritt, rief ein Artillerie-Sergeant mit der langsam brennenden Zündschnur in der Hand plötzlich: »Zurück, Burschen! Sie öffnen das Tor!«

Ein dumpfes Klappern war hinter den dicken Balken zu hören, und dann begannen sie, sich nach innen zu öffnen. Arthur erhaschte einen Blick auf bewaffnete Männer unter dem Torturm, dann führte der Sergeant seine Zündschnur nach unten auf den Papierkegel des Zünders. Noch als er kurz aufloderte, spürte Arthur eine kalte Faust in seinem Magen, aber es war zu spät, um etwas zu unternehmen. Die Kanone ging mit einem lauten Knall los, eine Stichflamme und Rauch schossen durch das Torhaus der Pettah. Oberst Wallace stieß seinen Säbel vor und rief seinen Männern zu: »Vorwärts! Vorwärts, ihr Teufel!«

Arthur stieg ab und bahnte sich einen Weg durch die Männer bis unter das Torhaus. Die Kanone war mitten in die Gesichter einiger Sepoys von Vesey losgegangen. Ein Mann, der direkt davorgestanden haben musste, war in zwei Stücke gerissen worden, sein Oberkörper mit dem Kopf lag ein gutes Stück vom Becken mit den verdrehten Beinen entfernt. Dazwischen breiteten sich seine Eingeweide in einer Blutlache aus. Mehrere weitere Männer waren verletzt und taumelten aus dem Weg der in die Stadt stürmenden Soldaten von Wallaces Kolonne. Hinter ihnen erhaschte Arthur einen Blick auf eine Handvoll arabischer Söldner, die in eine der schmalen Straßen verschwanden. Dann sah er Vesey und wies auf die verwundeten Männer.

»Lassen Sie sie zu unseren Linien zurückbringen, damit ihre Verletzungen versorgt werden können.«

»Ja, Sir.« Vesey salutierte.

»Übrigens, Hauptmann.« Arthur klopfte ihm auf die Schulter. »Das war sehr gute Arbeit.«

»Ja, Sir. Danke, Sir.«

Arthur zog seinen Säbel und betrat das Torhaus. Auf der Treppe nach oben stieg er über mehrere tote Feinde hinweg und kam auf dem geteerten Dach der Bastion heraus, wo der Grenadieroffizier eine Schneise durch die Feinde geschlagen hatte. Die kleine Fläche war übersät von den Leichen der Söldner, allesamt durch wütende Säbelhiebe oder Stöße mit dem Bajonett getötet. Unter den Toten waren zwei der Grenadiere, und ein dritter, der verletzt war, kauerte an der Innenseite der Brustwehr und presste die Hände auf eine Wunde in seinem Bauch. Als er seinen General sah, hob er eine blutige Hand, um zu salutieren. Für einen Moment hatte Arthur den Impuls, sich um den Mann zu kümmern, aber Mitgefühl war ein Luxus, den sich ein Kommandeur erst wieder nach der Schlacht leisten konnte. Deshalb erwiderte er den Salut und trat an die Brustwehr, um über die Stadt zu blicken.

Britische Soldaten strömten durch das Gewirr der Straßen und verfolgten kleine Gruppen des Feinds, von denen manche noch genügend Geistesgegenwärtigkeit besaßen, sich gelegentlich umzudrehen und einen Schuss abzufeuern. Einige hatten die Stadt bereits durch das hintere Tor verlassen und rannten verzweifelt, um in den nächstgelegenen Wäldchen Schutz vor der Kavallerie zu suchen, welche die Stadt umzingelt hatte und sämtliche Marathen-Krieger niederritt, die ihnen über den Weg liefen. Nachdem sich Arthur überzeugt hatte, dass nur eine Handvoll von ihnen die Festung erreicht hatte, wandte er sich von dem Schauspiel ab. Der Grenadier, der an der Mauer lehnte, sah ihn mit starrem, schmerzverzerrtem Blick an. Arthur beugte sich über ihn und berührte ihn an der Schulter. Der Mann reagierte nicht, und Arthur wurde klar, dass der Tod ihn vor wenigen Augenblicken zu sich geholt hatte. Arthur richtete sich auf und sah traurig auf den Soldaten hinab. Noch vor einer Stunde war er auf diese kleine, unscheinbare Stadt zumarschiert, er und seine Kameraden hatten sich wahrscheinlich großspurige Geschichten und Witze erzählt, ein bodenständiges, lebensprühendes Wesen, vielleicht mit einer Frau oder Braut, die daheim in Schottland auf ihn wartete. Nun war er tot, dank eines Befehls von Arthur.

Er zog seine Taschenuhr hervor und blickte auf ihre Zeiger. Seit Beginn des Angriffs waren kaum zwanzig Minuten vergangen, und schon war die Stadt gefallen. Der Feind hatte Hunderte von Opfern hinnehmen müssen, und es würde auch viele verwundete Briten geben. Aber wenn der rasche und entschlossene Angriff, wie von Arthur beabsichtigt, dazu beitrug, die Verteidiger der Festung zu entmutigen, dann konnte auf lange Sicht eine große Zahl von Menschenleben gerettet werden. Es war ein merkwürdiger Gedankengang, und er fragte sich, ob sich auch andere Generäle solchen moralischen Berechnungen hingaben, um ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Nun, da der Kampf vorbei war, senkte sich eine vertraute Müdigkeit auf ihn, und er wandte seine Überlegungen mit einem Seufzer der Einnahme der Festung zu, als er von der Bastion nach unten stieg.

Während der nächsten beiden Nächte wurde dreihundert Meter von der Festung entfernt eine Geschützstellung gebaut. Arthur und seine Pioniere hatten die Befestigungen durch ihre Teleskope gründlich untersucht, ehe sie sich für einen Abschnitt entschieden, wo das Mauerwerk schwach zu sein schien und an manchen Stellen bereits bröckelte. Der Killadar, der die Festung befehligte, war offenbar nicht versiert in moderner Belagerungstechnik, oder er hatte die Ratschläge der französischen Offiziere ignoriert, die unter ihm dienten. Es gab keinen Versuch, auf die britischen Pioniere zu feuern. Im Morgengrauen nach der zweiten Nacht war die Batterie fertig, und Kanonen, Pulver und Munition standen bereit. Sobald es hell genug war, um die Reichweite abzuschätzen, gab Arthur den Befehl, das Feuer zu eröffnen. Mit einem lang anhaltenden Krachen spuckte die Zwölfpfünder Flammen und Rauch, während Arthur danebenstand und durch sein Fernrohr zur Festung spähte. Er sah die Eisenkugel einschlagen und Mauerbrocken aus der Front des Festungswalls spritzen. Er ließ das Fernrohr sinken und nickte dem Kommandeur der Stellung zu.

»Die Reichweite stimmt. Feuern Sie weiter, aber überstürzen Sie nichts. Die Kanonen müssen sorgfältig geladen werden. Ich will, dass kein einziger Schuss vergeudet wird, verstanden?«

»Ja, Sir.«

Arthur erwiderte den Salut des Offiziers und kehrte in sein Zelt zurück, um zu frühstücken. Nachdem er gegessen hatte, wandte er sich den jüngsten nachrichtendienstlichen Berichten seiner Hircarrah-Agenten zu. Hier im nördlichen Teil Indiens konnten sie nicht hoffen, unbemerkt durch die Lager der Marathen zu laufen und mussten aus der Ferne über die Bewegungen des Feinds berichten. Schon jetzt war einigermaßen klar, dass sie die Größe der feindlichen Formationen nur sehr schlecht einschätzen konnten, und ihren Meldungen zufolge befehligte Scindia zwischen fünfzigtausend und hundertfünfzigtausend Mann. Im Gegensatz dazu wusste Arthur genau, wie viel Männer er in seiner Armee hatte. Zusätzlich zu den zweieinhalbtausend regulären Soldaten gab es siebentausend Sepoys und viertausend Mann Kavallerie aus Mysore. Oberst Stevensons geringfügig kleinere Streitmacht war bereits auf dem Marsch, um sich ihnen anzuschließen. Zusammen sollten sie Scindias Horde gewachsen sein.

Den ganzen Tag dröhnten die Kanonen in einem gemächlichen Rhythmus, und am frühen Nachmittag gab es Anzeichen dafür, dass die Mauern zu bröckeln begannen, da jeder Einschlag einen Schauer aus Mörtel und Schutt in den äußeren Graben rutschen ließ. Das Bombardement wurde am nächsten Morgen fortgesetzt, und schließlich tat sich eine Bresche auf. Weitere Treffer verbreiterten die Lücke, bis den Briten am späten Nachmittag schließlich die Munition ausging.

Der Leiter der Pioniere gab Arthur dessen Teleskop zurück und schürzte die Lippen, ehe er seine Einschätzung abgab. »Ich würde sagen, dass die Bresche nutzbar ist, Sir. Wir könnten einige Patronen Schrapnell hineinfeuern, um den Feind aus dem Weg zu räumen, bevor unsere Jungs hineingehen. Wollen Sie den Angriff heute unternehmen, Sir?«

»Natürlich.«

»Dann lasse ich die Kanonen vorbereiten.«

»Sehr gut«, sagte Arthur. »Tun Sie das.«

Als die Sonne zum Horizont sank, die Landschaft in ein feuerrotes Glühen tauchte und lange dunkle Schatten warf, ließ Arthur die Hauptmacht seiner Armee gegenüber der Bresche Aufstellung nehmen. Nur die Führungsbataillone sollten den eigentlichen Angriff durchführen, aber er hatte überlegt, welchen Eindruck ein solcher Aufmarsch auf die Feinde machen würde, und kurz bevor der Angriff begann, wurde auf der nächstgelegenen Bastion eine weiße Fahne hastig hin und her geschwenkt, um die Aufmerksamkeit der Briten zu wecken. Arthur ging nach vorn und traf die Abgesandten des Killadar vor der Geschützstellung. Außer dem Mann mit der behelfsmäßigen weißen Fahne waren ein Vertreter der Marathen und ein französischer Offizier gekommen. Letzterer salutierte Arthur, als sie aufeinander zugingen. Arthur ergriff sofort auf Französisch das Wort.

»Wenn Sie Schonung vor meinen Männern wünschen, müssen Sie die Festung unverzüglich übergeben.«

»Mein Kommandeur, der Killadar, möchte wissen, welche Bedingungen Sie anbieten.«

»Ich habe meine Bedingungen bereits genannt«, erwiderte Arthur. »Sofortige Kapitulation oder Tod.«

Es gab einen kurzen Wortwechsel zwischen dem Marathen und dem französischen Offizier, ehe Letzterer fortfuhr: »Der Killadar wünscht zu verhandeln.«

»Die Verhandlungen sind beendet. Ich werden dem Killadar nicht gestatten, auf Zeit zu spielen. Ich gebe ihm zehn Minuten, seine Entscheidung zu treffen, vom Ende unseres Gesprächs an. Sie können ihm sagen, dass er und seine Männer die Festung verlassen dürfen, und ich gewähre ihnen zwei Tage Aufschub, bevor ich aus Ahmadnagar vorrücke.«

»Das ist ein großzügiges Angebot«, räumte der französische Offizier ein. »Ich werde tun, was ich kann, damit er es annimmt.«

Arthur nickte, dann zog er seine Taschenuhr hervor, blickte demonstrativ darauf und murmelte: »Also, zehn Minuten.«

Kurz bevor die Zeiger der Uhr auf das Ende der Frist zugekrochen waren, wurden die Tore der Bastion aufgestoßen, und die Soldaten der Garnison kamen herausmarschiert, nervöse Blicke auf die massierten Reihen der Briten vor ihnen werfend. Während die Marathen-Krieger eine improvisierte Kolonne bildeten, holperten einige hastig beladene Wagen und Karren über die Grabenbrücke, und schließlich erschienen der Killadar und seine hohen Offiziere. Begleitet von dem französischen Offizier, näherten sie sich Arthur und verbeugten sich höflich, dann sah der Killadar den britischen General mit offener Bewunderung an und sprach kurz, wobei er Pausen einlegte, damit der Franzose übersetzen konnte.

»Er sagt, es ist keine Schande, sich einer Armee zu ergeben, die mit der Pettah und seiner Garnison so kurzen Prozess machen konnte … Er sagt, die Briten sind ein merkwürdiges Volk. Sie sind am Morgen hier angekommen, haben sich die Mauern der Pettah angesehen, sind darübergestiegen und haben alle Verteidiger getötet, und dann haben Sie kehrtgemacht, um zu frühstücken. Welcher Feind könnte Ihnen widerstehen?«

Arthur zwang sich, keine Miene zu verziehen, und der französische Offizier lachte, ehe er fortfuhr. »Ich bezweifle, dass eine einheimische Armee dergleichen schon einmal gesehen hat. Ich kann mir vorstellen, welchen Effekt es auf Scindias Männer haben wird, wenn der Killadar die Geschichte erzählt«, schloss er. »Sie sind ein furchterregender Gegner, General. Ich fürchte, wir könnten uns schon bald aufs Neue begegnen.«

»Nicht, wenn Sie Indien verlassen.«

»Falls ich dies tatsächlich täte, Monsieur – ein Mann von Ihrem Talent wird sicher nach Europa zurückgerufen werden, um dort zu kämpfen, und ich fürchte für meine Landsleute.«

»Sie sind äußerst großzügig mit Ihrem Lob«, erwiderte Arthur knapp. »Wenn Sie nun so freundlich wären, den Killadar zu bitten, mit seiner Kolonne abzuziehen. Ich habe eine Festung zu besetzen und noch einen Feldzug zu führen.«

Der französische Offizier salutierte und übersetzte dann für den Befehlshaber der Marathen, ehe sie zu ihrer Kolonne marschierten. Sobald die Marathen sich in Richtung Norden entfernt hatten, führte Arthur seine Leute in die Festung Ahmadnagar.

Mit einer sicheren Basis im Rücken, in der sie ein Bataillon Soldaten der Ostindien-Kompanie als Garnison zurückließen, zog Arthur nach Norden über den Godavari, während Oberst Stevenson ihm quer durch das Territorium von Hyderabad entgegenmarschierte. Unter der sengend heißen Sommersonne drangen die beiden britischen Marschkolonnen immer tiefer in feindliches Territorium ein und verfolgten aufmerksam die Berichte von den Bewegungen der Armee Scindias. Die Hitze war tagsüber derart stark, dass die Armee das Lager abbrach, solange es noch dunkel war und bis zum späten Vormittag so viel Strecke wie möglich zurücklegte, ehe sie ein neues Lager aufschlugen und in jedem Schatten ruhten, den sie fanden. Ende September kam dann die Nachricht, dass sich Scindia beim Dorf Borkardan befand, etwa zwei Tagesmärsche entfernt. Arthur ließ eilig Stevenson benachrichtigen und wies ihn an, sich dort mit Arthurs Kolonne zu vereinen, um den Feind zu stellen und zu einer Schlacht zu zwingen. Als sich unter den Soldaten die Neuigkeit ausbreitete, dass der Feind nicht weit entfernt war, wurden sie von spürbarer Aufregung und Anspannung ergriffen.

Am Morgen des 23. September beendete die Armee ihren Marsch beim Dorf Naulniah. Wenn die Informationen ihrer Aufklärung stimmten, lagerte der Feind einen weiteren Tagesmarsch entfernt, aber schon suchten die Soldaten mit den Augen die Landschaft ringsum nach Hinweisen auf feindliche Reiter ab. Während die staubigen Kolonnen der Infanterie, Artillerie und Kavallerie in den für das Feldlager vorgesehenen Bereich zogen, wurden wie üblich berittene Vorposten losgeschickt, um die Zugangswege zum Lager zu sichern.

Arthur hatte sich gerade für eine Erfrischung in sein Zelt zurückgezogen, als er durch dessen Verschläge eine Patrouille der 19. Dragoner auf die Zeltgruppe zu galoppieren sah, die das Hauptquartier bildete. Ihr Kornett stieg eilig ab und winkte einen Kaufmann der Brinjarri zu sich, der mit ihnen geritten war. Arthur stellte seine Tasse Tee ab und ging dem Dragoner-Offizier entgegen.

»Was gibt es?«

»Sir, dieser Mann ist drei Meilen entfernt von hier in unsere Patrouille gestolpert. Er sagt, er sei auf dem Weg gewesen, den Soldaten Scindias in ihrem nahen Lager Essen zu verkaufen.«

Arthur wandte sich sofort dem Kaufmann zu und fragte ihn auf Hindustani: »Wo ist Scindia?«

»Zwei oder drei Kos entfernt von hier, Sahib

Nicht mehr als sechs Meilen, rechnete Arthur, und sein Puls beschleunigte.

»Wie viele Männer sind in seinem Lager?«, fragte Arthur, und dann kam ihm zu Bewusstsein, dass der Kaufmann unmöglich in der Lage sein konnte, die Zahl richtig zu schätzen. Er versuchte es auf andere Weise: »Wie groß ist das Lager?«

Der Kaufmann überlegte einen Moment angestrengt, wie er das Ausmaß dessen, was er gesehen hatte, ausdrücken sollte. »Sahib, sie lagern entlang des Flusses Kaitna, auf einer Strecke von drei Kos

»Drei Kos?«, wiederholte Arthur erstaunt. Er stellte eine rasche Schätzung an, und sein Herz schlug schnell vor Aufregung, als ihm klarwurde, dass die feindliche Streitmacht mindestens hunderttausend Mann stark sein musste. Er hatte Scindias Armee gefunden. Besser noch, er hatte sie im Lager erwischt. Arthur warf einen Blick auf seine Armee, die gerade an ihrem Lagerplatz für die Nacht eintraf. Sie waren bereits vierzehn Meilen marschiert. Stevenson war noch mehrere Meilen entfernt, und es gab keine Hoffnung, dass er das feindliche Lager vor Ende des Tages erreichte. Dennoch zögerte er keine Sekunde, als er seine Entscheidung traf. Er drehte sich zum Zelt um und rief nach Fitzroy.

»Geben Sie es weiter: Die Bataillonskommandeure sollen ihre Männer antreten und kampfbereit machen lassen.«