46

Arthur

Ambur, Indien, Februar 1799

Als General Harris und seine Armee die als Ostghats bekannte Hügelkette erreichten, wartete bereits die Verstärkung auf sie, die der Nizam geschickt hatte. Wie in dem neuen, von ihm unterschriebenen Vertrag mit Britannien festgelegt, hatte der Nizam sechs Bataillone der Ostindien-Kompanie zusätzlich zu mehreren Einheiten geschickt, die früher von französischen Offizieren befehligt worden waren, sowie mehr als zehntausend Mann Kavallerie. Die Armee stand unter dem Befehl des ersten Ministers des Nizams, Mear Allum, und war fast so groß wie die von General Harris. Wenn sie gegen Tipu in den Krieg zogen, beschloss Harris, würden sie in getrennten Kolonnen vorrücken.

Wie es der General bei einer Lagebesprechung mit seinen hohen Offizieren erklärte: »Dank des Arrangements, das Oberst Wellesley mit den Kaufleuten der Brinjarri zustandebrachte, kann nun zum ersten Mal eine britische Armee in Indien unabhängig operieren. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir zusätzlich zu den Soldaten mehr als hunderttausend Personen Marketender und anderes Gefolge haben werden. Wenn wir in einer einzigen Formation marschieren würden, hätte die Vorhut bereits ihr Lager aufgeschlagen und sich zum Schlafen gelegt, bevor die Nachhut überhaupt die Zelte abgebaut hätte.«

Es war keineswegs übertrieben, dennoch musste eine Reihe von Offizieren bei der Vorstellung lächeln, und Harris ließ ihnen die Freude, ehe er widerstrebend zu der unausweichlichen Folgerung kam, dass sie in zwei Kolonnen marschieren würden. Er hustete, dann blickte er in die Runde, ehe er den Blick auf die schlanke Gestalt von Mear Allum richtete, die in fließende weiße Gewänder gehüllt war. »Auch wenn der Nizam, genau wie ich, großes Vertrauen in Mear Allum setzt, haben wir vereinbart, dass es für die Armee des Nizam von Vorteil wäre, wenn ihr ein Regiment des Königs zugeteilt wird und ein britischer Offizier als Berater ihres Befehlshabers, Mear Allum, fungiert.«

Der erste Minister des Nizam nickte höflich. »Ich danke Ihnen für die äußerst liebenswürdige und großzügige Beschreibung meiner Rolle, aber ich werde nur dem Namen nach Befehlshaber sein. Das Alltagsgeschäft der Führung einer Armee und das Kommando in der Schlacht werden die Aufgabe des britischen Offiziers sein.«

»Wie Sie meinen.« General Harris neigte den Kopf und lächelte Mear Allum an. »Und ich danke Ihnen und dem Nizam für Ihr Verständnis in dieser Angelegenheit. Auch wenn ich volles Vertrauen in die Soldaten und Offiziere der Armee des Nizam setze, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie von jemandem befehligt werden, der mit den betrieblichen Abläufen in der britischen Armee vertraut ist. Ich hatte ursprünglich Oberst Ashton für diesen Posten vorgesehen, aber da er tragischerweise nicht mehr unter uns weilt, ist Oberst Wellesley die logische Wahl für die Position.«

Arthur hatte sich ehrlicherweise eingestanden, dass er sich nach der Ernennung sehnte, aber da es etliche ranghöhere Offiziere in der Armee gab, hatte er seine Ambitionen für fruchtlos gehalten. Nun war er aufrichtig überrascht und fuhr auf seinem Sitz zusammen.

»Ich, Sir?«

General Harris lächelte. »Ja, Oberst. Natürlich weiß ich, dass es hier Offiziere mit mehr Erfahrung und höherem Rang gibt als Sie, aber meiner Ansicht nach werden solche Männer am dringendsten in der Hauptkolonne unter meinem Kommando benötigt. Da sie mehr als ein Regiment befehligen, würde es die Schlachtordnung stören, einen dieser Offiziere herauszulösen, wohingegen Sie Regimentskommandeur sind, deshalb können Sie und das 33ste abkommandiert werden, ohne die Befehlskette unnötig neu ordnen zu müssen.«

Es war eine sorgfältig ausgearbeitete Antwort, und Arthur begriff sofort, dass sie diejenigen Offiziere beschwichtigen sollte, die einen höheren Rang als er innehatten.

»Verzeihung, Sir«, dröhnte eine tiefe Stimme von einer Seite des Zelts, und alle wandten sich der stattlichen Gestalt von Generalmajor David Baird zu. Baird war jedem, der einige Zeit in Indien gedient hatte, wohlbekannt. Er genoss den Ruf eines vorzüglichen Soldaten: mutig, stark und mit einem Durchhaltevermögen ausgestattet, das ihn drei Jahre Gefangenschaft in den Kerkern von Seringapatam überstehen ließ.

»Sie haben etwas zu der Ernennung zu sagen?«, fragte General Harris.

Baird schob das Kinn vor und verschränkte die Arme. »In der Tat, Sir. Die Verantwortung, die mit diesem Posten einhergeht, ist alles andere als unbedeutend. Der dafür Auserkorene wäre praktisch der Befehlshaber über eine Streitmacht von mehr als zwanzigtausend Mann! Das ist kein Kommando für einen bloßen Oberst, Sir.« Baird hielt inne und sah Arthur an. »Nichts für ungut, Wellesley. Sie sind ein so tüchtiger junger Mann wie nur irgendeiner, der eines Tages General sein wird. Aber noch ist es nicht so weit.« Er wandte sich wieder Harris zu. »Es ist eine Aufgabe für einen ranghöheren Offizier, Sir. Das ist glasklar.«

»Für jemanden wie Sie selbst, vielleicht?«

Baird zuckte mit den breiten Schultern. »Ich oder ein Offizier meines Rangs. Aber da ich einige Erfahrung mit Mysore habe, glaube ich fest, dass ich der beste Mann für den Posten wäre.«

»Soviel ich weiß, sind Sie über Seringapatam nicht recht hinausgekommen, wenn Sie mir das Wortspiel erlauben.«

Baird runzelte die Stirn. »Ich habe mehr als nur Tipus Hauptstadt gesehen, Sir … Ach so, ich verstehe.« Nun, da er den Seitenhieb verstanden hatte, schnaubte Baird entrüstet. »Ich mag ein Gefangener gewesen sein, aber diesen Makel in meiner Erinnerung würde ich nur zu gern mit dem Blut meiner Feinde fortwaschen. Sie könnten sich schwerlich einen Soldaten wünschen, der entschlossener ist, Tipu zu vernichten. Das ist Empfehlung genug.«

»Rachedurst mag in bestimmten Situationen eine begrüßenswerte Eigenschaft sein, mein lieber Baird, aber nicht jetzt. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und Sie müssen sie akzeptieren.«

»Einen Teufel werde ich tun, Sir!« Baird reckte den Kopf vor. »Ich lasse mich nicht übergehen, nur weil der jüngere Bruder des …«

»Das reicht, Baird!« General Harris schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie werden Ihre Zunge im Zaum halten, Sir!«

Baird schien drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren, doch es gelang ihm mit schierer Willenskraft, den Mund zu schließen und schwerfällig auf seinen Platz zu sinken. Harris holte tief Luft. »Meine Herren, die Besprechung ist für heute beendet. Seien Sie so gut, sich zu verabschieden. Generalmajor Baird, Sie bleiben bitte noch. Und Sie ebenfalls, Oberst Wellesley.«

Die übrigen Offiziere standen auf und verließen ruhig das Zelt, und als der letzte von ihnen durch die Zeltverschläge verschwunden war, winkte Harris die beiden verbliebenen Männer näher zu sich.

»Nun denn, Baird«, sagte er mit erzwungener Höflichkeit, »ich möchte ein solches Auftreten vor den anderen Offizieren nie wieder erleben. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Sollten Sie glauben, mir widersprechen zu müssen, dann dürfen Sie es in einem vertraulichen Gespräch tun und nirgendwo sonst. Ich lasse meine Autorität vor den anderen Offizieren nicht infrage stellen. Wenn Sie mich in dieser Beziehung noch einmal enttäuschen, Baird, dann schicke ich Sie nach Madras zurück, und Sie dürfen für den Rest dieses Krieges Requisitionsformulare bearbeiten. Was natürlich eine Schande wäre, da die Armee Ihre Qualitäten als Kämpfer gut gebrauchen kann.«

»Dann übergeben Sie mir das Kommando über die Kolonne des Nizam, Sir.«

»Verdammt nochmal, Baird, haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Ich habe meine Entscheidung getroffen«, fügte er an und betonte jedes einzelne Wort.

»Jawohl, und ich nehme an, diese Entscheidung hat nichts damit zu tun, dass dieser Bursche hier der Bruder des Generalgouverneurs ist.«

Arthur errötete und sah Baird mit kalter Verachtung an. »Wenn ich nur einen Moment lang glauben würde, dass man mich aus Gründen der Vetternwirtschaft bevorzugt, würde ich den Posten ohne das geringste Zögern ablehnen, Sir.«

»Und welche anderen Gründe könnte es wohl geben?«, höhnte Baird.

»Also gut, ich nenne Ihnen die Gründe«, fuhr ihn Harris an. »Wellesley hat sich die Zeit genommen, eine der Sprachen der Einheimischen zu lernen. Er hat sich mit einigen von ihnen angefreundet, und viele andere respektieren ihn und haben eine hohe Meinung von ihm. Er hat sein Regiment zur vorzüglichsten Mannschaft auf diesem Kontinent geformt, und ich bin fest davon überzeugt, dass er ein hervorragender Befehlshaber für die Armee des Nizam sein wird.«

»Na und, dann spricht der Bursche eben die Sprache der Schwarzen«, sagte Baird. »Dann freundet er sich eben mit ihnen an. Wir sind hier, um gegen die Schweinehunde zu kämpfen, nicht um uns mit ihnen zu verbrüdern!«

Harris sah seinen hitzigen Untergebenen mit eisiger Verachtung an. »Es ist diese Einstellung, die Sie mehr als jeden anderen Offizier als ungeeignet für diese Aufgabe erweist. Ich brauche einen Mann mit Taktgefühl, mit diplomatischem Geschick ebenso sehr, wie ich einen Offizier brauche, der Männer in die Schlacht führen kann. Und ich schätze mich glücklich, all diese Eigenschaften in Oberst Wellesley in Fülle vorzufinden. Wenn Sie die Wahrheit hören wollen, Baird, ich habe ihn ausgewählt, weil er schlicht der beste Mann für die Aufgabe ist, und ich werde nicht zulassen, dass Wellesley nach allem, was er geleistet hat, von einem anderen Mann verdrängt wird, nur weil er ihm rangmäßig unterlegen ist. So, es gibt nichts mehr zu besprechen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und Sie werden sie akzeptieren. Sie dürfen gehen, Baird. Bitte verlassen Sie mein Zelt.«

Baird stand so abrupt auf, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. Er nickte seinem Vorgesetzten knapp zu, ignorierte Arthur demonstrativ und marschierte schäumend vor Empörung und verletztem Stolz hinaus.

Nachdem er gegangen war, ließ Harris die Schultern sinken und holte tief Luft, bevor er zu Arthur sprach. »Es ist eine Schande, dass ich so mit ihm reden muss. Baird ist ein guter Soldat, und die Männer schauen wie zu einem Vater zu ihm auf. Aber in Situationen, die Fingerspitzengefühl erfordern, legt er die soziale Kompetenz eines Kampfhundes an den Tag. Schlimmer noch, er gibt sich keine Mühe, seine Abneigung gegen Indien und alle Eingeborenen zu verbergen. Wenn er das Kommando über die Armee des Nizam erhielte, würden wir wahrscheinlich vor Ende des ersten Tagesmarschs mit dem Nizam im Krieg liegen.« Harris beugte sich vor und sah Arthur prüfend an. »Sie hingegen besitzen genau die Qualitäten, die für die Aufgabe benötigt werden: Geduld, Sorgfalt und Integrität. Ich bin lange genug Soldat, um zu wissen, dass Sie mehr als nur eine Stufe über den meisten Offizieren stehen, Oberst Wellesley. Dass dies so offensichtlich ist, kann durchaus eher ein Fluch als ein Segen für Sie sein. Ich weiß sehr wohl, dass viele Offiziere in dieser Armee dazu neigen, das Schlechteste von Ihnen zu denken, einfach weil Sie Morningtons Bruder und ein besserer Mann sind als der Rest von ihnen. Ein anderer General hätte das vielleicht als Vorwand benutzt, Sie nicht hochkommen zu lassen.« Harris’ Lächeln kehrte zurück. »Aber ich bin kein anderer General. Ich bin ein General, der einen Krieg zu gewinnen hat, und alles ist verflucht nochmal der Besiegung und Zerstörung des Feinds untergeordnet, egal, wessen Gefühle ich verletzen muss.«

Arthur grinste. »Danke, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

»Das sollten Sie tatsächlich nicht«, sagte Harris ernst. »Dies ist Ihre Chance, Großes zu tun, Wellesley. Aber wenn Sie scheitern, wird es keine solche Gelegenheit mehr geben. Sie werden sich vollständig zugrunde richten, zugleich Ihren Bruder im Stich lassen und jede Aussicht auf Größe für Sie beide irreparabel beschädigen.«

»Wieso das, Sir? Jeder Fehler, den ich begehe, ist doch wohl meiner.«

»Nein«, sagte Harris betrübt. »So läuft das nicht. Indem Sie dieses Kommando übernehmen, setzen Sie sich dem Vorwurf des Nepotismus aus. Wenn Sie Erfolg haben, wird man lediglich denken: Wenn Sie es konnten, hätte es jeder gekonnt. Wenn Sie scheitern, wird es heißen, Sie seien ungeeignet für die Aufgabe gewesen, und Ihr Bruder hätte die Familie über das Land gestellt, und dafür gibt es weder Vergebung noch Mitleid.«

Arthur dachte eine Weile darüber nach, dann nickte er. »Ich verstehe. Und ich nehme den Posten bereitwillig an.«

»Sie nehmen an?« Harris sah verwundert aus. »Die Frage, ob Sie annehmen, stellt sich nicht. Es ist ein Befehl.«

Arthur lachte. »Jawohl, Sir.«

47

Die Armee rückte entlang des Baramahaltals vor, das von Ambur nach Westen verlief. Der Talgrund war breit und flach und mit kleinen Gehölzen niedriger Bäume durchsetzt, sodass die Armee gut vorankam. Arthurs Kolonne marschierte auf der linken Seite, drei Meilen von Harris entfernt. Zwischen den beiden Streitkräften dehnte sich der riesige Zug der Brinjarris aus, der Familien der Sepoys sowie aller möglichen Kaufleute und Händler. Mit ihnen trotteten Karawanen von Ochsen, Pferden, Kamelen, Maultieren und hier und dort die graue, schaukelnde Masse eines Elefanten. Eine riesige Staubwolke stieg im Gefolge dieser Heerscharen auf und kündigte das Nahen der Armee schon von Weitem an. Jeden Tag legten sie zehn Meilen zurück, bevor sie ein Nachtlager aufschlugen. Dann gingen die Händler durch die Zeltreihen und verkauften mit Curry gewürzte Kutteln, eingetunktes Brot und gekochte Würste an die hungrigen Soldaten.

Am Morgen entzündeten die Sepoys mithilfe von Stroh die Morgenfeuer und verbrannten Kuhdung, der beißend in der Luft hing. Überall war das schrille Geplapper des weiblichen Lagergefolges zu vernehmen, wenn die Frauen rasch ein Morgenmahl für ihre Familien bereiteten und dann ihre Habseligkeiten für den Tagesmarsch zum nächsten Lagerplatz zusammenpackten.

Arthur betrachtete das offenkundige Chaos des Lagers mit einem gewissen Maß an Nachsicht, da die Regeln der britischen Militärdisziplin nur für das 33. Infanterieregiment und die sechs Sepoy-Bataillone der Ostindien-Kompanie galten. Der Rest waren einheimische ausgehobene Truppen mit ihren eigenen Gebräuchen. Die Männer des 33sten genossen ihren Status als Eliteformation in einer so großen Streitmacht und marschierten mit einem zur Schau gestellten Selbstbewusstsein, das ihrem Oberst große Freude bereitete. Wenn es an der Zeit war, zu kämpfen, würden sich die anderen Bataillone und die Männer des Nizam an ihnen orientieren und ihren Platz in der Schlachtlinie halten.

Als sie den Ryacottapass erreichten, fuhren die Wagen und Geschütze auf der Straße nach oben, die Harris’ Pioniere für sie angelegt hatten, während die Infanterie und der Tross links und rechts davon über das zerklüftete Gelände kletterten. Nach der Überquerung der Ostghats befand sich die Armee auf dem Gebiet von Mysore, und sofort begannen kleine Gruppen feindlicher Reiter, den Kolonnen zu folgen. Tipus Strategie wurde in dem Augenblick offensichtlich, in dem sich die Armee Kellamungallam näherte. Gewaltige Rauchschwaden hingen über den Resten der Stadt. Gebäude waren großflächig niedergebrannt worden, die Wehranlagen hatte man abgerissen oder in die Luft gesprengt. Hinter der Stadt war die Strecke vor General Harris’ Armee abgefackelt worden.

»Tipu hat offenbar beschlossen, seine Soldaten zurückweichen zu lassen und Seringapatam zu verteidigen«, folgerte Harris gegenüber seinen hohen Offizieren, nachdem die Armee ein kurzes Stück von den verkohlten Ruinen Kellamungallams entfernt ihr Lager aufgeschlagen hatte. »Er zielt darauf ab, uns immer weiter in sein Land zu locken und uns unterwegs jede Möglichkeit zur Versorgung zu nehmen, in der Hoffnung, dass es uns nicht gelingt, seine Hauptstadt so lange zu belagern, bis wir sie eingenommen haben. So wie Cornwallis beim letzten Versuch einer britischen Armee scheiterte, Mysore zu besiegen.«

Baird unterbrach ihn. »Und was wird unseren Versuch dort zum Erfolg führen, wo Cornwallis scheiterte, Sir?«

»Dazu wollte ich gerade kommen. Oder vielmehr wollte ich Oberst Wellesley bitten, den weiteren Fortgang des Feldzugs aus seiner Sicht zu umreißen, da er und sein Stab in großen Teilen für dessen Planung verantwortlich waren.«

»Danke, Sir.« Arthur stand auf und ordnete kurz seine Gedanken, bevor er sprach. Es fühlte sich immer noch seltsam an, zu einer Versammlung ranghoher Offiziere zu reden, von denen die meisten älter und erfahrener als er und seine Vorgesetzten waren. Doch er zweifelte nicht an sich, da in der Planungsphase des Feldzugs alle Eventualitäten bedacht worden waren. Er räusperte sich. »Tipu weiß, er würde besiegt werden, wenn er eine offene Feldschlacht gegen uns riskieren würde. Deshalb hat er sich auf die Strategie verlegt, unsere Zugtiere auszuhungern. Ich habe mit den Führern der Brinjarris gesprochen, und sie versichern mir, ihre Ochsen können alles Mögliche an Gräsern und Pflanzen fressen. Tipus Leute können unmöglich alles an Essbarem zerstören, was auf unserem Weg wächst. Nichtsdestoweniger werden sie unsere Versorgung mit der Zeit einschränken. Deshalb habe ich den General darauf aufmerksam gemacht, dass die Armee gezwungen sein wird, sich außerhalb des Gebiets zu bewegen, das Tipus Männer verbrannt haben, wenn die Nahrung knapp wird. In der Zwischenzeit können wir damit rechnen, dass Tipus Kavallerie Störattacken unternimmt, um zu verhindern, dass sich unsere Verpflegungstrupps außerhalb des geräumten Gebiets bewegen. Ihre Männer werden die nötigen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, wenn wir Kellamungallam verlassen. Das Gelände begünstigt den Feind. Es ist flach und größtenteils offen, mit vereinzelten Baumgruppen als Deckung. Wir werden unsere Sinne beisammenhaben müssen, wenn wir uns Seringapatam nähern.«

»Danke, Oberst.« General Harris bedeutete ihm, wieder Platz zu nehmen. »Von nun an, meine Herren, werden wir vom Feind umringt sein. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir ihm nicht die geringste Gelegenheit bieten, unsere Unternehmung scheitern zu lassen.«

Bis zum Ende des Monats rückten sie gleichmäßig über die von Tipus Leuten verbrannte Erde vor, dann befahl Harris der Armee, nach Südwesten abzubiegen und direkt auf Seringapatam zuzuhalten. Nach wenigen Meilen hatten sie den Streifen der Zerstörung hinter sich gelassen und gelangten in eine ländliche Gegend, in der es Nahrung im Überfluss gab. Der plötzliche Richtungswechsel brachte die Störtrupps der feindlichen Reiter aus dem Konzept, und es dauerte zwei Tage, bis sie wieder gesichtet wurden. Nach seinen frühen Verlusten wahrte der Feind Distanz und unternahm keinen Versuch, sich Arthurs Kolonne zu nähern. Von Tipus Infanterie und Artillerie war nichts zu sehen, und Arthur dachte, dass sie wohl in der Hauptstadt warteten, um die Briten zurückzuschlagen, wenn diese die Stadt schließlich belagerten.

Vier Tage lang marschierte die Armee auf Seringapatam zu, entlang einer Straße, die von dichtem Urwald gesäumt war, unterbrochen von flachem Land mit Baumgruppen. Arthur hielt ständig nach Anzeichen für die Anwesenheit des Feinds Ausschau. Es war die Sorte Land, wo Tipus Leute die Briten mühelos aufhalten konnten – lange genug, um zu verhindern, dass die Briten Seringapatam vor Beginn der Monsunzeit erreichten und einnahmen. Doch es gab keinen Hinterhalt, keinerlei Angriffe, und die Armee marschierte ohne Unterbrechung weiter, bis sie sich eines späten Nachmittags dem großen Dorf Malavalley näherte.

Der Dschungel hatte so gut wie baumlosem Land Platz gemacht. Arthur ritt nahe der Spitze seiner Kolonne, als er in der Ferne dumpfe Kanonenschläge hörte, und einen Moment später spritzte vor seinen vordersten Soldaten ein Stück Erde auf. Er gab seinem Pferd Diomed die Sporen, holte sein Fernrohr hervor und richtete es auf die niedrigen Hügel auf der anderen Seite von Malavalley. Die Rauchwolken, die in der unbewegten Luft hingen, verrieten die Positionen der feindlichen Artillerie. Als Arthur seine Aufmerksamkeit den Geschützen zuwandte, entdeckte er unterhalb von ihnen dicht gedrängte Formationen von Infanterie und oben auf dem Hügel die unverkennbaren Umrisse von Elefanten.

Er ließ das Fernrohr sinken und zog seine Taschenuhr hervor. Wenn Tipus Truppen die Stellung hielten, blieb noch Zeit, sie vor Ende des Tages anzugreifen. Er wandte sich seiner kleinen Gruppe von Stabsoffizieren zu. »Leutnant Beaumont!«

»Sir?«

»Reiten Sie zu General Harris, und teilen Sie ihm mit, dass ich den Feind gesichtet habe. Er wird bis zu Ihrem Eintreffen vielleicht schon Berichte über Sichtungen von seinen eigenen Leuten erhalten haben, aber sagen Sie ihm, ich schlage untertänig vor, dass wir den Feind sofort angreifen, bevor er sich im Schutz der Nacht zurückzieht.«

Während er auf eine Antwort wartete, gab Arthur seinen Leuten rasch Befehle zur Vorbereitung auf die Schlacht. Das 33. Infanterieregiment und die Sepoy-Bataillone marschierten vor und nahmen in Kolonnen in Kompaniestärke Aufstellung, mit Blick zu den Hügeln, wo der Feind wartete und gelegentlich einen Schuss aus einer der schwersten Kanonen versuchte. Die Infanterieeinheiten des Nizam formierten sich links des 33sten, und die Kavallerie bezog an den Flanken Stellung. Während er zusah, wie sie manövrierten, betete Arthur, dass Harris die Gelegenheit ergreifen würde, den Feind zu attackieren. Da nur noch wenige Stunden Sonnenlicht blieben, um eine offene Schlacht auszutragen, konnte es sein, dass Harris bis zum Morgengrauen wartete, und bis dahin konnte sich der Feind mühelos wieder verflüchtigt haben.

Die Armee beendete ihre Aufstellung gerade, als General Harris herbeigeritten kam.

»Wellesley!« Er lächelte, als er seinen Untergebenen begrüßte, dann deutete er zu den Reihen der Männer auf beiden Seiten. »Sie sind mir einen Schritt voraus. Ich habe Ihre Nachricht erhalten, und meine Männer formieren sich rechts von Ihnen. Bairds Brigade wird Ihnen am nächsten sein. Ich hatte überlegt, ein Nachtlager aufzuschlagen und sie morgen früh anzugreifen, aber da wir den Feind in Sicht haben, wäre es töricht, ihm nicht gleich eine Tracht Prügel zu verpassen.«

Arthur war erleichtert bei den Worten seines Vorgesetzten. Er nickte. »Sehr wohl, Sir. Wie sieht Ihr Plan aus?«

»Nichts Raffiniertes. Ich denke, es genügt, wenn wir gute Ausbildung und tapfere Herzen sich durchsetzen lassen. Wir rücken auf den Hügelkamm vor und nehmen ihn ein. Die Kavallerie wird unsere Flanken abschirmen und Tipus Halunken mit diesen leichten Geschützen in Schach halten, die Sie ihnen zugeteilt haben.«

»Sehr gut, Sir.«

»Nun denn, Wellesley. Ich reite los und beziehe Position in der Mitte. Sobald Sie unsere Kanonen feuern hören, können Sie vorrücken. Vergeuden Sie keine Zeit. Wir müssen den Feind zum Kampf zwingen, bevor er den Mut verliert.«

Als der General fort war, ritten Arthur und Fitzroy die Reihe hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, dass die Männer richtig verteilt standen. Beinahe unverzüglich war von der rechten Seite der Schlag eines leichten Geschützes zu hören.

»Verflucht nochmal, das ging aber schnell«, murmelte Fitzroy. »Falls es das Signal war, meine ich.«

Arthur warf einen Blick nach rechts und sah, dass sich Bairds Brigade bereits in Marsch gesetzt hatte. »Tja, wenn nicht, dann war es jetzt das Signal.« Er füllte die Lungen mit Luft und rief: »Bajonette aufpflanzen!«

Die Männer griffen nach ihren Bajonetten, zogen sie heraus und steckten sie auf die Enden ihrer Musketen. Zu Hause in Europa wurden Bajonette nur aufgesteckt, wenn klar war, dass ein Schusswechsel vorüber war. Doch hier in Mysore, wo feindliche Kavallerie wie aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden konnte, würden Arthurs Männer möglicherweise nur einmal zum Feuern kommen, ehe sie angegriffen wurden.

»Die Reihe rückt in schnellem Schritt vor!«

Die Männer stapften sofort mit den Waffen an den Schultern durch das kniehohe Gras auf den Hügelkamm zu. Wieder ritt Arthur die Reihe entlang und kehrte zum 33sten zurück, wo er mit Freuden sah, dass sie sich vor Bairds Brigade gesetzt hatten. Vor ihnen auf der Anhöhe ließen Tipus Männer ihr Kriegsgeschrei hören und schwangen drohend ihre Waffen. Die Artillerie auf dem Hügel feuerte weiter, und da sich der Abstand verkürzte, floss zum ersten Mal Blut, als eine Kugel von der festgebackenen Erde als Querschläger absprang und durch eine Reihe von Männern auf der Flanke von Bairds Brigade pflügte. Arthur löste den Blick von den verstümmelten Leibern und spähte voraus, um den Punkt zu berechnen, an dem er seinen Männern befehlen würde, eine Linie zum Feuern zu bilden. Dreihundert Meter von der ersten feindlichen Einheit entfernt befand sich eine leichte Bodenfalte, und sobald das 33ste sie erreichte, gab er den Befehl, sich in Reihe aufzustellen. Sofort verlangsamte das Regiment, und die hinteren Kompanien marschierten schräg nach links vor, um zur rechten Flanke aufzuschließen, bis das gesamte Regiment binnen Minuten zwei Mann tief in einer Reihe stand. Die Sepoy-Bataillone formierten sich staffelförmig auf der linken Seite, während das 33ste weiter vorrückte.

Stolz wallte in Arthur auf, als er zusah. Die Jahre, in denen er seine Männer ausgebildet und erzogen hatte, machten sich aufs Schönste bezahlt. Es hatte vorher schon Scharmützel gegeben, aber das war ihre erste offene Schlacht als Teil einer Armee, und er empfand plötzlich eine nie erlebte Freude und Erregung. All die Jahre, da er sich schmerzhaft der Tatsache bewusst gewesen war, dass er nur Soldat spielte, fielen von ihm ab, und nun endlich fühlte Arthur wahrhaftig, dass er in eine Uniform gehörte und dies seine Berufung war.

Vom Hügelkamm ertönte ein mächtiges Gebrüll, und Arthur beendete seine Träumerei augenblicklich, als er eine große Menge von Tipus Leuten, vielleicht dreitausend an der Zahl, den Hang herabströmen sah, direkt auf die Männer des 33. Infanterieregiments zu. Das war er also, wurde ihm klar. Der Moment, auf den er seine Soldaten und sich selbst vorbereitet hatte. Die Rotröcke zögerten keine Sekunde, als sie die feindlichen Krieger auf sich zustürmen sahen. Arthur wollte ihnen noch einige aufmunternde Worte zurufen, aber er erkannte, dass sie nicht nötig waren. Die Männer verstanden ihr Handwerk gut genug, um über Plattitüden und Moralpredigten erhaben zu sein. Alles, was er sagte, würde nur als Zeichen seiner Nervosität gedeutet werden. Arthur lächelte. Er war nicht nervös, hatte nicht die geringste Angst, nur das Verlangen, die Aufgabe zu erledigen, und zwar ordentlich zu erledigen.

Die beiden Seiten rückten aufeinander zu, und Tipus Männer stürmten mit einem rücksichtslosen Mut vor, den Arthur nur bewundern konnte. Als sie nur mehr hundert Meter entfernt waren, zügelte Arthur sein Pferd und rief über das Tosen des angreifenden Feinds hinweg mit lauter Stimme einen Befehl.

»Dreiunddreißigstes! Halt! Bereitmachen!«

Immer näher kamen sie, Arthur konnte nun schon einzelne Gesichtszüge der Männer erkennen, die ihre Geschwindigkeit noch erhöhten, um die Entfernung zur Reihe der Rotröcke im Spurt zu überbrücken.

»Anlegen!«

Der funkelnde Stahl der langen Läufe und die bösartigen Dornen der Bajonette schwenkten in Richtung des Feinds. Die Reihen standen versetzt, sodass das gesamte Regiment in einer einzigen Salve feuern würde. Etwas mehr als sechzig Meter entfernt gerieten die ersten Soldaten Tipus ins Straucheln, da sie den Wall aus Gewehrläufen vor sich erblickten und vor dem unmittelbar bevorstehenden Bleihagel zurückschreckten.

»Feuer!«

Das Knistern der Zündpfannen wurde von einem gewaltigen Knall geschluckt, als aus sämtlichen Musketen des Regiments eine Flamme schoss. In seinen Steigbügeln stehend, sah Arthur über den Rauch hinweg, wie die gesamte Front des feindlichen Angriffs zusammenbrach, da Männer in großer Zahl zu Boden stürzten oder unter dem Einschlag von Musketenkugeln zurückprallten. So verheerend war diese erste Salve, dass die Leiber der Toten und Verwundeten ein massives Hindernis bildeten, das den Angriff abrupt zum Stillstand brachte. Weitere Männer krachten in den Rücken derer, die gezwungen waren stehen zu bleiben, und stießen viele zu Boden, wo sie Knäuel zappelnder Glieder bildeten.

»Augen geradeaus … Vorrücken!«

Arthurs Regiment marschierte im Schritt auf den Feind zu, der sich immer noch von den schrecklichen Auswirkungen der aus kurzer Entfernung abgefeuerten Salve zu erholen versuchte. Nun stellte sich heraus, dass das unaufhaltsame Nahen der Rotröcke hinter ihren funkelnden Bajonetten zu viel für die Nerven der Männer war, die einen Augenblick zuvor noch in so leichtsinnigem Überschwang auf die britischen Linien zugestürmt waren. Erst machten Einzelne, dann kleine Gruppen kehrt und begannen durch die Reihen ihrer Kameraden zu drängen, um den Hang hinauf zu fliehen. Der plötzliche Zusammenbruch des Kampfgeistes breitete sich wie eine Welle durch den Feind aus, und die gesamte Formation löste sich auf und floh. Viele warfen ihre Waffen fort, und ihre verwundeten Kameraden überließen sie ihrem Schicksal.

Arthur wollte seinen Männern gerade den Befehl geben nachzusetzen, als ihn Hufgetrampel nach rechts blicken ließ. Eine Kavalleriebrigade aus Harris’ Kolonne stürmte über den Hang. Dragoner. Ihre gezückten Säbel glitzerten in der Sonne, als sie mitten durch Tipus aufgelöste Infanterie jagten und gnadenlos auf die den Hügel hinauf flüchtenden Männer einhieben.

»Dreiunddreißigstes! Halt!«

Da sein Regiment stillstand, schlossen die übrigen Einheiten in der Reihe auf und nahmen ihre Position an der Flanke ein. Während die Kavallerie ihre Verfolgung den Hügel hinauf fortsetzte, wandte Arthur seine Aufmerksamkeit der rechten Flanke zu. Bairds Brigade rückte immer noch vor und hatte sich ein Stück vor Arthurs Linie gesetzt. Das mittlere Regiment der Brigade, das 74. Infanterieregiment, führte die Reihe an, und Arthur sah, wie es in Laufschritt fiel, als es sich dem Hügelkamm näherte. Arthur runzelte die Stirn. Der Kommandeur des Regiments würde von Baird zusammengestaucht werden, weil er zugelassen hatte, dass seine Leute die Formation auseinanderrissen. Schon sah man die hochgewachsene Gestalt des Brigadekommandeurs auf seinem Pferd nach vorn galoppieren, um zum 74sten aufzuschließen. Doch ehe Baird sie erreichte, war der Hügelkamm plötzlich voller Reiter, die sich abwärts ergossen und das Regiment frontal angriffen. Das 74ste hielt sofort an und hatte gerade noch Zeit, eine Salve abzufeuern, bevor der Schwarm der feindlichen Kavallerie sie erreichte. Arthur konnte erkennen, wie Baird sein Pferd zügelte und das Kommando über sein auf Abwege geratenes Regiment übernahm. Als die Regimenter an den Flanken vorrückten, waren auch sie gezwungen, zu halten und gegen die feindliche Kavallerie zu kämpfen. Schüsse aus Pistolen und Musketen knallten über den Hang, und dann sah Arthur, dass hinter der Kavallerie eine Kolonne Infanterie aufgetaucht war. Während ihre Kavallerie das 74ste angriff, würden sie die Gelegenheit haben, sich Bairds Infanterie zu nähern, ohne unter Beschuss zu geraten. Dann würde es auf einen Kampf Mann gegen Mann hinauslaufen, bei denen der Feind eine gute Chance hatte, den Sieg gegen Bairds Leute davonzutragen.

Arthur drehte sich zu seinem Regiment um. »Das 33ste rückt in Doppelreihe vor.«

Die rote Linie bewegte sich wellenförmig den Hang hinauf, ein kurzes Stück von dem Kampfgetümmel entfernt, in das Bairds Brigade verwickelt war. Arthur warf ständig Blicke zur Seite, um die Entfernung zwischen seinen Leuten und dem verzweifelten Ringen rechterhand von ihm abzuschätzen. Als das 33ste eine Viertelmeile an Bairds Formation vorbeigezogen war, ließ Arthur es anhalten. Er überließ es der leichten Kompanie, seine Flanke zu schützen, und steuerte den Rest des Regiments nach rechts, in eine Linie frontal zu der feindlichen Kolonne, die im Eiltempo den Hang hinab auf Bairds Brigade zu marschierte. Mit aufgepflanzten Bajonetten bestand beim Laden Verletzungsgefahr, und Arthur wusste, sie sollten es besser erledigen, bevor sie dem Feind auf den Leib rückten.

»Nachladen!«

Die Männer stellten ihre Musketen auf dem Boden ab und zogen frische Patronen hervor. Sie bissen das Ende mit der Kugel ab und hielten es zwischen den Zähnen fest, während sie die Zündpfanne scharfmachten und das Schießpulver in den Lauf schütteten. Dann spuckten sie die Kugel hinein und rammten das Ganze mit dem Ladestock fest, bevor sie die Waffe wieder in beide Hände nahmen, bereit, weiter vorzurücken. Sobald das Laden abgeschlossen war, gab Arthur den Befehl, und das Regiment bewegte sich den Hang entlang auf Tipus Infanterie zu. Diese war bereits nahe an Bairds Männer herangekommen, die sich noch immer in enger Formation gegen die feindliche Kavallerie wehrten. Einige von Tipus Männern, die dem 33sten am nächsten waren, riefen und gestikulierten in Richtung der neuen Bedrohung, doch ihre Offiziere trieben sie weiter, da sie wussten, dass ihre einzige Aussicht auf einen gewissen Erfolg in der Schlacht darin bestand, direkt in die Reihen der Rotröcke zu stürmen.

Arthur ließ seine Leute im Sturmschritt laufen, und ihre Ausrüstung schlug an ihnen auf und ab. Er befahl ihnen erst zu halten, als sie nur mehr siebzig Meter von der Flanke der feindlichen Kolonne entfernt waren, dann ratterte er erneut die bekannte Folge von Befehlen herunter:

»Bereitmachen! Anlegen! Feuer!«

Die Salve krachte mit Rauch und Getöse los, und auf der gesamten Seite der feindlichen Kolonne gingen Männer zu Boden. Der Schlag brachte ihren Angriff abrupt zum Stillstand und entmutigte gleichzeitig die feindliche Kavallerie, die beim Klang von massivem Musketenfeuer von Bairds Männern abließen. Sofort stießen die Rotröcke, die eben noch in Bedrängnis gewesen waren, einen Schrei aus und wogten vorwärts.

Arthur packte die Gelegenheit beim Schopf. »Dreiunddreißigstes! Angriff!«

Aus zwei Richtungen bedroht, wich der Feind instinktiv zurück, ehe er ungeordnet floh und schräg zu den beiden britischen Formationen den Hang hinaufströmte. Die feindliche Kavallerie nahm keine Rücksicht auf ihre Infanterie und ritt in ihrem Bestreben, zu entkommen, zahllose Männer über den Haufen. Da Arthur den Fehler des 74sten nicht wiederholen wollte, ließ er sein Regiment halten und richtete es zum Hügelkamm hin aus, um eventuellen weiteren Attacken von dort entgegenzuwirken. Doch die Schlacht war vorbei. Von seinem Aussichtspunkt unweit der Kuppe sah Arthur, dass auch die Hänge der umliegenden Hügel frei von Feinden waren und Bataillone in roten Uniformröcken im schwindenden Tageslicht über Hunderte von toten Kriegern Tipus stiegen, um den Hügelkamm oberhalb von Malavalley zu sichern.

Auch wenn der Feind geschlagen war, kam es nicht infrage, ihn bis in die Nacht hinein zu verfolgen. Tipu verfügte immer noch über eine starke Reitertruppe, und General Harris wusste, es wäre töricht, angesichts einer solchen Gefahr eine Verfolgung zu riskieren, die seine Kavallerie zersplittern würde. Als sich die Armee und ihr Tross rund um das große Dorf in einem riesigen Quadrat aus Zelten und Feuerstellen für die Nacht niederließen, ritt Arthur in Begleitung von Fitzroy zu General Harris’ Hauptquartier, um seinen Bericht zu erstatten. Das 33ste hatte nur zwei Mann verloren, Opfer von Glückstreffern aus der feindlichen Kolonne, die sie mit ihrer ersten Salve aus kurzer Entfernung zertrümmert hatten.

»Kamen Ihre Burschen überhaupt dazu, sie mit dem Bajonett anzugreifen?«, fragte Harris.

»Nein, Sir.« Fitzroy lächelte. »Dafür hat sich der Feind einfach nicht genügend behauptet.«

»Ha!« Harris verzog verächtlich das Gesicht. »Das zu den Tigerkriegern von Mysore. Ich bezweifle, dass wir nach dem heutigen Tag noch viel von ihnen zu sehen bekommen, bevor wir Seringapatam erreichen.«

»Das hoffe ich, Sir«, erwiderte Arthur.

»Verlassen Sie sich darauf. Sie werden es nicht wagen wollen, noch einmal in massierte Salven zu laufen.«

Er klopfte Arthur auf die Schulter und drehte sich um, als Generalmajor Baird eintrat, um seinen Bericht zu erstatten. Er hatte neunundzwanzig Mann seiner Brigade verloren, aber Harris war mit der geschätzten Zahl toter Feinde zufrieden, die Bairds Leuten zugerechnet wurden, und maßregelte das leichtsinnige Vorrücken des 74. Regiments nicht. Als Harris zum nächsten Offizier weiterging, trat Baird an Arthur heran.

»Guten Abend, Sir.« Arthur salutierte.

»Wellesley«, grüßte ihn Baird in ruhigem Ton. Er lächelte nicht und legte die Stirn leicht in Falten, als er sichtlich widerstrebend fortfuhr. »Ich sollte Ihnen wohl für Ihr Eingreifen vorhin danken. Der Flankenangriff kam genau zur rechten Zeit.«

»Danke, Sir.«

Baird sah ihn einen Moment lang an, dann nickte er. »Nun denn, ich wollte nur meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, Wellesley. Das ist alles. Einen guten Abend. Auch Ihnen, Fitzroy.«

Er machte kehrt und ging zu der Gruppe der Offiziere seiner Brigade zurück.

»Was für ein fröhlicher Bursche«, murmelte Fitzroy. »Und wie gewandt er für seine Rettung gedankt hat.«

»Baird ist ein harter Kerl«, erwiderte Arthur. »Es ist ihm nicht leicht gefallen, sich zu bedanken. Er wird Gelegenheit haben, seinen Wert unter Beweis zu stellen, wenn wir Seringapatam erreichen.«

»Wie kommen Sie darauf?« Fitzroy lächelte. »Nach der heutigen Abreibung bezweifle ich, dass Tipu und seine Leute auch nur einen Moment standhalten, wenn wir das Feuer auf sie eröffnen.«

»Seien Sie sich da nicht zu sicher«, antwortete Arthur. »Die Sache heute war nur dazu gedacht, uns aufzuhalten. Wenn wir Seringapatam erreichen, werden Tipu und seine Soldaten ihre Hauptstadt bis zum Tod verteidigen. Und ich fürchte, dann werden wir herausfinden, wie gefährlich die Krieger von Mysore tatsächlich sein können.«

48

Seringapatam, April 1799

Die Armee kam am Nachmittag des 3. April in Sichtweite von Tipus Hauptstadt. Arthur kletterte auf das Dach einer der Jagdhütten Tipus im Südosten der Stadt und untersuchte die Wehranlagen ausführlich durch sein Fernrohr. Seringapatam lag auf einer Insel im Fluss Kaveri, dessen Hauptarm nördlich an der Stadt vorbeifloss, während im Süden ein schmaler Kanal verlief. Die so entstandene Insel war weniger als drei Meilen lang und nur etwas über eine Meile breit. Die Stadt stand am westlichen Ende der Insel und war von massiven Granitmauern umgeben. Tipus Armee war außerhalb der Stadt in einem großen, befestigten Lager zusammengezogen worden, bereit für die bevorstehende Belagerung. Innerhalb der Mauern leuchteten die beiden Minarette der Moschee in der Ferne wie Elfenbein vor dem üppigen Smaragdgrün der umgebenden Landschaft.

Arthur drehte sich um, als er Schritte auf der Treppe hinter sich hörte, und sah Fitzroy auf das Dach kommen.

»Ah, hier sind Sie, Sir.«

»Schauen Sie, Fitzroy«, sagte Arthur, gab seinem Adjutanten das Fernrohr und deutete zur Stadt. »Es ist ein imposanter Anblick.«

Fitzroy spähte durch das Teleskop und schwenkte es langsam an Tipus Verteidigungsanlagen entlang. »Du meine Güte«, murmelte er. »Das müssen über fünfzig … sechzig Kanonen allein auf dieser Seite der Stadt sein.«

»Ich habe mehr als neunzig gezählt. Aber Sie werden feststellen, dass die Bauweise der Mauern dem üblichen orientalischen Stil folgt und kein effektives Flankenfeuer auf Angreifer zulässt. Tipus französische Berater hatten offenbar keine Zeit, die Wehranlagen der Stadt zu verbessern. Oder Tipu ist so arrogant zu glauben, dass er es besser weiß.«

»Und wissen Sie, wie der General diese Nuss zu knacken gedenkt, Sir?«

»Es liegt mehr oder weniger auf der Hand. Die Insel ist zu groß, als dass wir sie belagern könnten. Unsere Kräfte wären zu weit auseinandergezogen, um Tipus Leute am Betreten und Verlassen der Stadt zu hindern. Harris hat beschlossen, um die Insel herum zu marschieren und ein Lager westlich von ihr zu errichten. Von dort können wir die Mauern mit schweren Kanonen beschießen und einen Angriff über den südlichen Kanal des Kaveri starten. Unsere Kundschafter schätzen, dass das Wasser um diese Jahreszeit seicht genug ist, um hindurchzuwaten, sofern die Krokodile es zulassen.«

»Krokodile?« Fitzroy sah ihn an. »Sie machen Witze.«

Arthur lächelte. »Sie werden sich doch nicht vor ein paar Reptilien fürchten, Fitzroy? Ich dachte, an die wären Sie gewöhnt, nachdem Ihr Vater Politiker ist.«

Fitzroy verdrehte die Augen. »Sehr witzig, Sir. Furchtbar komisch. Nichtsdestotrotz denke ich, ich werde mit äußerster Vorsicht auftreten, wenn die Zeit für unseren Angriff gekommen ist.«

»Höchst klug.« Arthur wandte sich wieder den Wehranlagen zu. »Natürlich arbeitet die Zeit gegen uns. Wir haben etwas mehr als sechs Wochen, bevor der Monsun einsetzt. Dann wird der südliche Kanal bis November nicht zu durchschreiten sein. Wenn wir die Stadt bis Mitte Mai nicht eingenommen haben, werden wir uns mit leeren Händen bis nach Vellore zurückziehen müssen.«

Fitzroy sah seinen Vorgesetzten an. »In diesem Fall dürfte der Generalgouverneur wohl nicht allerbester Laune sein.«

»Sie machen sich keine Vorstellung.«

Das Gelände, das Harris für das Lager der Armee ausgewählt hatte, lag drei Meilen von der Furt entfernt. Der breite Lauf des Kaveri schützte die Briten im Norden. Die Armee des Nizam hatte ihre Stellung südlich der Hauptstreitmacht, und Arthurs Männer bekamen die Aufgabe, eine Verteidigungslinie gegen Angriffe von Süden und Westen her zu errichten. In der Zwischenzeit war Tipu nicht untätig gewesen. Nachdem er gesehen hatte, aus welcher Richtung Harris angreifen würde, hatte er sich beeilt, die Festlandseite des südlichen Kaveriarms mit einer Reihe von Gräben und Erdwällen zu befestigen, auf die er einen Teil seiner Geschütze stellte. Zwischen den beiden Armeen lag offenes Gelände; nur ein Nullah, ein mehrere Fuß hoher Aquädukt aus Erde zur Bewässerung der umliegenden Reisfelder, schlängelte sich durch die Landschaft. Rechts der britischen Position machte er einen Bogen um ein Gehölz, ehe er zum Dorf Sultanpettah zurückführte.

Nachdem die Armee das Lager bezogen hatte, rief Harris am folgenden Tag bei Sonnenuntergang Arthur in sein Hauptquartier, und die beiden Männer beugten sich über eine Karte des Gebiets rund um die feindliche Hauptstadt. Harris zeigte zu dem Gehölz. »Der Feind hat den ganzen Nachmittag lang Raketen aus diesen Bäumen heraus auf uns gefeuert. Ich will ihn dort raushaben. Wenn Sie dieses Gebiet einnehmen und halten können, dann wären wir in der Lage, ein paar Kanonen hinzuschaffen und ihre Wehranlagen auf dieser Seite des südlichen Kaveriarms mit Flankenfeuer zu bestreichen.«

Arthur besah sich die Karte. »Was wissen wir über den Nullah, Sir? Kann man ihn durchqueren?«

»Ich denke, das werden Sie früh genug herausfinden.«

Arthur richtete sich auf. »Wäre es nicht eine gute Idee, erst einen kleinen Aufklärungstrupp loszuschicken? Bevor wir mit dem ganzen Regiment im Dunkeln einen Versuch starten?«

Harris runzelte die Stirn. »Oberst, wir haben nicht den Luxus, uns derartig viel Zeit nehmen zu können. Sie haben Ihre Befehle, also führen Sie sie aus.« Er hielt inne und fügte durchtrieben hinzu: »Es sei denn, Sie wollen, dass ich Baird mit der Sache beauftrage.«

»Ich werde es tun, Sir«, erwiderte Arthur steif.

»Gut. Am besten, Sie machen Ihr Regiment unverzüglich startbereit. Ich möchte, dass dieses Gehölz bei Tagesanbruch in unserer Hand ist.«

»Wo ist jetzt dieses verdammte Gehölz?«, murmelte Major Shee und spähte angestrengt, um Einzelheiten im Gelände vor ihnen zu erkennen. Die Nacht war finster, und vor ihnen erhob sich der Nullah als schwarze Masse. Es war unmöglich, irgendwelche Bäume zu erkennen. Er drehte sich zu den übrigen Offizieren um. »Sir?«

Arthur hatte die ganze Zeit versucht, Orientierungspunkte zu identifizieren, an die er sich von der Karte des Generals erinnerte, aber die Nacht hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zunächst hatte ihn der anhaltende Raketenbeschuss in die Richtung des Hains gelenkt, aber dann hatte der Feind die Angriffe eingestellt, und Arthur hatte sich nach Kräften bemüht, seine Leute weiter in diese Richtung zu führen, indem er mit den beiden Flankenkompanien der Hauptstreitmacht seines Regiments vorausging. Er hatte beschlossen, Major Shee das Kommando über den Rest des Bataillons zu überlassen, wo der schwierige Charakter des Mannes und sein Hang zum Alkohol die Truppe hoffentlich nicht gefährden würde. Arthur nahm die Nervosität der Soldaten um ihn herum wahr, vor allem bei dem jungen Leutnant Fitzgerald von der Grenadierkompanie.

Er räusperte sich und sprach in ruhigem Ton. »Das Gehölz müsste genau auf der anderen Seite des Aquädukts sein. Natürlich gibt es nur eine Möglichkeit, es mit Sicherheit festzustellen. Deshalb sind wir hier. Es ist Zeit vorzurücken, meine Herren. Mr. Fitzgerald?«

»Sir?«

»Geben Sie den Befehl weiter, und die Männer sollen sich so geräuschlos wie möglich bewegen. Dann kommen Sie mit mir nach vorn. Ich werde einen Läufer brauchen, sobald wir das Gehölz erreichen.«

»Jawohl, Sir.«

Arthur wandte sich an Shee. »Major?«

»Ja, Oberst?«

Arthur hätte schwören können, dass er einen Hauch von Schnaps in Shees Atem roch.

»Gehen Sie zu den übrigen Kompanien zurück und führen Sie das Regiment zur Unterstützung heran. Falls wir tatsächlich den Feind auf der anderen Seite des Nullahs angreifen, werden wir Sie schnell vor Ort brauchen.«

»Ja, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.«

»Natürlich, Major. Ich würde nicht weniger erwarten.«

Shee salutierte und entfernte sich halb gehend, halb torkelnd über das zerklüftete Gelände, um zum Rest des Regiments zurückzukehren. Arthur schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Mann verlief, auf etwa fünfzig Prozent und war froh, dass er daran gedacht hatte, Fitzroy für diese nächtliche Operation als Stellvertreter des Majors einzusetzen.

Arthur wartete, bis Fitzgerald wieder da war, dann rief er leise: »Flankenkompanien … vorrücken.«

Sie bewegten sich so geräuschlos wie möglich, aber Arthur zuckte zusammen, als sein feines Gehör das Schlurfen von Stiefeln und das leise Klappern loser Ausrüstungsgegenstände auffing. Das Gelände stieg an, als sie den Bewässerungskanal erreichten, und Arthur strengte seine Sinne aufs Äußerste an. Irgendwo auf der anderen Seite des Aquädukts wartete der Feind, und er fühlte sich plötzlich schrecklich verwundbar. Dann begriff er.

Am Horizont hinter dem Regiment war es kaum merklich heller, aber es genügte, damit sich ihre Silhouetten abzeichnen würden, sobald sie den Nullah erklommen hatten. Sie würden leichte Ziele abgeben. Er zog seine Pistole und hielt sie dicht an die Brust, während er durch das Gras nach oben kroch. Dann, als das Gelände wieder eben wurde, hielt er an und sah sich um. Das Wasser in dem Kanal erstreckte sich tintenschwarz zu beiden Seiten.

»Fitzgerald. Bringen Sie die Männer herauf. Leichte Kompanie nach links, Grenadiere nach rechts.«

»Jawohl, Sir.«

Während Fitzgerald den Befehl die Böschung hinabflüsterte, ließ Arthur einen Stiefel vorsichtig ins Wasser gleiten. Der Untergrund war weich und fiel steil ab, und im Nu stand er bis zur Hüfte im Wasser. Er hielt die Pistole in Brusthöhe, watete vorwärts und hoffte, dass sich die Krokodile auf den Fluss beschränkten. Langsam bewegte er sich auf das andere Ufer zu, das fünfzehn Meter entfernt war, und kletterte vorsichtig aus dem Kanal. Er sah sich um und lauschte, aber zwischen den niedrigen Bäumen unterhalb des Nullahs war alles ruhig. Er war erleichtert, weil sie offenbar den richtigen Ort gefunden hatten, und zwang sich, aufrecht zu stehen, um seinen Offizieren und den Männern ein Beispiel zu geben.

»Fitzgerald, führen Sie die Flankenkompanien herüber.«

Die Männer stiegen ins Wasser und hielten die Musketen über den Kopf, während sie hindurchwateten. Über das leise Plätschern konnte Arthur eindeutig Gemurmel hören, bis ein Sergeant knurrte: »Haltet verdammt nochmal die Klappe.«

Die dunklen Gestalten stiegen gerade links und rechts von Arthur aus dem Wasser, als es ein kurzes Stück entfernt zwischen den Bäumen hell aufleuchtete und ein lautes Zischen ertönte.

»Rakete!«, konnte jemand gerade noch rufen, ehe das Geschoss im Bogen zwischen den Bäumen hervorsauste und sich so nahe bei Arthur in den Boden grub, dass ihm ein Schauer loser Erde ins Gesicht spritzte. Sofort wurden weitere Raketen abgefeuert und erleuchteten das Gelände, sodass Arthur kurze Blicke auf ein Gewirr von Mangroven erhaschte, das vor ihm lag. Musketen kamen hinzu, ihre Mündungsblitze erhellten die Dunkelheit.

»Die Schweinehunde sind überall!«, rief Fitzgerald und warf sich zu Boden, als eine Rakete über ihn hinwegsauste.

»Stehen Sie auf!« Arthur packte ihn am Arm und zwang ihn auf die Beine. »Sie sind Offizier, Fitzgerald. Sie müssen den Maßstab setzen.«

»Jawohl, Sir.«

Arthur drehte sich zu seinen Männern um. »Die Böschung runter! In den Hain, schnell!«

Die Soldaten der Flankenkompanien rutschten und krabbelten die Böschung hinab und bewegten sich auf die Bäume zu, nach wie vor unter feindlichem Beschuss. Arthur steuerte nach rechts, zu den Grenadieren, die entsprechend ihrer Rolle als Stoßtrupp des Regiments die Bajonette aufgepflanzt hatten und dorthin stürmten, wo das feindliche Feuer am stärksten konzentriert zu sein schien. Mit einem flauen Gefühl bemerkte Arthur, dass sich die Männer bereits teilten, und er legte eine Hand an den Mund.

»Flankenkompanien! Mir nach!« Ringsum wurde sein Befehl vom Knattern der Schüsse, dem Zischen der Raketen und den Rufen und Schreien der Männer übertönt. »Mir nach! Mir nach, verdammt!«

»Sir! Achtung!«, rief Fitzgerald, als ein halbes Dutzend Gestalten plötzlich aus der Dunkelheit auftauchten. Arthur zog seinen Säbel, hob die Pistole und wappnete sich für den Kampf. Dann sah er im schwachen Schein einer vorbeifliegenden Rakete, dass es Grenadiere waren.

»Es ist der Oberst!«, sagte einer der Männer erleichtert. »Gott sei Dank.«

Arthur wartete, bis sie sich um ihn versammelt hatten, dann gab er seine Befehle. »Wir dringen vor. Wir müssen den Feind immer noch aus dem Gehölz vertreiben. Es sind jede Menge Burschen von uns da draußen, und der Rest des 33sten wird bald folgen, also schaut euch eure Ziele genau an, bevor ihr das Bajonett einsetzt.«

»Ja, Sir«, murmelten die Männer.

»Dann folgt mir.«

Sie brachen auf, Arthur ging voraus, gefolgt von Fitzgerald und den Grenadieren. Arthur steuerte eine kleine Gruppe von Tipus Männern an, die er kurz zuvor gesehen hatte, und bewegte sich so zügig, wie es das Gewirr der Wurzeln und das Unterholz zuließen. Es war unmöglich, in der stockdunklen Nacht schnell voranzukommen, und die Männer mussten ihre Waffen vorsichtig halten, um ihre Kameraden nicht zu verletzen, wenn sie stolperten oder ausrutschten. Währenddessen waren von allen Seiten Schüsse und Kampfgeräusche zu hören. Arthur war wütend. Es hatte keinen Sinn, Männer in dunkler Nacht in ein solches Terrain zu schicken. Der disziplinierte Zusammenhalt, der das 33ste auf dem Schlachtfeld zu einer so tödlichen Waffe gemacht hatte, war verloren gegangen. Seine Männer, die sorgfältig dazu ausgebildet worden waren, in ordentlichen Reihen zu stehen und zu kämpfen, waren über das Gehölz verstreut. Führungslos und zweifellos verängstigt durch die ungewohnten Bedingungen hatten sie jeden Vorteil verloren, den sie bei Malavalley gegenüber Tipus Leuten gehabt haben mochten. Arthur schwor sich, bei Harris Protest einzulegen, sobald der Angriff vorbei war.

»Sir!«, rief Fitzgerald, so laut er sich traute. »Vor uns. Der Feind.«

Arthur starrte voraus und glaubte, Gestalten zu erkennen, die sich zwischen den Bäumen bewegten. Dann gab es einen Blitz, als einer der Feinde seine Muskete in Richtung des Aquädukts abfeuerte, und in seinem Schein sah Arthur weitere fünf oder sechs Männer wie erstarrt mit erhobenen Musketen stehen. Als das Licht wieder erloschen war, rief einer von Tipus Leuten eine Warnung. Das Licht des Blitzes hatte offenbar gleichzeitig Arthur und seine Männer erhellt.

»Sie haben uns gesehen! Auf sie!« Arthur sprang vor, er spürte freien Boden unter den Füßen, da er eine kleine Lichtung in dem Dickicht betrat. Eine weitere Muskete blitzte auf, keine zehn Meter entfernt, und Arthur spürte den Luftzug, als die Kugel an seiner Wange vorbeisauste. Sofort hob er die Pistole und feuerte in die Richtung des Mündungsblitzes. Ein Schmerzensschrei folgte umgehend, und Arthur schob die Pistole in den Gürtel und ging mit dem Säbel auf die undeutliche Gestalt des Mannes los, den er angeschossen hatte. Die Klinge traf mit einem dumpfen Laut ihr Ziel, und der feindliche Soldat sank stöhnend zu Boden. Dann waren weitere Gestalten überall um ihn herum in der Dunkelheit, und nur die vagen Umrisse von Turbanen oder Tschakos erlaubten es den Kämpfern, einander zu erkennen. Es gab in diesem tödlichen Blinde-Kuh-Spiel keine Möglichkeit, Fertigkeiten einzusetzen, die man in der Fechtausbildung oder beim Drill mit dem Bajonett erworben hatte. Die Rotröcke und Tipus Krieger fochten es aus, indem sie mit dem Bajonett zustießen und schwere Musketenkolben schwangen, während die beiden Offiziere mit ihren Säbeln auf die schwarzen Gestalten vor ihnen einhieben.

»Der Schweinehund hat mich erwischt!«, rief einer der Grenadiere überrascht und erschrocken aus, dann fügte er erstaunt an: »Es ist die Schulter!«

Dann endeten die Kampfgeräusche, und Arthur hörte, wie Männer durch das Unterholz brachen und sich entfernten. Danach war nur noch der schwere Atem der Zurückgebliebenen zu hören und das hohe, leise Klagen des Schwerverwundeten.

Arthur schluckte und holte tief Luft. »Mir nach«, sagte er leise. »Fitzgerald?«

»Hier, Sir.«

»Grenadiere, hier herüber.« Arthur ging zu dem Verwundeten und kniete nieder. »Wer ist das?«

»Gefreiter Williams, Sir«, stöhnte der Mann. »Mein Gott, es tut verdammt weh …«

Arthur wandte sich an die anderen. »Hebt Williams auf. Wir müssen ihn zu dem Bewässerungskanal zurückbringen.«

»Ja, Sir.« Die beiden Männer beugten sich vor und hoben Williams vom Boden, während ein dritter seine Muskete nahm. Williams stöhnte vor Schmerzen.

»Halt verdammt nochmal das Maul«, knurrte einer der Männer. »Sonst fallen sie gleich wieder über uns her.«

»Still da«, sagte Arthur, dann blickte er sich um. Es dauerte einen Moment, bis ihm klarwurde, dass er keine Ahnung hatte, in welche Richtung der Nullah lag.

»Sir?«, flüsterte Fitzgerald. »Wohin?«

»Verdammt, Mann, ich weiß es nicht!« Arthur versuchte, einen Orientierungspunkt auszumachen, irgendetwas, das ihm vertraut war. Dann sah er den matten Schein am Himmel, durch den seine Leute vorhin auf dem Aquädukt für den Feind sichtbar geworden waren. »Dort entlang.«

Sie verließen die kleine Lichtung und kämpften sich, die ganze Zeit nach dem Feind lauschend, durch das Unterholz. Gelegentlich wurden sehr viel weiter entfernt noch Schüsse abgegeben und Raketen abgefeuert, und man hörte Rufe von Männern, die kämpften, verwundet waren oder sich verirrt hatten.

Arthur überlegte, einen Versuch zu unternehmen, sie zu sammeln, hielt aber inne, als er ein kurzes Stück entfernt mehrere Männer durch das Gehölz stapfen hörte.

»Runter!«, zischte er, und Williams stöhnte auf. Die anderen Männer blieben stehen und verstummten. Arthur fühlte sein Herz wie einen Hammer in der Brust schlagen.

»Dreiunddreißigstes!«, rief er und verstärkte den Griff um seinen Säbel. Die Geräusche setzten wieder ein, sie kamen näher, und einer der Grenadiere lachte nervös. »Kommt schon, ihr Mistkerle, wo seid ihr?«

In der Nähe ging eine Muskete los, und im Schein des Mündungsblitzes sah Arthur eine Handvoll feindliche Soldaten. Fast im selben Moment fiel ein weiterer Schuss, und ein Schlag traf ihn knapp oberhalb der Kniescheibe und riss ihn von den Beinen. Arthur fiel mit einem Aufschrei vor Überraschung, nicht vor Schmerz. Sofort griff der Feind mit Gebrüll die Grenadiere an.

»Auf sie!«, schrie Fitzgerald und rannte los. Die Grenadiere folgten ihm mit gesenkten Bajonetten. Arthur rappelte sich auf und tastete mit der freien Hand an seiner Hose entlang, bis er auf einen Riss über dem Knie stieß. Der Stoff war durchtränkt, und als seine Finger weitertasteten, ließ ihm ein sengender Schmerz den Atem stocken. Er richtete sich auf und humpelte in Richtung der Kampfgeräusche in der Nähe: das Kratzen von Metall auf Metall, dumpfe Schläge und das Stöhnen der Kombattanten. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf, den Säbel zum Streich erhoben. Gerade noch rechtzeitig erkannte Arthur die Form der Kopfbedeckung des Mannes.

»Langsam, Fitzgerald. Ich bin’s!«

Der junge Leutnant erstarrte und lachte dann. »Verzeihung, Sir.«

»Wo sind die anderen?«

»Hier entlang, Sir.« Er drehte sich um und hob den Arm, was im Dunkeln kaum zu erkennen war. »Dort …«

Jemand brach genau hinter Fitzgerald aus dem Unterholz, und dann stöhnte der Leutnant lautstark auf, als er von einer Pike durchbohrt an Arthur vorbei rückwärtsgeschoben wurde. Der feindliche Soldat, der die Waffe in beiden Händen hielt, fletschte triumphierend die Zähne, bis er zu spät Arthur bemerkte, dessen Säbel die Luft durchschnitt und mit einem feuchten Knirschen in den Hals des Mannes drang. Sofort ließ er die Pike los und fuhr sich mit den Händen an die Kehle, ehe er auf die Knie sank und mit einem Gurgeln zur Seite kippte. Arthur schob den Säbel in die Scheide und kniete neben Fitzgerald nieder.

»O Gott … Gott …«, stöhnte Fitzgerald, dessen ganzer Körper bebte. »Himmel … es tut weh.«

Arthur tastete an Fitzgeralds Jacke entlang nach dem Schaft der Pike, bis er ihn gefunden hatte, dann schloss er die Hand um die Waffe. »Stillhalten jetzt.«

»Sir?« Fitzgerald wand sich, als sich die Pike in seinem Bauch bewegte. Arthur biss die Zähne zusammen, riss die Waffe heraus und fühlte Blut über seine Hände spritzen, während der andere Mann schrie.

»Grenadiere!«, rief Arthur. »Hier herüber! Zu mir!«

Er hörte ein Rascheln, dann kamen die Männer schwer atmend zurück. »Da seid ihr ja, Sir. Wir dachten schon, wir hätten Sie verloren. Wo ist Mr. Fitzgerald?«

»Hier bei mir. Er wurde verwundet. Was ist mit den Feinden? Habt ihr sie erledigt?«

»Zwei von ihnen. Die anderen sind abgehauen. Von uns hat keiner einen Kratzer abbekommen.«

»Gut. Jetzt helfen Sie Mr. Fitzgerald. Nehmen Sie ihn auf die Schultern. Die übrigen suchen Williams, und dann lasst uns von hier verschwinden. Es gibt nichts mehr, was wir tun könnten.«

»Was ist mit Ihnen, Sir?«, fragte einer der Grenadiere. »Ich habe gehört, wie Sie zu Boden gegangen sind.«

»Alles in Ordnung«, erwiderte Arthur mit zusammengebissenen Zähnen. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über mich. Vorwärts jetzt.«

Der Nullah war näher, als er gedacht hatte, und kurz nach dem kleinen Scharmützel verließen sie die Baumgruppe und sahen das Gelände vor sich ansteigen. Als sie sich die Böschung hinaufmühten, tauchten von der anderen Seite mehrere Gestalten auf.

»Dreiunddreißigstes!«, rief Arthur barsch. »Oberst Wellesley. Wir haben Verwundete bei uns und müssen sie auf die andere Seite schaffen. Packt mit an!«

Der kleine Trupp stieg ins Wasser und half, Williams und Fitzgerald auf die andere Seite zu bringen. Der Leutnant stöhnte vor Schmerz, als er auf die Schultern von drei Männern gehievt wurde, und er verlor das Bewusstsein, bevor er das andere Ufer erreichte. Arthur warf einen Blick auf das Wäldchen zurück. Dort wurde immer noch gekämpft, weiter entfernt nun, und er schüttelte verärgert und voller Mitleid für das Geschick seiner Leute den Kopf, ehe er sich umdrehte und durch den Kanal watete.

»Vierundzwanzig Opfer?«, sagte Harris nachdenklich. »Es hätte schlimmer kommen können, Oberst. Ein Jammer wegen Fitzgerald. Er war ein prächtiger junger Mann.«

Es war kurz vor Mitternacht, und Arthur stand noch in seinen durchnässten, schlammigen Sachen im Hauptquartierszelt vor dem General. Um die Fleischwunde direkt über dem Knie war ein blutbefleckter Verband gebunden. Sein Gesicht war starr vor mühsam unterdrückter Wut, als er antwortete. »Vierundzwanzig meiner Männer ist schlimm genug, Sir, wenn man bedenkt, dass man sie niemals in dieses Gehölz hätte schicken dürfen.«

»Es war ein Risiko«, räumte Harris ein. »Und es ist schiefgegangen. Das Gehölz ist noch immer in feindlicher Hand. Ich hatte gehofft, Zeit zu sparen, indem wir es heute Nacht einnehmen, aber wir werden einfach morgen bei Tageslicht einen neuen Versuch unternehmen müssen. Ich betreue Baird mit dieser Aufgabe.«

»Sir, ich beantrage respektvoll, dass ich den zweiten Versuch befehligen darf.«

»Aber Sie sind verwundet.«

»Es war meine Aufgabe. Ich habe eine zweite Chance verdient.«

»Im Ernst?« Harris sah ihn einen Moment lang an, und Arthur war überzeugt, dass er es ihm verweigern würde. Dann zuckte der General mit den Achseln. »Nun gut, Wellesley, wie Sie wünschen. Es ist Ihr Kommando. Aber das 33ste braucht eine Pause. Sie bekommen die schottische Brigade für die Sache. Sehen Sie zu, dass Sie sie zu Ende bringen.«

»Das werde ich, Sir. Sie haben mein Wort.«

»Gut. Jetzt gehen Sie, und machen Sie sich sauber, und dann schlafen Sie ein wenig.«

»Sir.« Arthur salutierte, machte unter Schmerzen kehrt und schritt aus dem Zelt. Erst als ihn der General nicht mehr sehen konnte, gestattete er sich ein Humpeln. Wenn ihn das Desaster dieser Nacht etwas gelehrt hatte, dachte er auf dem Ritt zurück zu seinem Regiment, dann, nie eine Operation im Schutz der Dunkelheit durchzuführen, wenn es sich vermeiden ließ. Nie wieder würde er auf diese Weise die Kontrolle über seine Leute verlieren. Das Gespenst des Scheiterns verfolgte ihn bis zum frühen Morgen. Er versuchte, zu schlafen, aber immer wieder tauchte das Gesicht des sterbenden Fitzgerald im Schein der Laterne im Lazarettzelt vor ihm auf und ließ ihn kein Auge zutun.

49

Den ganzen April hindurch schob die Armee ihre Belagerungslinie weiter vor, indem sie feindliche Positionen am Westufer des südlichen Kaveriarms einnahm. Das Gehölz war bei Tageslicht eingenommen worden, und die Leichen der Grenadiere des 33sten wurden größtenteils geborgen, nur von acht Mann fehlte jede Spur, und Arthur befürchtete, dass sie in Gefangenschaft geraten waren. Nach der Räumung der feindlichen Außenposten vor den Mauern Seringapatams befahl General Harris den Bau massiv befestigter Geschützstellungen für die schweren Belagerungskanonen, die Arthur im Vorfeld des Feldzugs beschafft hatte. Mit ihrer Reichweite von neunhundert Metern zerstörten die Kanonen methodisch die feindliche Artillerie entlang des westlichen Walls von Seringapatam, ehe sie darangingen, die Eckbastion in Schutt und Asche zu schießen. Am 2. Mai dann wurden die Kanonen auf den Punkt in der Mauer gerichtet, den Harris für eine Bresche ausgesucht hatte. Ein intensiver Beschuss folgte in den nächsten beiden Tagen, bis ein breiter Abschnitt der Stadtmauer durchbrochen war und Harris sich überzeugt hatte, dass ein Angriff über die Trümmer hinweg machbar war.

An diesem Abend versammelte er seine ranghohen Offiziere und gab seinen Angriffsplan bekannt. »Es ist wichtig, dass wir die Stadt im ersten Versuch einnehmen. Die ersten Monsunregen könnten in zwei Wochen einsetzen, und die Brinjarris teilen mir mit, dass ihre Nahrungsmittelvorräte zur Neige gehen. Deshalb habe ich beschlossen, alle Männer in den Angriff zu werfen, die wir bei der Verteidigung unseres Lagers nur irgendwie erübrigen können. Die Angriffsstreitmacht wird aus drei Formationen bestehen: zwei Kolonnen, die angreifen, und einer Reservekolonne. Generalmajor Baird hat angeboten, den Angriff zu führen. Angesichts der Antipathie zwischen Tipus Leuten und unseren Sepoys aus Madras bete ich darum, dass wir sie in der Schlacht um Seringapatam nicht einsetzen müssen. Sie werden in Reserve gehalten.«

»Wer wird die Reserve befehligen, Sir?«, fragte Arthur. Er wusste bereits, dass das 33ste für die Angriffsstreitmacht ausgewählt worden war, und freute sich darauf, es in den Kampf zu führen.

»Sie.«

»Ich?« Arthur fuhr zusammen, und einige der übrigen Offiziere konnten sich ein Lächeln wegen seines überraschten Gesichtsausdrucks nicht verkneifen. Arthur errötete aus Verärgerung über sich selbst. »Aber wer soll dann mein Regiment führen?«

»Major Shee.«

»Sir, wenn mein Regiment am Angriff teilnimmt, sollte ich bei ihm sein.«

Harris schüttelte den Kopf. »Ich brauche als Kommandeur der Reserve jemanden, der einen kühlen Kopf behält. Sobald der Angriff in die Stadt eingedrungen ist, müssen Sie Ihre Kolonne über den Fluss führen und außerhalb der Bresche warten. Ich verlasse mich darauf, dass Sie selbst beurteilen können, ob Baird Unterstützung braucht. Ist das klar, Wellesley?«

Zu diesem späten Zeitpunkt bestand wenig Aussicht, den General noch umzustimmen, und Arthur akzeptierte seine Rolle in der bevorstehenden Schlacht mit so viel Haltung, wie er aufbrachte.

»Ja, Sir.«

»Nun denn, meine Herren. Die Männer werden vor Morgengrauen in den Gräben vorrücken und außer Sicht bleiben, bis am Mittag das Signal zum Angriff erfolgt. Sorgen Sie dafür, dass all Ihre Offiziere gründlich eingewiesen werden, und versuchen Sie noch etwas zu schlafen, wenn Sie können.« Harris lächelte schief und gestikulierte in Richtung Zelteingang. Seine Offiziere standen von ihren Stühlen auf und gingen hinaus.

»Wellesley?«

Arthur drehte sich um. »Ja, Sir?«

»Wenn ich Sie noch kurz sprechen könnte.«

Nachdem die übrigen Offiziere das Zelt verlassen hatten, sagte Harris: »Ich habe gute Gründe, Sie mit dem Kommando über die Reserve zu beauftragen.«

»Davon bin ich überzeugt, Sir.«

Harris sah ihn scharf an. »Sparen Sie sich Ihre Ironie, Oberst. Das gebührt sich nicht für einen hohen Offizier in meiner Armee.«

»Nein, Sir.«

Harris seufzte. »Tatsache ist, dass ich einen Offizier mit gesundem Urteilsvermögen als Befehlshaber der Reserve brauche. Die Angriffskolonne ist eine andere Geschichte. Baird ist der geborene Kämpfer, und er will Vergeltung für die Jahre, die er in den Kerkern von Seringapatam in Ketten lag. Wer wäre geeigneter, den Angriff zu führen?«

»Baird ist durchaus der richtige Mann, Sir. Aber warum muss mir mein Platz an der Spitze des 33sten verweigert werden?«

»Wenn der Angriff schlecht läuft, müssen Sie die Situation retten. Und wenn der Angriff scheitert, ist es lebenswichtig, dass ein Korridor offen bleibt, durch den Baird und seine Leute den Rückzug antreten können. Deshalb sind Sie der beste Mann als Kommandeur der Reserve, so wie Baird der beste Mann ist, den Angriff zu führen.«

Arthur wurde warm ums Herz beim Lob seines Vorgesetzten. »Ich entschuldige mich, Sir. Ich hätte Ihren Befehl nicht anzweifeln dürfen.«

»Nein, das hätten Sie nicht. Davon abgesehen, gibt es einen weiteren Grund, warum ich Sie nicht in der Angriffskolonne haben will.«

»Sir?«

»Sie werden es früh genug erfahren, vorausgesetzt, wir besiegen Tipu morgen.«

Kurz bevor der Morgen über der üppig grünen Landschaft rund um Seringapatam anbrach, hatten die letzten Männer der Angriffskolonnen Stellung bezogen. Sie führten nur ihre Musketen mit sich und einen Rucksack für die Patronen, damit sie nicht behindert wurden, wenn sie über den Schutt kletterten, der sich vor der Bresche auftürmte. Sobald sie an ihrem Platz waren, befahlen ihnen ihre Offiziere, sich zu setzen und stillzuhalten. Die Sonne stieg aus dem leichten Dunst, der über der grünen Landschaft lag, doch sobald sie hoch genug stand, dass man ihre warmen Strahlen spürte, stieg die Temperatur rasch an. Binnen einer Stunde fingen die dicht gedrängten Männer in ihren Gräben zu schmoren an. Um sie herum begannen die Pioniere, gut sichtbar für den Feind, an einer neuen Geschützstellung nahe am Flussufer zu bauen, um Tipu über den unmittelbar bevorstehenden Angriff zu täuschen. Die Belagerungskanonen setzten ihr monotones Bombardement eines Abschnitts der Mauer fort, der ein Stück flussaufwärts von der Bresche lag, während eine Handvoll Sepoy-Vorposten am Ufer des südlichen Kaveri patrouillierten, um den Feind davon abzuhalten, die Linien von General Harris’ Armee auf die Probe zu stellen.

Kurz nach elf Uhr vormittags ging Arthur nach vorn. Er traf Baird bei den Männern des »verlorenen Haufens« an, einer Handvoll Freiwilliger unter Führung eines Sergeanten, deren Aufgabe darin bestand, die Bresche zu erstürmen und so lange zu halten, bis die Hauptkolonne durch die Öffnung vorgerückt war. Baird hatte einen Krug Arrak mitgebracht, der unter den Männern herumgereicht wurde, während Arthur sich neben die mächtige Gestalt des schottischen Offiziers kauerte. Baird beäugte ihn misstrauisch, als die beiden sich kurz salutierten.

»Was kann ich für Sie tun, mein Junge?«

Arthur zuckte leicht zusammen, als er in dieser Weise angesprochen wurde, aber dann streckte er die Hand aus. »Ich bin gekommen, um Ihnen viel Glück zu wünschen, Sir.«

»Viel Glück, hm?« Baird nickte, dann nahm er Arthurs Hand in seine mächtige Pranke und drückte sie kräftig, während er sie schüttelte. »Das ist verdammt anständig von Ihnen. Danke. He, Sergeant Graham, geben Sie mir diesen Krug.«

»Ich werde nicht mehr lange Sergeant sein, Sir«, sagte der Mann grinsend, als er seinem Kommandeur den Krug reichte. Dann klopfte er auf die Standarte, die über seinen Knien lag. »Sobald ich die hier in die Bresche gepflanzt habe, wird es Leutnant Graham heißen.«

Baird lächelte. »Pah, Sie werden tot sein, bevor Sie es überhaupt bis zur Bresche geschafft haben, Sie verdammter Narr.«

Die Männer des verlorenen Haufens lachten nervös, und Baird reichte den Krug an Arthur weiter. »Trinken Sie einen Schluck, Wellesley.«

Arthur wollte schon ablehnen. Er war müde, er hatte Kopfschmerzen, und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein von Alkohol vernebeltes Hirn. Aber dann sah er zu den Männern, die um ihn herumsaßen und seine Reaktion beobachteten. Die meisten von ihnen waren so gut wie tot, wurde ihm voller Mitleid klar. Also zwang er sich zu einem Lächeln, wischte den Rand des Krugs am Ärmel ab und hob ihn hoch.

»Auf Ihre Gesundheit, meine Herren!« Er nickte, dann nahm er ohne Hast einen Zug von dem feurigen Schnaps, bevor er den Krug absetzte und an Baird zurückreichte. Der Schotte blinzelte ihm herzlich zu und trank selbst einen Schluck, bevor er den Krug weiterreichte. »Ich werde versuchen, Ihnen ein paar von Tipus Leuten aufzuheben, Wellesley.«

»Wenn Sie so freundlich sein wollen?« Arthur grinste, ehe sein Gesichtsausdruck wieder ernst wurde. »Dann viel Glück, Sir.«

»Aye.« Baird wurde für einen Moment nachdenklich. »Wir werden es bestimmt brauchen.«

Arthur kehrte zu seinem Kommandoposten zurück. Hinter ihm kauerten mehr als viertausend Mann der Reservekolonne in der stickigen Enge der rückwärtigen Gräben. Er zog seine Taschenuhr heraus und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Es war fast so weit. Die Belagerungskanonen hämmerten unnachgiebig weiter, und auf den Wällen von Seringapatam schien alles ruhig zu sein. Nur eine Handvoll winziger Gestalten war auf den Brustwehren zu sehen und hielt Wache über die englischen Kräfte.

Als sich die Zeiger seiner Uhr zu Mittag übereinander schlossen, ertönte ein schriller Pfiff, und sofort brach eine Welle von Rotröcken aus den vorderen Gräben, als würden sie aus der Erde selbst platzen. Die Männer des verlorenen Haufens stürmten hinter Sergeant Graham her, der die wehende Standarte in die Luft reckte. Sie wogten über den seichten Südarm des Kaveri und das Ufer auf der anderen Seite hinauf und spurteten triefend nass und in der Sonne glänzend auf die unregelmäßige Öffnung in der Stadtmauer zu.

Die Hauptkolonne hatte sich rasch zu Kompanien geordnet und strömte über den Fluss, als die ersten Verteidiger auf den Wällen erschienen und auf die Angreifer zu feuern begannen. Arthur sah, wie Sergeant Graham auf den höchsten Punkt in dem Schutt kletterte, der sich in der Öffnung auftürmte. Er rammte die Standarte hinein und winkte seinen Männern, und dann kippte er ruckartig zur Seite und fiel. Die Standarte begann sich langsam zu neigen, ehe einer der Männer des verlorenen Haufens sie packte und hochhielt. Auf der anderen Seite der Mauer sah Arthur eine große Zahl von Männern in fließenden weißen Gewändern und mit Musketen bewaffnet auf die Schutthalde klettern, und ein heftiger und ungleicher Kampf begann.

Schon stiegen Baird und seine erste Kompanie aus dem Fluss und wogten nach oben in die Bresche. Arthur erhaschte einen kurzen Blick auf den Schotten, wie er sein Claymore-Schwert schwang, bevor er, dicht gefolgt von seinen Mannen, jenseits der Mauer verschwand. Nicht ein einziger feindlicher Soldat war in der Bresche oder auf den unmittelbar daran grenzenden Wällen noch am Leben. Rotröcke tauchten auf den Brustwehren auf, schwärmten nach links und rechts aus und stürmten in die dichten Reihen der Verteidiger, die sich erst jetzt aus den weiter entfernt liegenden Bastionen ergossen. Einen Moment lang konnte Arthur nicht anders, als die Männer zu beneiden, die Tipus Festungsanlagen stürmten. All die Monate der minutiösen Vorbereitung, die langen Märsche durch unwirtliches Land, die elende Schufterei, um die Gräben auszuheben, würden vergessen sein im Hochgefühl, an diesem wilden Angriff teilzuhaben.

Arthur sah zu den Gräben. Der letzte von Bairds Männern hatte das diesseitige Ufer verlassen, und es bestand keine Gefahr mehr, dass die Kolonnen durcheinandergerieten. Er räusperte sich und rief den Befehl: »Reserve vorrücken!«

Sergeanten gaben den Befehl weiter, und die Sepoy-Bataillone und das Regiment Schweizer Söldner, das für die Ostindien-Kompanie kämpfte, kletterten aus den Gräben, froh, die stinkende Enge verlassen zu können. Sobald die Reserve Aufstellung genommen hatte, führte Arthur sie zum Fluss hinunter, und sie wateten hindurch, die Musketen hochhaltend, während das träge Wasser ihre Hüften umspülte. Auf der anderen Seite hielten sie vor dem Wall, um auf weitere Befehle zu warten, während Arthur mit seinem Adjutanten Fitzroy und der Grenadier-Kompanie des Schweizer Regiments vorausging. Wegen des losen Gerölls und Schutts unter ihren Stiefeln musste sich Arthur mit der Hand abstützen, als er zu der Bresche hinaufstieg. Deren höchster Punkt und der Abhang dahinter waren mit Leichen übersät, größtenteils Tipus Leute, mit dem Bajonett getötet oder aus nächster Nähe niedergeschossen. Sergeant Graham lag mit offenem Mund auf dem Rücken und starrte leblos in den Himmel. Zu beiden Seiten krachten Schüsse, und Arthur sah in der Ferne Gestalten im Nahkampf um den Besitz der Bastionen und Türme entlang der Mauer ringen. Vor ihm lagen still und schweigend die Straßen Seringapatams, da die Bewohner in ihren Häusern Schutz suchten und zu ihren Göttern um Befreiung oder Gnade beteten.

Die beiden Männer stiegen die nächstgelegene Treppe zum Wall hinauf, um einen besseren Überblick über das Kampfgeschehen zu erhalten. Weiter entfernt schien sich das Gefecht um das Wassertor in der Mauer zu konzentrieren, das auf den Hauptstrom des Kaveri hinausging. In der anderen Richtung sah Arthur bereits einen Schwarm Rotröcke auf das Tor zur Straße nach Mysore zuströmen.

»Sieht aus, als hätten Tipus Leute die Flucht ergriffen«, sagte Fitzroy, der mit einer Hand über den Augen in dieselbe Richtung wie Arthur spähte.

»Ja, sieht so aus«, stimmte Arthur zu. »In diesem Fall müssen wir sicherstellen, dass das Gemetzel nicht außer Kontrolle gerät. Gehen Sie zur Reserve hinunter und befehlen Sie den Sepoys, sich zurückzuhalten. Wir dürfen ihnen nicht erlauben, die Stadt zu betreten.«

Fitzroy zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das wird ihnen nicht gefallen, Sir. Sie kennen die Regeln des Krieges. Die Stadt wurde erstürmt. Von Rechts wegen müssten sie freie Hand haben.«

»Das wird nicht passieren«, erwiderte Arthur mit Nachdruck. »Tipus Volk hatte nichts mit seiner Entscheidung zu tun, Krieg gegen uns zu führen. Es wird sein Schicksal nicht teilen. Und ich werde die Leute gewiss nicht der Gnade von Sepoys aus Madras ausliefern. Ich will, dass das Schweizer Regiment vor der Bresche Stellung bezieht. Sie dürfen keine Soldaten in die Stadt lassen. Verstanden?«

»Ja, Sir.« Fitzroy salutierte und stieg vom Wall hinunter, um Arthurs Befehle weiterzugeben. Inzwischen spähte Arthur über die Stadt. Die Schüsse klangen bereits ab, nur gelegentlich lebten sie frisch auf, wenn die Angreifer eins der wenigen verbliebenen Nester mit Tipus Leuten entdeckten. Der Palast erhob sich hoch über die Stadt, und Arthur dachte, wenn man den Herrscher von Seringapatam finden und zur Aufgabe überreden könnte, dann würden der Stadt die schlimmsten Verheerungen durch die Niederlage vielleicht erspart bleiben. Andernfalls würden die marodierenden Haufen der Rotröcke unweigerlich ihren Weg zu Schnapsläden finden, und dann würden sie befeuert vom Arrak und der Hitze in ihrem Blut mordend, zerstörend und vergewaltigend durch die ganze Stadt ziehen.

Nach Fitzroys Rückkehr machten sie sich unverzüglich auf den Weg zum Palast. Als sie in die breite Straße einbogen, die zum Palasttor führte, sahen sie mehrere Kompanien der Rotröcke davor warten.

»Es ist das 33ste«, sagte Fitzroy und streckte den Arm aus. »Und dort drüben – Major Shee.«

Arthur eilte zu Shee. »Was gibt es Neues?«

Shee drückte den Rücken durch und erstattete Bericht. »Der Feind ist geschlagen, Sir. Wir kitzeln gerade noch die Letzten von ihnen aus ihren Löchern. Ein paar Hundert suchen immer noch im Palast Schutz. General Baird hat sie aufgefordert, sich zu ergeben.«

»Baird? Wo ist er?«

»Sie müssen da drüben durch, Sir.« Shee wies mit einem Kopfnicken zum Tor.

Arthur und Fitzroy gingen zu dem Torbogen und betraten vorsichtig einen geräumigen Innenhof. Baird stand mit dem Rücken zu ihnen und blickte zur Fassade des Palasts. Mehrere von Tipus Männern starrten ihm argwöhnisch vom Palasteingang entgegen. Weitere Männer standen in den Fenstern des Gebäudes. Beim Knirschen von Stiefeln auf dem Kies warf Baird einen Blick über die Schulter, dann drehte er sich um, um Arthur zu begrüßen. In seiner Miene stand kein Triumph, nur Müdigkeit.

»Ah, Wellesley. Es ist so gut wie vorbei. Ich warte nur noch auf den Bescheid des Killadar, des Festungskommandanten, dass er meine Bedingungen akzeptiert.«

»Welche Bedingungen, Sir?«, fragte Arthur.

»Aufgabe des Palasts und Kapitulation der Männer, die darin Zuflucht gesucht haben, darunter zwei von Tipus Söhnen. Im Gegenzug werden der Palast und alle, die sich in ihm befinden, unter den Schutz Ihres Regiments gestellt.«

»Was ist mit Tipu, Sir? Wo ist er?«

»Der Festungskommandant behauptet, es nicht zu wissen. Das letzte Mal will er ihn drüben beim Wassertor gesehen haben.«

»Wir müssen ihn finden, Sir. Wenn er entkommt, wird er den Krieg von anderswo fortsetzen. Wenn er getötet wurde, müssen wir die Leiche finden.«

»Ich bin kein Idiot, Wellesley. Ich weiß, worum es geht.«

»Entschuldigung, Sir. Ich wollte Sie nicht kränken.«

»Schon gut. Und überhaupt, da kommt der Bursche.«

Arthur blickte auf und sah einen dürren Mann aus dem Haupteingang des Palasts schreiten und flink die Treppe zu ihnen heruntereilen. Er neigte formell den Kopf, trat vor Baird und sagte in sauberem Englisch: »Der Killadar akzeptiert Ihre Bedingungen und Ihr Wort als pukka Sahib, dass dem Palasthaushalt kein Leid geschieht, wenn wir unsere Waffen niederlegen.«

»So waren die angebotenen Bedingungen, und ich stehe dazu, mit diesen beiden Offizieren als Zeugen.«

»Da ist noch eine Sache«, unterbrach Arthur. »Sie müssen uns zum Leichnam von Tipu bringen oder zumindest zum letzten Ort, wo er gesehen wurde.«

»Wie Sie wünschen, Sahib

»Nun denn«, knurrte Baird in Richtung des Palastbeamten. »Das sind die endgültigen Bedingungen. Nehmen Sie an oder lassen Sie es bleiben.«

»Wir nehmen an, Sahib. Ich werde es meinem Herrn sagen.«

»Ich will, dass alle Leute im Palast rausgebracht werden«, kommandierte Baird. »Ihre Waffen – und zwar alle, wohlgemerkt – müssen sie in dem Saal dort drüben ablegen.«

»Ja, Sahib.« Der Eingeborene verneigte sich und trottete zum Palast zurück.

Baird wandte sich an Arthur. »Holen Sie Ihre Leute in die Stadt. Sie können die Gefangenen bewachen und in und um den Palast Stellung beziehen.«

»Ja, Sir.«

Kurz darauf kamen die ersten feindlichen Kämpfer aus dem Palast und gingen vorsichtig über den Hof zu den Männern des 33. Regiments, die sie in einer Ecke des Hofs zusammentrieben. Ein steter Strom von Kriegern erschien, dann die Söhne Tipus und die Schar seiner Frauen. Als der Killadar herauskam, ging Arthur zu ihm und fragte ihn, ob während des Nachtangriffs auf das Gehölz von seinen Männern welche gefangen genommen wurden. Der Festungskommandant war in der Zeit von Gouverneur Cornwallis von der Ostindien-Kompanie als Geisel festgehalten worden und sprach gebrochen Englisch.

»Wir zeigen«, antwortete er nervös. »Gefangene? Bitte kommen.«

»Zeigen?«, murmelte Arthur. »Was zeigen?«

»Müssen sehen. Kommen!« Der Killadar ging auf die Tür zu einem kleineren Innenhof zu, der seitlich lag. »Hier entlang!«

»Was da drüben wohl ist?«, fragte Fitzroy misstrauisch.

»Die Kerker«, antwortete Baird ruhig, »wo sie mich über drei Jahre lang gefangen gehalten haben.«

Baird forderte mehrere Männer auf, sie zu begleiten. Die Gruppe folgte dem Killadar vorsichtig, und nachdem sie durch die Tür gegangen waren, fanden sie sich auf einer Art Übungsgelände wieder. Auf einer Seite führte eine Treppe zu einer Reihe vergitterter Zellen hinunter. Am anderen Ende war eine Grube. Fitzroy beugte sich zu Arthur. »Was, glauben Sie, will er uns zeigen?«

»Woher soll ich das wissen? Wir werden es jedenfalls bald erfahren.«

Der Festungskommandant führte sie über den Hof und die Treppe hinunter. Arthur sah, dass die Türen offen standen und die Zellen leer waren. Bis auf die letzte. Als sie sich näherten, tauchten vier riesenhafte Gestalten daraus auf und verbeugten sich vor den Offizieren.

»Wer zum Teufel sind die?«, presste Arthur hervor. Die Männer waren allesamt außerordentlich muskulös und sahen aus, als könnten sie einem Menschen mit bloßen Händen das Genick brechen.

»Jettis«, erklärte Baird ruhig. »Starke Männer. Sie haben für Tipu und seinen Vater Kunststücke vorgeführt, in denen sie ihre Kraft demonstrierten.«

»Was für Kunststücke?«, fragte Fitzroy mit einer Spur von Nervosität in der Stimme.

»Ich habe gesehen, wie sie den Kopf eines Mannes einmal rundherum gedreht haben. Und Schlimmeres.«

Der Killadar stand am Rand der Grube und winkte sie zu sich. Beim Näherkommen erhaschte Arthur einen Blick auf das Fell eines Tiers, das am anderen Rand der Grube entlangpirschte: ein bräunliches Gelb mit dunkleren Streifen.

»Tiger! Es ist eine Tigergrube.«

Sie näherten sich der Grube vorsichtig. Drei riesige Tiger kauten darin an den Überresten eines Menschen, wie es schien. Arthur wurde übel. Dann, als er den Rand der Grube erreichte, erkannte er das volle Ausmaß des Schreckens. Vielleicht ein Dutzend zerfleischter Körper war über ihren Boden verteilt. Die Fetzen roter Uniformjacken ließen keinen Zweifel daran, wer sie gewesen waren. Die Männer in der Begleitung der englischen Offiziere begannen bei dem Anblick, zornig zu murmeln.

»Gefangene«, sagte Arthur. »Die Männer, die wir in dem Gehölz verloren haben.«

»Was haben sie mit ihnen gemacht?«, fragte Fitzroy leise.

Arthur sah genauer hin und bemerkte, dass die Hälse der Toten meist in einem unnatürlichen Winkel verdreht waren. Bei manchen ragten offenbar große Nägel aus dem Schädel. Er betrachtete die Leichen und glaubte, sich übergeben zu müssen. Dann sah er die Jettis wieder an. Doch wohl nicht, dachte er. Bitte, lieber Gott, nicht das.

Baird hatte ihn aufmerksam beobachtet und seine Gedanken erraten. »Es stimmt, Wellesley. Das waren diese Männer. Sie haben die Nägel mit bloßen Händen in die Schädel unserer Männer getrieben, als die Männer noch lebten. Ich weiß es, ich habe während meiner Gefangenschaft hier gesehen, wie sie es taten. Tatsächlich habe ich mit dem Gedanken gelebt, dass sie es eines Tages bei mir vollziehen würden.« Baird sah blass aus, als er es sagte.

»Bastarde …«, knurrte einer der Soldaten, der zu den Leichen seiner Kameraden hinabsah. Plötzlich fuhr er herum, senkte sein Bajonett und stieß es einem der Jettis in den Bauch. Der Mann klappte mit einem tiefen Stöhnen vornüber. Vor den Augen der Offiziere, die zu erschrocken waren, um zu reagieren, zog der Soldat die Waffe heraus, drehte sie um und stieß den Kolben an den Kopf des Jetti. Dann beförderte er ihn mit einem Tritt über den Rand der Grube. Der Mann landete mit einem dumpfen Aufprall und einem Knacken, als sein Arm unter dem Gewicht des muskelbepackten Körpers brach. Auf seinen Schrei hin regte sich einer der Tiger und tappte vorsichtig auf ihn zu, und der Mann brüllte trotz seiner Verletzungen vor blankem Entsetzen.

Der Soldat drehte sich zu seinen Kameraden um. »Erledigt sie! Tötet diese verdammten Schlächter. Alle.« Er wandte sich dem Killadar zu und zeigte auf ihn.

»Nein!«, brüllte Arthur, zog seinen Säbel und trat zwischen seine Leute und den Festungskommandanten. »Stillgestanden, verdammt nochmal! Stillgestanden, sage ich.«

Für einen Moment herrschte eine angespannte Atmosphäre, dann ließ der Soldat die Muskete sinken und stellte sie auf dem Boden ab. Die anderen folgten seinem Beispiel, standen still und warteten auf Befehle. Aus der Grube ertönte ein durchdringender Schmerzensschrei, dann noch einige Schreie und Knurren, bevor das mächtige Zuschnappen eines Tigerrachens den Mann verstummen ließ. Einer der überlebenden Jettis sank auf die Knie und begann um Gnade zu flehen, und aus seinen Augen kullerten große, glitzernde Tränen.

»Gehen Sie besser, und suchen Sie Tipus Leiche«, sagte Baird ruhig. »Dieser schmierige Hurensohn von Bürokrat da kann ihn identifizieren. Ich kümmere mich um das Problem hier.«

Arthur sah ihn misstrauisch an. »Was werden Sie tun, Sir?«

»Die Jettis werden hingerichtet. Dann werden wir die Tiger erschießen müssen, um an die sterblichen Überreste unserer Männer heranzukommen, damit wir sie beerdigen können. Ich kümmere mich darum. Sie gehen und suchen Tipu.«

»Ja, Sir.«

Arthur wies zum Eingang des Innenhofs und befahl dem Killadar, ihn zu der Stelle zu führen, wo Tipu zuletzt gesehen worden war. Im Hinausgehen warf er einen letzten Blick zurück. Baird stand daneben und sah einfach zu, als die Männer den Ersten der verbliebenen Jettis zur Grube schleiften und über den Rand stießen.

»Sie haben gesehen, was sie mit unseren Leuten gemacht haben«, stieß Fitzroy zwischen den Zähnen hervor. »Sie haben verdient, was ihnen geschieht.«

»Kein Mensch verdient das«, sagte Arthur mit Nachdruck und führte seinen Freund sanft aus dem Hof. Sie folgten dem Festungskommandanten auf einer breiten Durchgangsstraße, die zum Wassertor führte. Eine Kompanie des 73. Infanterieregiments war dort zurückgelassen worden, um die Stellung zu halten, und sie rührten sich, als sich die Offiziere und der Einheimische näherten. Unverkennbar hatten einige der heftigsten Kämpfe des Tages hier stattgefunden. Leichen von englischen und einheimischen Kriegern lagen kreuz und quer über dem Wallgang, und in der Torpassage türmten sich Tote und Verwundete; manche der Männer regten sich noch schwach und stöhnten. Ein Leutnant führte die Kompanie, und er salutierte, als Arthur vor dem Tor stehen blieb und den Blick über die Szenerie schweifen ließ.

»Sieht nach einem harten Kampf aus, Leutnant.«

»Jawohl, Sir, das war es. Sie haben in dem Durchgang final Stellung bezogen und bis zum letzten Mann gekämpft. Waren tapfere Burschen.«

Arthur wandte sich an den Killadar. »War dies der Ort?«

»Ja, Sahib. Hier habe ich Tipu Sultan zum letzten Mal gesehen. Er hat mich zum Palast zurückgeschickt, damit ich seine Frauen beschütze, während er hier das Tor verteidigt hat.«

»Nun denn.« Arthur nickte und wandte sich an den Leutnant. »Ich möchte, dass die Leichen der Einheimischen aus dem Tordurchgang geholt und entlang der Mauer aufgereiht werden.«

Während die Sonne zum Horizont sank und tiefe Schatten hinter den Wall warf, machten sich die Rotröcke widerstrebend an die unangenehme Aufgabe. Die Leichen, schlaff und glitschig von Blut, Urin und Kot, wurden aus dem Knäuel von Gliedern herausgezogen und zur Seite getragen. Schmerz verzerrte das Gesicht des Killadars, als er Gefährten und Freunde vom Hof Tipus erkannte, die an der Seite ihres Herrschers gekämpft hatten und gestorben waren. Als das Licht schwand, ließ Arthur eine Fackel anzünden, damit der Kommandant in ihrem schwankenden Schein die Toten inspizieren konnte. Schließlich trugen zwei der Soldaten einen kleinen, beleibten Mann in einer reich bestickten Seidenjacke aus dem Durchgang. Seine Haut war dunkler als die der anderen, und er hatte gepflegte, zierliche Hände.

Der Killadar schluckte und nickte. »Das ist Sultan Tipu.«

»Legt ihn nieder«, befahl Arthur, und die beiden Soldaten ließen den Leichnam vorsichtig zu Boden. Arthur beugte sich über ihn und sah, dass Tipu abgesehen von einigen Kratzern und einer Schusswunde in der Schulter nicht verletzt zu sein schien, nichts, was tödlich gewesen wäre. Er öffnete einige Knöpfe an der Jacke und riss das Seidenhemd auf, sodass die dunkle, glatte Haut des Brustkorbs frei lag. Er drückte das Ohr darauf und lauschte, doch da war kein Herzschlag.

»Er ist tot.«

Der Leutnant kam zu ihm. »Ist er das, Sir? Tipu?«

Arthur nickte.

»An den erinnere ich mich. Ich habe ihn oben auf der Bastion gesehen, von wo er auf uns geschossen hat, während seine Diener seine Waffen nachluden. Er hat Leutnant Lalor mit einem Kopfschuss getötet. Ein ausgezeichneter Schuss auf diese Entfernung. Das war, bevor sie unten im Tordurchgang ihre letzte Stellung bezogen. Er hat mit einem Säbel gekämpft, als ich ihn zu Boden gehen sah. Wie ist er gestorben?«

Arthur warf einen Blick auf die Leiche. »Schwer zu sagen. Vielleicht ist er gestürzt und hat das Bewusstsein verloren. Er wurde ganz unten in dem Haufen gefunden. Wahrscheinlich ist er erstickt.«

»Himmel …« Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Das ist keine Art zu sterben.«

»Es gibt schlimmere, glauben Sie mir«, murmelte Fitzroy.

»Bringen Sie die Leiche zum Palast«, befahl Arthur. »Seine Söhne können seine Identität bestätigen. Sobald seine Männer wissen, dass er tot ist, werden sie keinen Grund mehr haben, den Kampf fortzusetzen.«

Sie kehrten zum Palast zurück. Eine kleine Abordnung der Männer vom Wasserpalast trug Tipus Leiche. Die Söhne Tipus, seine Frauen und die überlebenden Höflinge versammelten sich um den toten Herrscher und begannen zu trauern, ihr Wehklagen hallte von den Wänden seines Audienzsaals wider. Baird kam, als er die Nachricht hörte, stellte sich an eine Wand und beobachtete die Trauerszene. In seinen Augen lag kein Mitleid, nur eine kalte Befriedigung.

»Ich werde keine Träne für dieses Vieh vergießen«, murmelte er Arthur zu. »Auch nicht wegen seiner Familie oder der Leute in dieser entsetzlichen Stadt.«

»Wie lauten Ihre Befehle, Sir?«

»Befehle?« Baird legte die Stirn in Falten, und Arthur wurde bewusst, dass der Mann genauso erschöpft war wie er selbst und Müdigkeit beiden den Verstand vernebelte. »Ihre Männer sollen den Palast bewachen. Bringen Sie Tipus Söhne zu General Harris, dann kehren Sie zu Ihrer Reservekolonne zurück.«

»Jawohl, Sir. Was ist mit der Stadt?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Sollten wir nicht Maßnahmen ergreifen, um hier Ordnung herzustellen? Falls unsere Männer außer Kontrolle geraten.«

»Nein. Die Männer haben sich ihren Preis verdient. Die Stadt gehört ihnen.«

»Sir …« Arthur hielt kurz inne. Er konnte sich die Schrecken vorstellen, die auf die Bewohner von Seringapatam warteten, wenn die britischen Soldaten, berauscht von Arrak und von ihrem Sieg, sich an ihnen auszutoben begannen. »Sir, es wäre gewissenlos und ein Unrecht, unsere Leute die Stadt plündern zu lassen.«

Baird zuckte mit den breiten Schultern. »Die Regeln des Krieges, Wellesley. Dagegen kann ich nichts ausrichten. Dagegen werde ich auch nichts unternehmen, so wie diese Hurensöhne mich behandelt haben. Wenn ich nun bitten darf, Sie haben Ihre Befehle.«

»Ja, Sir.« Arthur salutierte und wandte sich ab.

Er verließ die Stadt mit einer Kompanie seiner Männer, um Tipus Söhne zum Hauptquartier von General Harris zu begleiten. Die Plünderung von Seringapatam hatte bereits begonnen. Gelegentlich hallten Schüsse durch die Stadt, zusammen mit dem Grölen von Betrunkenen, dem Gesang der Soldaten und den Schreien und flehentlichen Bitten der Bewohner um Gnade. In einem Viertel loderte ein Brand auf und warf einen orangefarbenen Schein über eine Ecke der Stadt. Arthur betrachtete das Schauspiel mit Abscheu und einem bleiernen Gefühl der Verzweiflung im Herzen, ehe er sich abwandte und seinen Männern durch die Bresche und die dunklen Wasser des südlichen Kaveri folgte. Falls es wirklich Krokodile in dem Fluss gab, würden sie sich an den Leuten gütlich tun, die beim Versuch, von der Insel zu fliehen, getötet wurden.

General Harris empfing Tipus Söhne freundlich und versprach, sie würden anständig behandelt werden. Als sie fortgeführt wurden, trat Harris zu Arthur, der im Zelteingang stand und in Richtung Seringapatam blickte. Während sie den fernen Schüssen und den schwachen Rufen und Schreien lauschten, wussten beide Männer sehr genau, welches Grauen sich in der Stadt abspielte.

»Baird hält seine Leute also nicht zurück?«

»Nein, Sir.«

»Ein Jammer. Das wird die Aufgabe für den Mann, der die Verantwortung für die Stadt übernimmt, sehr viel schwerer machen. Es wird eine Menge Arbeit nötig sein, um die Einheimischen auf unsere Seite zu ziehen. Es wird einen Mann mit außergewöhnlicher Überzeugungskraft und großem Organisationsgeschick erfordern. Generalmajor Baird ist nicht dieser Mann«, schloss Harris betrübt, ehe er Arthur ansah. »Deshalb müssen Sie es tun, Wellesley.«

»Sir?«

»Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich möchte, dass Sie der erste Gouverneur von Mysore werden.«

»Ich, Sir?« Arthur war zu müde, um Schreck und Überraschung zu verbergen.

»Sie. Jetzt gehen Sie in Ihr Zelt und schlafen ein wenig. Sie übernehmen morgen in aller Frühe das Kommando über die Stadt.«

50

Napoleon

Paris, Oktober 1799

Josephine betrat das Haus so leise wie möglich und schloss die Dienstbotentür hinter sich. Obwohl es noch früh am Abend war, herrschte Stille. Sie wusste, dass Napoleon bereits eingetroffen war. Die Kutsche, mit der er aus Marseille angereist war, stand im Hof hinter dem Haus bei den Ställen, und die Pferde kauten entspannt ihr Futter. Sie hatte den Lenker der Kutsche, die sie sich von Barras geborgt hatte, gebeten, sie am Ende der Straße abzusetzen. Als die Nachricht von Napoleons Rückkehr aus Ägypten Paris erreicht hatte, war Josephine umgehend in Panik geraten. Inzwischen wussten genügend Leute in der Stadt von ihrer Untreue, damit es der Familie ihres Gatten zu Ohren gekommen sein musste, und er würde die Wahrheit mit Sicherheit bald erfahren, wenn sie ihn nicht bereits erreicht hatte. Deshalb war sie zu ihrem alten Freund Paul Barras gegangen und hatte ihn gebeten, ihr seine beste Kutsche samt Pferden zu leihen, damit sie Napoleon vielleicht auf der Straße nach Paris abfangen und ihm die Wahrheit sagen konnte, bevor der Rest seiner Familie ihm ihre Version der Ereignisse eintrichterte. Sie hatte beschlossen, ihn zu suchen, um Vergebung zu bitten, ihm für alle Zeit Treue zu schwören und ihn ins Bett zu locken. Mit einer leidenschaftlichen Nacht würde sie ihn so gründlich auf ihre Seite ziehen, dass er ihr auch durch nachdrücklichste schmutzige Einflüsterung nicht mehr entrissen werden konnte. Unglücklicherweise hatte sich der verdammte Kutscher verfahren, und nach zwei Tagen des Herumirrens hatte ihn Josephine nach Paris zurückbeordert.

Sie blieb kurz an der Schwelle zum Flur stehen und lauschte. Das einzige Geräusch, das sie über den gedämpften Lärm von der Straße hörte, war das Ticken einer Uhr. Sie schluckte nervös, ging den Flur entlang und zuckte zusammen, als ein Bodenbrett unter ihren Füßen knarrte. Über der Eingangstür brannte eine Lampe, und von einem Feuer im Kamin des Wohnzimmers fiel ein warmer Schein in den Gang. In dem schwachen Licht bemerkte sie eine große, unförmige Masse in einer Ecke neben der Tür. Sie ging näher, und der Haufen entpuppte sich als ordentlich gestapelte Truhen, Hutschachteln und Taschen. Der Schreck fuhr Josephine in alle Glieder, als ihr klar wurde, dass es sich um ihre eigenen Habseligkeiten handelte, alle gepackt und bereit zur Abreise.

»Nein …«, stöhnte sie. Dann wappnete sie sich und warf einen Blick in das Wohnzimmer. Doch es war leer, obwohl das Feuer erst vor Kurzem angezündet worden war und das Holz noch knisterte und zischte.

»Mutter?« Die Stimme ertönte direkt hinter ihr, und Josephines Herz tat einen Satz. Sie fuhr herum. Hortense stand in der Tür zur Küche. Josephine sah im Schein der Lampe, dass sie geweint hatte.

»Mein Gott, er hat dir doch nicht etwa wehgetan, oder?«

Hortense schüttelte den Kopf.

»Wo ist er?«

»Oben, in eurem Schlafzimmer.« Hortense schluckte nervös. »Er hat schrecklich getobt, als er ankam. Hat geschrien und dich alles Mögliche geheißen, als er entdeckt hat, dass du nicht da bist. Er hat dich eine … eine Hure genannt und alle Spiegel in deinem Ankleideraum zertrümmert. Dann hat er dem Diener befohlen, deine Sachen zu packen. Er sagt, er will dich für alle Zeit aus dem Haus haben.«

»Nicht, bevor ich dazu bereit bin«, murmelte Josephine und eilte die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo auf der Rückseite das eheliche Schlafzimmer lag. Mit raschelnden Röcken fegte sie über die Dielen und drehte die Türklinke. Die Tür ging nicht auf, und Josephine begriff, dass Napoleon sie ausgesperrt hatte.

»Napoleon. Mach die Tür auf.«

»Verschwinde!«

Sie lächelte. Wenigstens ersparte er es ihr, sie zu ignorieren. »Verschwinden? Aus meinem Haus? Von der Seite meines Mannes? Warum sollte ich das tun?«

»Damit du in den Armen deines Geliebten liegen kannst, du Verräterin!«

»Welcher Geliebter?«

»Der, bei dem du warst, als ich in Paris eingetroffen bin. Als du hier hättest sein sollen.«

Erleichterung durchflutete Josephine. Sie holte tief Luft, um ihre Nerven zu beruhigen, und senkte die Stimme. »Ich war nicht in Paris. Ich war unterwegs, um dich zu suchen. Mein Kutscher hat eine falsche Abzweigung genommen, und wir müssen dich verpasst haben.« Es klang selbst in ihren eigenen Ohren falsch, aber es war die Wahrheit, und sie konnte es mühelos beweisen.

»Lügnerin!«

»Es stimmt!«, rief sie zurück. »Ich schwöre es beim Leben meiner Kinder. Sobald ich gehört habe, dass du in Frankreich gelandet bist, bin ich aufgebrochen, um dir entgegenzufahren. Ich konnte es nicht erwarten, wieder in deinen Armen zu liegen. Und genau dort wäre ich gewesen, wenn dieser verdammte Kutscher sein Geschäft verstanden hätte. Napoleon, mein Liebster, öffne die Tür. Ich flehe dich an.«

»Nein. Und jetzt geh. Bitte.«

Bitte? Sie lächelte für sich bei diesem ersten Anzeichen von Schwäche.

»Ich kann nicht gehen. Ich liebe dich. Ich würde sterben, wenn ich nicht an deiner Seite sein könnte.«

»Dann kannst du meinetwegen sterben.«

Sie fühlte Zorn bei seinen Worten in sich aufsteigen, aber sie zwang sich, ihren flehentlichen Ton beizubehalten. »Nun gut, mein Liebster. Ich werde gehen. Aber nur, wenn du mich ein letztes Mal dein Gesicht sehen lässt. Ich werde mich nicht von einer Tür verabschieden, Napoleon. Mach auf und sag von Angesicht zu Angesicht Lebwohl.«

Nach kurzem Schweigen fragte er misstrauisch: »Warum?«

»Wir sind Erwachsene, mein Lieber, also benehmen wir uns bitte auch mit der Würde von Erwachsenen.« Sie ließ ihre Stimme so freundlich und vernünftig wie möglich klingen. »Jetzt mach diese Tür auf.«

Erst herrschte Stille, dann tappten nackte Füße leise über den Boden. Ihr Herz schlug schnell und heftig, als ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde und die Tür einen Moment später langsam aufging.

Am nächsten Morgen kam Lucien zum Haus seines Bruders und klopfte. Einen Moment später öffnete der grotesk gekleidete Diener, den Napoleon aus Ägypten mitgebracht hatte, die Tür.

»Ist mein Bruder schon aufgestanden?«

»Nein, Monsieur.« Roustam trat beiseite, um Lucien vorbeigehen zu lassen, und dieser konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sah, dass das gesamte Gepäck aus dem Flur verschwunden war, das bei seinem Besuch am Vortag noch dort gestanden hatte. »Aha – dann ist sie also fort.«

»Monsieur, ich …«

»Setzen Sie Kaffee auf und bringen Sie ihn ins Arbeitszimmer. Mein Bruder und ich haben heute Vormittag etwas zu besprechen.«

»Aber, Monsieur …«

»Machen Sie einfach den Kaffee!«, wiederholte Lucien. Er nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinaufging. Josephines Abreise versetzte ihn in Hochstimmung. Nun würde sein Bruder seine gesamte Energie auf andere, wichtigere Dinge konzentrieren können. An der Tür am Ende des Flurs angekommen, klopfte er nicht, sondern öffnete sie einfach.

»Napoleon, es ist schon spät. Du hättest vor einer Stunde bei mir sein sollen. Jetzt bin ich zu dir gekommen und …«

Er hielt abrupt inne und starrte auf das Bett. Napoleon saß in ein Kissen gestützt, die teigige weiße Brust nackt und das dunkle Haar so zerzaust und unordentlich wie die Laken über dem unteren Teil seines Körpers. Josephines Kopf ruhte an seiner Schulter. Lucien holte tief Luft und biss die Zähne zusammen, um sich seine Überraschung und Wut nicht anmerken zu lassen. Er trat einen Schritt zurück.

»Verzeihung, Madame. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind.«

»Offensichtlich«, sagte sie lächelnd. Sie schmiegte sich enger an Napoleon und küsste ihn auf die nackte Haut.

Lucien errötete vor Zorn und Verlegenheit. »Ich, äh, muss mit meinem Bruder sprechen. Unverzüglich.« Er sah Napoleon in die Augen. »Es ist sehr wichtig. Ich warte unten in deinem Arbeitszimmer auf dich. Beeil dich.«

Er machte kehrt und schloss die Tür hinter sich. Als sich seine Schritte im Flur entfernten, lächelte Josephine leise.

»Nachdem du jetzt da bist«, sagte Lucien pikiert, »können wir ja endlich anfangen.«

Napoleon antwortete nicht, sondern lächelte und schenkte sich von dem Kaffee ein. Er trank vorsichtig einen Schluck und verzog das Gesicht, als er bemerkte, dass der Kaffee kalt war. Er stellte die Tasse ab und sah seinen jüngeren Bruder an. »Nun?«

»Du hast dir eine gute Zeit für deine Rückkehr ausgesucht. Wirklich eine sehr gute Zeit, Bruder.«

»Gut?« Napoleon zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Frankreich liegt mit England, Österreich, Neapel, Portugal und der Türkei im Krieg. Der einzige Feind, der bereit ist, über Frieden mit uns zu verhandeln, ist Russland, und das auch nur, weil Zar Paul die Engländer sogar noch mehr hasst als uns. Unsere Armee erholt sich immer noch von der Niederlage bei Novi. Die meisten Departements in Frankreich stehen kurz vor einem Aufstand, unsere Soldaten wurden seit Monaten nicht bezahlt, und die Staatsschatulle ist fast leer. Dazu drängen die Jakobiner auf einen neuen Wohlfahrtsausschuss. Was hat das Direktorium aus dem Land gemacht, das ich so mächtig zurückließ, als ich nach Ägypten aufbrach? Die Lage könnte kaum schlimmer sein.«

»Und deshalb könnte die Gelegenheit für eine Veränderung kaum besser ein.« Lucien lächelte. »Insbesondere, da die Leute, die uns gegenwärtig regieren, so hoffnungslos zerstritten sind. Talleyrand ist in Ungnade gefallen, seit er versucht hat, Schmiergeld für einen Vertrag mit den Amerikanern herauszuschlagen. General Bernadotte macht kaum ein Geheimnis aus seinen Plänen, die ganze Macht an sich zu reißen. Barras soll meinen Informanten zufolge sogar einen Staatsstreich planen, um die Bourbonen wieder an die Macht zu bringen. Und genau jetzt triffst du in Paris ein, auf einer Woge der Popularität, dank deines Sieges bei Abukir. Das war so ziemlich die einzige gute Nachricht, die unsere Leute seit Monaten feiern konnten. Sie sehnen sich verzweifelt nach Veränderung.«

Napoleon sah ihn mit einem wissenden Blick an. »Und du bist versessen darauf, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen.«

»Ich und andere, die sind wie ich«, gab Lucien zu. »Es ist mir gelungen, von politischen Skandalen frei zu bleiben, und ich kann auf die Unterstützung einer großen Zahl von Deputierten bauen, aber mir fehlt die Zuneigung des Volks. Wenn etwas geschehen soll, wenn meine Kameraden und ich einen Regierungswechsel herbeiführen wollen, dann brauchen wir eine Gallionsfigur, die die Bewegung anführt. Es muss jemand sein, der von den Machenschaften in der Hauptstadt nicht vorbelastet ist. Jemand, der beim Volk beliebt ist und über den Respekt und die Loyalität der Armee gebietet.«

»Jemand wie ich also.« Napoleon lächelte abermals.

Luciens Miene blieb ernst. »Du bist der Einzige, der infrage kommt. Jede andere Wahl würde zu viel Uneinigkeit provozieren. Du müsstest nur das öffentliche Gesicht der neuen Regierung sein. Sobald sich die Lage beruhigt hat, könntest du zur Armee zurückkehren und dich aus der Politik zurückziehen.«

»Könnte sein, dass ich das gar nicht will«, sagte Napoleon vorsichtig.

»Möglicherweise wäre dein … Rückzug aus dem öffentlichen Leben nicht im Interesse Frankreichs. Aber ich würde eine solche Ansicht nicht gegenüber den Leuten zum Ausdruck bringen, deren Hilfe wir in den kommenden Tagen benötigen werden.«

»Ich verstehe.« Napoleon lehnte sich zurück. »Wer ist noch in deinen Plan eingeweiht?«

»Zwei der Direktoren, Sieyès und Ducos. Wir haben Talleyrand, Joseph Fouché und einigen der anderen Minister auf den Zahn gefühlt. Sie sind alle für einen Regierungswechsel und wollen eine neue, stärkere Exekutive. Es ist nur so, dass viele von ihnen Angst haben, einen Soldaten als mutmaßlichen Führer des Putsches zu benutzen.«

»Sehr klug von ihnen. Und zugleich sind sie töricht. Sie wollen eine zentralisierte Regierung mit der Befugnis, schnell und entschlossen zu handeln, und fürchten sich gleichzeitig vor den Konsequenzen eines solchen Schritts.« Napoleon schüttelte verächtlich den Kopf. »Sie können nicht beides haben.«

»Das wissen sie«, sagte Lucien. »Genau das lähmt sie seit Monaten. Das Problem ist: Nachdem Bernadotte und Barras wie Wölfe um sie herumschleichen, sind sie endlich zum Handeln gezwungen. Du warst nicht ihre erste Wahl. Sieyès wollte Joubert, aber der wurde in der Schlacht von Novi getötet, und du bist unsere letzte Chance. Sieyès ist nicht scharf auf dich. Er ist besorgt wegen deines ›leicht entzündlichen Temperaments‹, wie er es nannte, und wegen deines Ehrgeizes.«

»Dann ist er kein Dummkopf.«

»Wir müssen behutsam mit ihm umgehen, Bruder.«

Napoleon nickte. »Wann schreiten wir zur Tat?«

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Erst nach deinem offiziellen Empfang durch die Direktoren. Wir müssen sehen, wie sie auf deine Popularität reagieren. Sie könnten deine Gründe in Zweifel ziehen, warum du deine Armee in Ägypten verlassen hast. Sie könnten versuchen, dich mit Dreck zu bewerfen, und hoffen, dass genug davon hängen bleibt, um dein Bild in der Öffentlichkeit zu besudeln.«

»Eine bezwingende Vorstellung, Lucien, aber nicht sehr romantisch.«

Lucien schlug sich verärgert mit der Hand auf den Oberschenkel. »Das ist kein Spiel, Napoleon! Es geht um den höchstmöglichen Einsatz. Wenn wir die Sache verpfuschen, könnte es uns das Leben kosten.«

»Du weißt, wenn wir Erfolg haben, könnte es außerdem den Sturz der Revolution bedeuten.«

»Vielleicht, aber alles ist besser als eine Rückkehr zur Monarchie. Fast alles.«

Zwei Tage später präsentierte sich Napoleon im Audienzsaal des Palais Luxembourg in voller Uniform den Direktoren. Weitaus weniger Offizielle als beim letzten Mal waren zu dieser Versammlung erschienen. Louis Gohier, der Präsident des Direktoriums, begrüßte Napoleon herzlich und sprach ihm die Glückwünsche und den Dank der Direktoren im Namen des französischen Volks aus. Dann warf er einen Blick zu Barras, und Napoleon bemerkte, dass Barras kaum merklich nickte, ehe Gohier fortfuhr.

»Wie ganz Frankreich begrüßt das Direktorium Ihre unerwartete Rückkehr mit Freude, in die sich ein wenig Überraschung mischt. Nur Ihre Feinde, die wir selbstverständlich auch als unsere Feinde betrachten, könnten die patriotischen Beweggründe, die Sie veranlasst haben, Ihre Armee zurückzulassen, auf eine unvorteilhafte Weise auslegen.«

Napoleon fühlte heißen Zorn in sich aufwallen, doch es gelang ihm, in ruhigem und respektvollem Ton zu antworten: »Bürger, die Nachrichten, die uns in Ägypten erreichten, waren so alarmierend, dass ich nicht zögerte, meine Armee zu verlassen, sondern sofort aufbrach, um Ihnen in der Gefahr beizustehen.« Napoleon umklammerte den Griff seines Säbels. »Ich schwöre, dieser Säbel wird ausschließlich zur Verteidigung der Republik und ihrer Regierung gezogen werden.«

Barras beugte sich vor und lächelte. »Wir sind beruhigt, das zu hören, General. Und wir werden bestrebt sein, möglichst bald ein neues Kommando zu finden, das einem Mann von Ihrem Talent und Ehrgeiz entspricht, damit Ihnen die endlosen politischen Machenschaften erspart bleiben, die Paris heimsuchen.«

Die Worte wurden mit so viel bewusster Unzweideutigkeit vorgebracht, dass Napoleon plötzlich den Eindruck hatte, seine Fassade der Loyalität wäre so durchsichtig wie das feinste Glas, und seine Ambitionen lägen für alle klar ersichtlich zutage. Die Zeremonie ging zu Ende, und er trat vor die Direktoren und umarmte jeden Einzelnen von ihnen in einer frostigen Geste der Brüderlichkeit. Als er den Palast verließ, präsentierten die Wachen am Tor ihre Waffen und riefen im Chor: »Lang lebe Bonaparte!« Der Ruf wurde von der dichten Menge der Zivilisten aufgenommen, die sich um seine Kutsche drängte, als sie durch das Tor auf die Straße fuhr. Napoleon lächelte, winkte den Leuten zu und fragte sich, wie viele ihn in einem Monat noch immer so begeistert unterstützen würden.

»Es muss bald geschehen«, sagte Napoleon mit Nachdruck und blickte in die Runde der Männer in seinem Arbeitszimmer. »Die Direktoren wagen es im Moment nicht, mich zu disziplinieren, weil sie die Reaktion der Öffentlichkeit fürchten. Aber sobald meine Unterstützung im Volk nachlässt, werden sie gegen mich vorgehen, und ich werde keine Möglichkeit haben, den Staatsstreich anzuführen.«

Sieyès zuckte unruhig. »Es geht hier nicht um Ihr Heil, General Bonaparte. Es geht um das Heil Frankreichs.«

»Natürlich«, stimmte Napoleon bereitwillig zu. »Das verstehe ich, Bürger, so wie ich verstehe, dass ich lediglich das Instrument bin, durch das unsere Sache ihr Ziel erreichen wird. Kein Mann sollte sich über die ihm Gleichgestellten erheben.«

»Ganz recht«, griff Lucien ein. »Und dieser Punkt darf nicht vergessen werden, was immer sonst geschieht. Mein Bruder hat recht. Wir können nicht länger warten. Bernadotte baut seine Unterstützung unter den Jakobinern im Rat der Fünfhundert aus. Er wird binnen Wochen bereit sein, zu handeln, wenn wir ihm nicht zuvorkommen. Natürlich werden sich die Direktoren gegen ihn stellen, aber wenn er den Rat und das einfache Volk auf seiner Seite hat, dann sind sie erledigt, und wir haben unsere Chance verpasst. Und nachdem dies die Lage ist, schlage ich vor, wir handeln Anfang November. Ich habe bereits General Moreau für unsere Sache gewonnen, und die meisten anderen Generäle in Paris werden meinem Bruder folgen.«

»Bis wir eine neue Verfassung haben«, erinnerte ihn Sieyès nachdrücklich. »Dann tritt der General beiseite und übergibt die Macht einer zivilen Autorität.«

»Natürlich.« Napoleon nickte.

Sieyès sah ihm forschend ins Gesicht, dann wandte er sich wieder Lucien zu. »Wann tun wir es?«

»Am 9. November. Mein Bruder wird mit den Offizieren der Pariser Garnison frühstücken, bevor er einige neue Regimenter inspiziert. Damit bleibt er in einiger Entfernung, während wir das Direktorium neutralisieren.«

»Wie können wir das erreichen?« Ducos sprach zum ersten Mal, und Napoleon musste seine instinktive Abneigung gegen den Mann verbergen. Ein dürrer Schmeichler, verkörperte er den schlimmsten Typ Politiker, von denen die Revolution unterwandert worden war. »Drei der fünf Direktoren müssen jeden Antrag genehmigen, der den Deputierten und Senatoren zur Abstimmung vorgelegt wird. Sieyès und ich können es nicht allein.«

»Das werden Sie nicht müssen«, sagte Lucien lächelnd. »An diesem Tag werden Sie beide zu Barras gehen. Sie werden ihm einen Handel anbieten. Bestechen Sie ihn, wenn nötig. Er muss sein Amt für eine angemessene Gebühr zur Verfügung stellen, oder er wird mit Gohier und Moulin unter Arrest gestellt. So oder so werden Sie beide die Abstimmungen initiieren können, die wir brauchen, um unsere Reformen durchzudrücken. 9. November«, wiederholte Lucien. »Sind wir uns einig?«

Kurz herrschte Stille, als die Verschwörer über den Plan nachdachten. Schließlich nickte einer nach dem anderen zum Zeichen der Zustimmung, und Lucien stand auf. »Dann gibt es nichts weiter zu besprechen. Wenn alles wie geplant verläuft, wird Frankreich am 10. November aufwachen und eine neue Regierung haben.«

»Wenn alles wie geplant verläuft?« Sieyès schüttelte wehmütig den Kopf. »Wann wäre je etwas nach Plan verlaufen?«

»Beten Sie, dass es das tut.« Napoleon zwang sich zu einem Lächeln. »Andernfalls könnte dieser Tag durchaus unser letzter sein.«

51

Barras hat uns mehr gekostet als gedacht«, erklärte Lucien. »Er ging nicht für weniger als zwei Millionen Francs.«

»Zwei Millionen!« Napoleon pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ich hatte keine Ahnung, dass die Prinzipien eines Mannes derart viel wert sind.«

»Er vermutlich auch nicht.«

»Was ist mit den anderen?«, fragte Napoleon mit banger Miene.

»Moreau hat Gohier und Moulin unter Hausarrest gestellt. Lannes und Marmont halten Truppen an den Eingängen zu den Tuilerien bereit. Moreau hat das Palais Luxembourg umstellt, und wir haben Truppen in Versailles und Murats Kavallerie in St. Cloud. Der Jakobinerklub wurde geschlossen, und Bernadotte und die Rädelsführer seiner Gruppe werden in dem Gebäude festgehalten. Es gab bisher keine Berichte von irgendwelchem Widerstand. Alles läuft also gut, und es ist Zeit, dass du vor den Senatoren erscheinst.«

Napoleon sah seinen Bruder an. »Bist du dir sicher, dass sie uns unterstützen werden?«

»Natürlich! Wir werden eine klare Mehrheit haben, aber es wird einige entschiedene Gegner geben. Der Rest wird nicht ein noch aus wissen und uns keine Probleme machen. Bist du bereit, zu gehen?«

»So bereit, wie ich je sein werde.«

»Gut. Dann komm, Bruder, es ist Zeit, die Welt zu verändern.«

Sie verließen Napoleons Arbeitszimmer und waren auf dem Weg zur Eingangstür, als Josephine aus dem Salon gegenüber kam. Napoleon hatte ihr nichts von dem Plan erzählt, aber das Kommen und Gehen von Politikern und Generalen zu allen Tages- und Nachtzeiten verriet deutlich, dass etwas ausgeheckt wurde, und Josephine sah ihn ängstlich an.

»Was immer heute geschieht, Liebster, ich bete, dass du Glück hast.«

Napoleon zog sie in seine Arme und küsste sie auf den Mund. »Ich benachrichtige dich, sobald es ein Ergebnis gibt.«

»Napoleon!« Sein Bruder winkte ihn zu sich. »Wir müssen gehen, auf der Stelle.«

Napoleon küsste sie noch einmal, dann löste er sich von ihr und eilte aus dem Haus, ohne noch einmal zurückzublicken. Josephine folgte ihm bis zur Tür und sah zu, wie er in Luciens Kutsche stieg. Nach einem Peitschenknall des Kutschers fuhr sie ruckartig an und ratterte die Straße hinunter Richtung Tuilerien.

Die Soldaten vor der Nationalversammlung jubelten, als sie Napoleon aus der Kutsche steigen sahen. Er trug seine prächtigste Uniform und seinen neuen Zweispitz mit einer großen Revolutionskokarde daran. Um seine Mitte war eine breite rote Schärpe gebunden, und ein mit Edelsteinen besetzter Säbelgriff glänzte im klaren Licht der Herbstsonne. Die beiden Brüder betraten das Gebäude und gingen zu dem Saal, in dem die Senatoren in gespannter Erwartung saßen. Bei Napoleons Eintreten erhoben sich die Senatoren von ihren Plätzen und applaudierten, viele nur halbherzig, wie er bemerkte. Der Präsident der Kammer zeigte zum Sprecherpodium, und Lucien stieg hinauf und begann mit dem Text, auf den er sich in der Nacht zuvor mit Napoleon geeinigt hatte.

»Senatoren! Die Direktoren haben sich getroffen und folgenden Antrag beschlossen, der dem Haus vorgelegt werden soll: dass die bestehende Verfassung ausgesetzt sei und dass, während eine neue Verfassung ausgearbeitet wird, drei provisorische Konsuln, General Bonaparte und die Bürger Sieyès und Ducos mit den Regierungsgeschäften beauftragt werden. Des Weiteren, dass beide gesetzgebenden Versammlungen vorübergehend nach St. Cloud verlegt werden, wo sie sicher sind vor allen Versuchen des durch die Jakobiner beeinflussten Pöbels, in den Regierungsprozess einzugreifen. Es gibt keinen Grund für eine Debatte in dieser Angelegenheit, und wir werden sofort abstimmen.« Er drehte sich um, verbeugte sich vor dem Präsidenten und verließ das Podium nicht, als zur Abstimmung aufgerufen wurde. Eine klare Mehrheit der Versammlung zeigte ihre Unterstützung an, und nach entsprechendem Nachhelfen hob auch eine Reihe der Unentschlossenen die Hand.

»Der Antrag ist angenommen«, verkündete der Präsident, und Lucien hob die Hände, um das Stimmengewirr zum Verstummen zu bringen, das durch den Saal hallte. »Diese Sitzung ist nun unterbrochen. Sie wird morgen in St. Cloud fortgesetzt werden. Verehrte Herren, ich möchte Sie bitten, den Saal unverzüglich zu verlassen und Ihre Vorbereitungen für den Umzug nach St. Cloud zu treffen.«

Während die Senatoren weiter untereinander murmelten, rückte Napoleon näher zu seinem Bruder und sagte leise: »Das scheint ja ganz gut zu laufen.«

»Bis jetzt, aber es könnte morgen durchaus einige Probleme geben, wenn sie aufwachen und das wahre Ausmaß der neuen Regelungen begreifen.«

»Und was wird meine Rolle sein? Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Schneiderpuppe, wenn ich einfach nur so dastehe.«

»Es ist besser, wenn du nichts sagst. Du solltest den Eindruck erwecken, über der Debatte zu stehen. Überlass das den Politikern, damit es nicht so wirkt, als würde die Armee Druck ausüben. Sonst haben die Jakobiner, die noch in Freiheit sind, ehe wir’s uns versehen die Massen mobilisiert.«

»Die Massen werden nicht glücklich sein, wenn sie von den Veränderungen erfahren.«

»Wenn wir uns morgen erst einmal die Unterstützung beider Häuser gesichert haben, wird alles vollkommen legal und demokratisch erscheinen. Es wird keine Rechtfertigung dafür geben, sich uns in den Weg zu stellen, und jeder, der es versucht, wird verhaftet und nach geltendem Recht behandelt werden, was immer wir ab morgen als geltendes Recht festlegen.« Lucien lächelte und schlug seinem Bruder auf die Schulter. »Du kannst beruhigt schlafen, Napoleon. Wir haben alles erreicht, was wir erreichen wollten. Die morgige Abstimmung ist nur noch eine Formsache.«

»Hoffentlich«, erwiderte Napoleon, während die letzten Senatoren den Saal verließen. Manche drehten sich mit einem nervösen Gesichtsausdruck zu ihm um, manche mit einem trotzigen Blick.

Am nächsten Tag verzögerten sich die Debatten in St. Cloud, weil die als behelfsmäßige Sitzungsräume vorgesehenen Säle noch nicht ganz fertig waren, und die Abgeordneten und Senatoren spazierten in kleinen Gruppen durch die Außenanlagen und unterhielten sich leise unter den Augen der Grenadiere, die das Gebäude bewachten. Lucien und Napoleon beobachteten sie von einem Balkon oberhalb des Gartens.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Lucien leise. »Die Verzögerung gibt den Jakobinern Gelegenheit, sich zu organisieren. Sie könnten uns in der Abgeordnetenkammer Schwierigkeiten machen.«

»Aber du bist der Präsident der Kammer«, sagte Napoleon. »Du kannst die Debatte lenken und dafür sorgen, dass sie in unserem Sinne verläuft.«

»Ich werde natürlich tun, was ich kann, aber die Entscheidung wird knapp. Ich halte es für das Beste, wenn du heute nicht in Erscheinung trittst. Dieser Haufen hat mehr Mumm als der Senat und wird sich von deiner Anwesenheit nicht so leicht beeindrucken lassen.«

Sobald die Säle vorbereitet waren, schoben Lucien und seine Anhänger die Deputierten hinein, und als alle ihre Plätze einnahmen, wurde deutlich, dass viele ihn offen feindselig ansahen. Als der Letzte auf seinem Platz war, wurden die Türen geschlossen, und Napoleon gesellte sich zu den Offizieren und Soldaten, die im Hof von St. Cloud warteten. Nach dem Beginn der Debatte drang gelegentlich Beifall oder wütendes Protestgeschrei zu den Wartenden hinaus, und Napoleon lief nervös auf den Pflastersteinen auf und ab, die den langen Zierbrunnen einrahmten. Zur Mittagszeit ritt Junot in den Hof und stieg ab. Er marschierte zu Napoleon.

»Was gibt es Neues, Monsieur?«

»Nichts! Sie sitzen da drin auf ihren fetten Juristenärschen und reden und reden. Himmel! Es ist ein Wunder, dass die Regierung überhaupt je zu Entscheidungen kommt.« Er schüttelte den Kopf. »Und in Paris, Junot? Wie ist die Reaktion auf den Straßen?«

»Recht friedfertig. Gerüchte machen die Runde, aber das ist alles. Wir kontrollieren alle Straßen um die Tuilerien und die Nationalversammlung. Es wird keinen Protest oder Aufstand geben, mit dem wir nicht fertig werden.«

»Gut … Das ist immerhin etwas.« Napoleon blickte in Richtung des Saals, in dem die Deputierten untergebracht waren, und schlug sich mit der Hand verärgert gegen den Oberschenkel. »Verdammt nochmal, warum können sie nicht einfach abstimmen?«

Junot schwieg einen Moment, dann sah er sich um, ob sie auch niemand hören konnte, und sagte mit leiser Stimme: »Sir, darf ich fragen, wie die Befehle lauten, wenn die Abstimmung nicht in unserem Sinn ausfällt?«

Napoleon sah ihn an. »Sie wird in unserem Sinn ausfallen.«

»Aber was, wenn doch nicht? Was dann?«

»Ich sage Ihnen, sie wird es tun, und ich werde auf der Stelle dafür sorgen.« Napoleon wandte sich an die nächststehende Gruppe von Grenadieren, die sich leise unterhielten, während sie ihre Pfeifen pafften. »Ihr Männer, nehmt Aufstellung! Ihr seid meine Eskorte in den Plenarsaal, also macht eure Pfeifen aus und putzt euch ein bisschen heraus.«

»Was haben Sie vor, Monsieur?«, murmelte Junot.

»Es ist an der Zeit, dass ich selbst zu unseren verehrten Abgeordneten spreche und ein paar Dinge klarstelle.«

»Ist das wirklich klug, Monsieur?«, fragte Junot ängstlich. »Wenn Sie eingreifen, wird man Sie in den Straßen von Paris als Tyrann beschimpfen, noch ehe der Tag um ist.«

»Besser das, als von diesen Dummköpfen alles ruinieren zu lassen, was wir bisher erreicht haben.« Napoleon drehte sich zu dem Trupp Soldaten um, die sich hinter ihm formiert hatten, und schnippte mit den Fingern. »Folgt mir!«

Er führte sie in das Gebäude und die Treppe zum Sitzungssaal hinauf. Zwei Männer der Nationalgarde standen vor der Tür und versperrten Napoleon mit unsicheren Bewegungen den Zugang.

»Aus dem Weg!«

»General, Sie dürfen nicht eintreten. Die Kammer hält eine geschlossene Sitzung ab.«

»Dann wird es Zeit, dass wir die Debatte eröffnen«, erwiderte Napoleon und schob die Männer zur Seite. Sie waren zu verdutzt, um zu reagieren, als er die Griffe packte und die Türen so heftig aufstieß, dass sie gegen den Türstock krachten. In dem Ballsaal wandten sich Hunderte von Gesichtern dem Eingang zu. Lucien, der auf einem Podest an einem langen Tisch saß, funkelte seinen Bruder zornig an. Der Sprecher am Rednerpult zeigte auf Napoleon. »Was hat dieses Eindringen zu bedeuten, General Bonaparte? Warum sind Soldaten bei Ihnen?«

Napoleon achtete nicht auf den Redner, als er in den Raum marschierte und seinen Soldaten bedeutete, neben dem Podium Aufstellung zu nehmen, auf dem das Rednerpult stand. Er wandte sich an Lucien. »Ich bitte um die Erlaubnis, zu der Versammlung zu sprechen.«

Lucien sah sich im Saal um. Die meisten Deputierten schienen so überrumpelt zu sein, dass sie zu keinerlei Reaktion fähig waren. Mehrere Jakobiner sprachen leise untereinander, während sie feindselige Blicke in Richtung seines Bruders warfen. Wenn er Napoleon die Möglichkeit zu sprechen verweigerte, würde sein Bruder die Kammer gedemütigt verlassen. Lucien hatte keine Wahl. Er räusperte sich.

»Die Versammlung erteilt General Bonaparte das Wort und wird ihn anhören.«

Napoleon neigte den Kopf. »Danke, Herr Präsident.« Er stieg die drei Stufen zum Podest hinauf und ging zum Rednerpult. Der vorherige Redner stand noch dort, und Napoleon wies zu der Treppe auf der anderen Seite des Podests. »Gehen Sie an Ihren Platz zurück … bitte.«

Einen Moment lang fürchtete Napoleon, der Mann könnte sich weigern, das Rednerpult zu räumen, aber dann zog er sich zur Treppe zurück, worauf eine Welle von Flüstern und geraunten Zornesbekundungen durch den Saal ging. Lucien schlug mehrmals mit seinem Hammer, bis Ruhe einkehrte. Als alles still war, umklammerte Napoleon das Rednerpult und sah über die ängstlichen weißen Gesichter hinweg, die ihn wie ein Feld aus Tennisbällen umringten. Er wurde von Verachtung für diese Männer durchflutet, die auf ihren fetten Ärschen saßen, während er und seine Leute für Frankreich marschierten und bluteten. Er holte Luft und hob an.

»Bürger, meine Soldaten und ich warten seit mehr als drei Stunden auf eine Entscheidung. Ich … wir können den Grund für diese Verzögerung nicht verstehen. Noch wird Frankreich ihn verstehen.«

Ein Mann in der ersten Reihe links vom Podium sprang auf und stieß Napoleon den Zeigefinger entgegen. »Sie sprechen nicht für Frankreich! Sie sind Soldat, ein Untergebener des Staats. Wir sind die Stimme Frankreichs!«

Zustimmende Rufe brandeten durch den Saal, und Lucien schlug wütend mit seinem Hammer, bis wieder Ruhe einkehrte. »Ich bin mir sicher, General Bonaparte weiß um die Autorität der Abgeordnetenversammlung. Er wird nicht mehr daran erinnert werden müssen. Weiter bitte, General.«

Napoleon warf dem Deputierten, der ihn unterbrochen hatte, einen vernichtenden Blick zu und fuhr fort. »Jeder Mann in diesem Raum, vom Präsidenten der Kammer bis hinunter zum jüngsten meiner Grenadiere dort, spricht für Frankreich und wünscht sich nur, dass es seine Feinde besiegen und das Los seiner Menschen verbessern möge. Damit das geschieht, muss sich etwas ändern. Das wurde gestern von den Direktoren und den Mitgliedern des Senats akzeptiert. Alles, was noch zu tun bleibt, ist, dass diese Kammer den Prozess abschließt, indem sie für die neue provisorische Regierung stimmt.« Er stieß den Arm vor und zeigte anklagend auf sein Publikum. »Wenn Sie es nicht fertigbringen, das zu tun, und zwar auf der Stelle, dann lassen Sie Ihr Volk und Frankreich selbst im Stich.«

Der Deputierte sprang erneut auf und trat mehrere Schritte auf das Podium zu. »Was fällt Ihnen ein, in dieser Weise zum Haus zu sprechen!«

Weitere Protestschreie hallten durch den Saal, und mehrere Jakobiner standen auf und schüttelten die Fäuste. Napoleon betrachtete sie mit kühler Miene und verschränkte die Arme, während er darauf wartete, dass sie wieder verstummten und Lucien hektisch mit seinem Hammer auf den Tisch schlug. Doch der Tumult wuchs nur an, und bald waren fast alle Abgeordneten auf den Beinen und drängten zum Podium. Der Sergeant, der die Grenadiere anführte, warf einen Blick zu Napoleon und wartete auf Befehle. Zum ersten Mal spürte Napoleon ein ängstliches Kribbeln im Bauch, und er nickte dem Sergeanten zu und deutete zur Vorderseite des Podiums. Der Sergeant bellte einen Befehl, und seine Männer schoben sich durch die Menge, bis sie einen Kordon zwischen Napoleon und den Abgeordneten bildeten. Lucien gab den Versuch auf, die Ordnung wiederherzustellen, und eilte zu seinem Bruder.

»Wir müssen raus hier, sofort.«

»Ich fürchte mich nicht vor diesen Narren.«

Lucien packte ihn am Arm und zischte: »Der Narr hier bist du. Deinetwegen laufen wir Gefahr, alles zu verlieren. Jetzt lass uns gehen, bevor sie uns in Stücke reißen.«

Napoleon warf einen Blick zu den Deputierten zurück und sah, dass mehrere von ihnen Messer gezogen hatten und mit wutverzerrtem Gesicht über dem Kopf schwenkten. Ihr zorniges Protestgeschrei drang von allen Seiten auf ihn ein. Er sah Lucien an und nickte. »Gehen wir.«

Es kostete Mühe, ruhig zum Rand des Podiums zu gehen und hinunterzusteigen. Die Grenadiere stießen die Menge mit ihren Musketen zurück und schufen eine schmale Gasse für die beiden Brüder, durch die sie dem Ausgang zustrebten. Napoleon blickte starr geradeaus und sah nicht zu den wütenden Gesichtern, die ihn aus kurzer Entfernung anschrien. Er spürte etwas an seiner Wange, und als ihm klar wurde, dass ihn jemand bespuckt hatte, blieb er abrupt stehen, doch Lucien packte ihn am Arm und schob ihn Richtung Tür. »Geh weiter!«

Sie verfolgten ihn, bis er den Saal verlassen hatte, und die Angeordneten gaben erst auf, als Napoleon, Lucien und ihre Eskorte die Treppe hinabeilten. Schwer mitgenommen erreichten die beiden Brüder den Hof, wo sich Hunderte weitere Soldaten und Offiziere als Reaktion auf das ohrenbetäubende Protestgeheul aus der Abgeordnetenkammer versammelt hatten. Sie sahen ihren Befehlshaber erschrocken an, und Lucien zischte ihm zu:

»Sprich zu ihnen! Sag etwas, schnell!«

»Was soll ich sagen?«

»Napoleon, um Himmels willen, in den nächsten Minuten entscheidet sich alles. Die Debatte haben wir verloren. Jetzt müssen wir Gewalt anwenden. Die Männer warten auf deine Führung, und du solltest sie augenblicklich übernehmen, sonst ist alles aus.«

Er gab seinem älteren Bruder einen sanften Schubs, und Napoleon trat an den Rand der Treppe, die in den Hof hinunterführte. Dann holte er tief Luft und stieß den Arm vor.

»Soldaten! Man hat uns betrogen! Die Abgeordneten haben sich dem Willen des Direktoriums, der Senatoren und des französischen Volks widersetzt! Sie versuchen, ihre Loyalität an unsere Feinde zu verkaufen. Gerade eben haben sie sogar versucht, den Präsidenten der Kammer und mich zu ermorden. Ich wollte zu den Abgeordneten sprechen, und sie haben mir mit Dolchen geantwortet!« Napoleon schlug sich mit der Faust an die Brust. »Ich habe der Revolution von Anfang an gedient. Ich habe mein Blut auf dem Schlachtfeld für die Revolution vergossen, und ihr alle wisst, wie viele Siege ich zur Ehre Frankreichs errungen habe. Und doch nennen sie mich einen Verräter! Sie sind die Verräter! Die Krise ist da, Kameraden. Wenn wir jetzt zögern, ist ganz Frankreich verloren! Wir müssen dieses Nest von Verrätern säubern!« Er stieß den Zeigefinger in Richtung Debattensaal, und viele der Soldaten jubelten.

Lucien bemerkte, dass eine ganze Reihe von ihnen noch nicht überzeugt zu sein schien. Er trat vor, zog Napoleons Säbel und hielt ihn in die Höhe. »Soldaten! Soldaten, hört mich an. Ich bin Lucien Bonaparte, der Bruder des Generals. Ich liebe ihn wie mein eigenes Leben, aber ich schwöre euch, ich würde ihn mit dieser Klinge durchstoßen, wenn er je die Freiheit in Gefahr bringen würde, die wir durch die Revolution gewonnen haben!« Seine Stimme zitterte vor Erregung, und die Männer im Hof waren sichtlich gerührt von seinen Worten. Lucien machte weiter Druck. »Die Revolution ist in ernster Gefahr, Soldaten. Die Royalisten stehen kurz vor dem Sieg. Nur wir können sie aufhalten. Einmal mehr heißt es: Zu den Waffen! Lang lebe General Bonaparte! Lang lebe die Revolution! Lang lebe Frankreich!«

Die Soldaten nahmen die Schlachtrufe auf, und ihr ohrenbetäubendes Gebrüll erfüllte den Hof. Unterdessen machte Napoleon den befehlshabenden Offizier der Grenadiere ausfindig und erteilte eilig seine Befehle. Die Männer formierten sich schnell und stapften zum Klang einer Trommel in das Gebäude und die Treppe hinauf zum Plenarsaal. Die Abgeordneten, die eifrig dabei waren, über einen Antrag zur Ächtung Napoleons zu debattieren, drehten sich bei dem Geräusch nervös um. Als die Soldaten die Türen aufrissen, ergriff sie Panik, und sie liefen aus dem Saal, stießen Stühle um und rannten sich gegenseitig über den Haufen, während sie zu den anderen Eingängen und selbst zu den Fenstern hasteten, um aus St. Cloud zu verschwinden.

Nur eine Handvoll Männer blieb. Diese waren die treuesten Unterstützer Luciens und seines Bruders. Als die Nacht hereinbrach, kehrte der Präsident in die Kammer zurück. Er blickte auf die Reihen umgekippter Stühle und die zurückgelassenen Unterlagen und Schreibblöcke. Dann nahm er ruhig wieder auf dem Podium Platz. Eine Kompanie Grenadiere bewachte die Eingänge; sie hatten Befehl, niemanden in den Saal zu lassen. Lucien hatte ein Schriftstück vorbereitet, das er der Handvoll Abgeordneten vor ihm jetzt vorlas.

»Dem Haus liegt der Antrag vor, die Entscheidung der Direktoren und Senatoren der Republik zur Auflösung der Regierung zu billigen. Bis zum Entwurf einer neuen Verfassung wird eine provisorische Körperschaft die Regierungsgeschäfte führen.« Er blickte auf. »Wer ist dafür?« Seine Worte hallten hohl durch den leeren Saal, während seine Unterstützer die Hand hoben. Es gab eine kurze Pause, dann lächelte Lucien. »Der Antrag ist einstimmig angenommen.« Er schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. »Ich erkläre diese Sitzung für geschlossen und das Haus für aufgelöst. Besten Dank, meine Herren. Die Dankbarkeit der Nation ist Ihnen gewiss.«

Lucien war der Letzte, der den Saal verließ, und er hielt inne und sah sich noch einmal um, ehe er seinen Bruder suchen ging, der mit den übrigen ranghohen Offizieren sowie Sieyès und Ducos in einem der Empfangszimmer wartete.

»Es ist geschafft«, verkündete er schlicht. »Alle Regierungsgewalt liegt nun in den Händen des provisorischen Konsulats.« Er beugte das Haupt vor Sieyès und Ducos. »Darf ich der Erste sein, der Ihnen seine Glückwünsche ausspricht?«

Dann wandte er sich an Napoleon. »Erster Konsul, wie lauten Ihre Befehle?«

52

Moreau?« Napoleon ließ sich tiefer in sein Bad sinken, sodass ihm das Wasser über das Kinn schwappte. Er schüttelte den Kopf. »Und was hat mir General Moreau heute mitzuteilen?«

Bourrienne brach das Siegel auf und entfaltete den Brief. Er hielt ihn vorsichtig so, dass der Schweiß, der auf seiner Stirn glänzte, nicht auf das Papier tropfte und die Tinte zerlaufen ließ. Der Dampf, der das Badezimmer von Napoleons Wohnung im Palais Luxembourg erfüllte, war bereits schlimm genug für die Dokumente, die Bourrienne dem Ersten Konsul vorlesen musste, während Napoleon bis zu zwei Stunden im heißesten Wasser eingetaucht blieb, das er aushielt. Eigentümliche Arbeitsbedingungen, dachte Bourrienne für sich, aber Napoleon war eben auch ein eigentümlicher Mensch. Seit das Plebiszit im Dezember die Unterstützung des Volks für die neue Verfassung bestätigt hatte, hatte Napoleon die Arbeitslast fast jeder großen staatlichen Behörde an sich gezogen. Der Erste Konsul arbeitete siebzehn, achtzehn Stunden am Tag, und keine noch so kleine Einzelheit schien seinem phänomenalen Gedächtnis je zu entfallen. Nachdem ein solcher Verstand für die Angelegenheiten Frankreichs zuständig war, hatten sich die beiden anderen Konsuln schnell als überflüssig erwiesen. Nach einigen zögerlichen Versuchen, sich an Napoleons Seite zu behaupten, hatten Sieyès und Ducos das Unvermeidliche akzeptiert und ihre Posten im Zentrum der neuen Regierung geräumt. Doch nicht alle unterstützten Napoleons Aufstieg zur Macht. Viele Politiker und Armeeoffiziere hatten ihre Zweifel, was den unblutigen Staatsstreich im November anging, und keiner mehr als Moreau.

In den Wochen danach war Napoleon darauf bedacht gewesen, seine Anhänger zu belohnen und mit seinen Rivalen Frieden zu schließen. Murat war zum Kommandeur der Konsulargarde ernannt worden – einem handverlesenen Korps aus kampferprobten Veteranen, deren Aufgabe es war, Napoleon zu beschützen. Murat hatte außerdem die Erlaubnis erhalten, Caroline Bonaparte zur Frau zu nehmen, und auch wenn Napoleon froh war, einen solch stattlichen Schwager zu bekommen, konnte er nicht umhin zu denken, dass Murat mit der streitsüchtigsten seiner Schwestern alle Hände voll zu tun haben würde. Fouché war nun Polizeichef und Talleyrand Außenminister. Masséna befehligte die Italienarmee, Berthier würde in Kürze Befehlshaber über die Reservearmee werden, und Moreau hatte das angesehenste Kommando von allen inne – die gut ausgestattete und hart kämpfende Rheinarmee. Und genau da lag Napoleons Hauptschwierigkeit.

Bourrienne überflog die Nachricht rasch. »Er kommt wieder auf Ihren Plan für den bevorstehenden Feldzug zu sprechen.«

Napoleon schwieg einen Moment lang, und seine Miene verfinsterte sich zusehends. Schließlich murmelte er: »Verdammt, was soll das? Wir müssen Österreich besiegen, und wir müssen es schnell besiegen. Zu diesem Zweck müssen wir seine Armeen vernichten und Wien einnehmen, bevor es Herbst wird. Jeder Dummkopf sieht das ein, nur Moreau nicht. Nein, er will vorwärtskriechen wie eine Schildkröte und sich in seinen Panzer zurückziehen, sobald er Gefahr wittert. Hurensohn …«

Bourrienne enthielt sich einer Bemerkung und wartete einen Moment, bevor er leise hustete. »Soll ich einen Brief an ihn zu Papier bringen, Monsieur?«

»Nein … Warten Sie.« Napoleons Kopf stieg ein wenig höher aus den Dampfschwaden über der Wasseroberfläche. »Er inspiziert gerade eine neue Kavallerieformation in der Nähe von Montmartre, richtig?«

»Ja, Monsieur.«

»Dann schicken Sie nach ihm. Ich werde ihn heute Abend hier treffen, zusammen mit Berthier und Talleyrand. Kümmern Sie sich unverzüglich darum.«

Bourrienne stand auf, sammelte seine Papiere ein und verbeugte sich. Er war enorm erleichtert, Napoleons feuchtheißes Badezimmer verlassen zu dürfen. Als er fast an der Tür war, hörte er ein Spritzen aus der randvollen Wanne, da Napoleon einen Arm hob. »Und schicken Sie Roustam herein. Es ist Zeit, dass ich hier raussteige und mich ankleide.«

»Ja, Monsieur.«

Als er wieder allein war, legte Napoleon die Hände aufs Gesicht und genoss das Gefühl des warmen Wassers auf den Augen. Er war müde. So müde wie noch nie, und eigentlich sollte er sich derart viel Müdigkeit gar nicht gestatten, überlegte er. In Wahrheit konnten die endlosen Schwierigkeiten, denen sich die Regierung gegenübersah, nur gelöst werden, wenn es Frieden mit England und Österreich gab. Aber das war unwahrscheinlicher denn je, jetzt, da die beiden Mächte sein Angebot zu Friedensgesprächen barsch zurückgewiesen hatten. Könnte dieser grässliche William Pitt doch nur das Interesse seines Volks über seine persönliche Abscheu vor Frankreich stellen, dann wäre Frieden vielleicht möglich. Darauf ließ jedoch kaum etwas hoffen, und so fand sich Napoleon mit der Aussicht ab, dass der englische Premierminister den Krieg immer weiter in die Länge zog und von der anderen Kanalseite Widerstand gegen Frankreich und Napoleon leistete. In der Zwischenzeit war Österreich der einzige Feind, mit dem Frankreich kämpfen und den es vernichten konnte. Deshalb war es Österreich, gegen das sich die ganze Wut der französischen Armee richten würde.

»Monsieur, Ihr Morgenrock.«

Napoleon blickte erschrocken auf. Wieder einmal hatte ihn seine intensive Beschäftigung mit Politik alles rings um ihn vergessen lassen, und Roustam war eingetreten, ohne dass er es wahrgenommen hatte. Er sah seinen Mameluken-Diener an und fragte sich, ob diese Blindheit für Lakaien etwas war, was geschah, wenn ein Mann zum Herrscher seines Landes wurde. Wenn ja, war es eine gefährliche Entwicklung, und Napoleon hatte nicht die Absicht, wie Marat zu enden. Er stand auf, stieg aus der Wanne und nahm den Morgenrock, den ihm Roustam entgegenstreckte.

»Wünschen Sie Frühstück, Monsieur?«

»Ja. Nein, warte. Ist meine Frau noch im Bett?«

»Ich glaube ja, Monsieur.«

»Dann werde ich später frühstücken. Du kannst gehen.«

Roustam verbeugte sich und entfernte sich rückwärts aus dem Raum. Napoleon rieb sich auf dem Weg zu seinen Schlafgemächern mit dem Morgenrock trocken. Er mochte Erster Konsul sein, aber seine Bedürfnisse waren dieselben wie bei jedem anderen jungen Mann.

Wie alle Mahlzeiten, an denen Napoleon teilnahm, wurde das Abendessen hastig verschlungen. Es widerstrebte dem Ersten Konsul, mehr Zeit als nötig zur Nahrungsaufnahme zu verwenden, vor allem, wenn dringende Angelegenheiten warteten. Die Diener räumten Teller, Schüsseln, Besteck und Gläser ab und zogen leise die Tür hinter sich zu, um die vier Männer sich selbst zu überlassen.

»Nun«, sagte Talleyrand und betupfte sich die Lippen mit der Serviette. »Das Essen war gut, soweit ich dazu kam, es zu kosten. Was ist nun also der Zweck dieses Treffens, Bürger Erster Konsul? Denn ich nehme an, wir wurden nicht nur eingeladen, um Ihre Gastfreundschaft zu genießen.«

Napoleon zwang sich zu einem Lächeln über das Betragen des Außenministers. Talleyrand verkörperte viel von dem, was Napoleon am alten Regime verachtete und zugleich bewunderte. Seine Manieren waren zu einer regelrechten Kunstform verfeinert, und mit seiner lässigen Art ließ er keinen Zweifel daran, dass er sich anderen Leuten überlegen fühlte. Sein trockener Witz ging Napoleon auf die Nerven, und doch: Wenn es je einen Mann gab, der für die Doppelzüngigkeit der diplomatischen Welt geboren war, dann Talleyrand, und deshalb war Napoleon froh, dass er das Amt angenommen hatte. Dennoch verabscheute er den Mann.

»Nein, in der Tat nicht. Und jetzt, da wir gegessen haben, ist es Zeit für eine Unterredung.« Napoleon wies mit einer Handbewegung rund um den Tisch. »Uns vieren fällt die Entscheidung zu, welche Richtung Frankreich in den kommenden Monaten einschlägt. Was braucht Frankreich?«

»Frieden«, sagte Talleyrand sofort. »Bürger Konsul, wenn Sie Ihre Macht über Frankreich zementieren wollen, dann müssen wir Frieden erlangen. Die Leute sind des Kriegs überdrüssig. Unsere Marine befindet sich in einem bedauernswerten Zustand, um das Heer steht es nicht viel besser, und die Staatskasse ist so gut wie leer. Wir müssen Frieden schließen, um die Errungenschaften der Revolution zu festigen.«

»Ich habe versucht, Frieden zu schließen«, sagte Napoleon müde. »Sie wissen, was mir die Engländer in ihrer Antwort geschrieben haben: ›Frieden ist unmöglich mit einer Nation, die gegen jede Ordnung, Religion und Moral ist.‹« Er schüttelte den Kopf. »Solange das ihre Haltung ist, kann es nur Krieg zwischen uns geben, und wir können uns sicher sein, dass England weiter jedes Land subventioniert, das sich gegen uns stellt.«

Talleyrand lächelte. »Es scheint, als seien die Engländer bereit, bis zum letzten Österreicher zu kämpfen.«

»Richtig.« Verärgert über die Unterbrechung fuhr Napoleon fort. »Und solange ihre Marine die Meere beherrscht, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Österreicher richten. Welche realistische Aussicht besteht auf Frieden mit Österreich?«

Talleyrand schwieg einen Moment und dachte über die Frage nach. Dann zuckte er mit den Achseln. »Keine sehr große. Sie wollen die Gebiete unbedingt behalten, die sie gegenwärtig in Italien besetzen, und sie möchten, dass Frankreich die Niederlande aufgibt. Wir würden nur Frieden bekommen, wenn wir beiden Forderungen zustimmen.« Er sah Napoleon prüfend an. »Wenn Sie es ernst meinen mit dem Frieden, dann können Sie ihre Forderungen natürlich erfüllen.«

»Nein!« Moreau schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das wäre eine Beleidigung für Frankreich und unsere Armeen. Ich würde es nicht dulden, und das sollten Sie ebenfalls nicht tun.« Er sprach Napoleon direkt an. »Wenn wir so viel Zugeständnisse machten, wären die Leute außer sich. Angesichts der schlechten Stimmung, die im Moment im Volk herrscht, könnte eine diplomatische Kehrtwendung von diesem Ausmaß sogar einen weiteren Staatsstreich auslösen.«

»Das wäre möglich«, räumte Talleyrand ein. »Und es würde wahrscheinlich damit enden, dass ein anderer General die Macht übernimmt, und wir wären wieder dort, wo wir angefangen haben.« Er hielt inne. »Wer wäre wohl dieser General im unwahrscheinlichen Fall eines Staatsstreichs?«

»Danke, Talleyrand«, unterbrach Napoleon. »Ich denke, wir sind uns einig. Es kann keinen Kompromiss mit Österreich geben, und der Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden. In diesem Fall ist es an der Zeit, zu überlegen, mit welchen Mitteln sich das erreichen lässt. Berthier, die Karte.«

Berthier stand auf und ging zu einer Schubladenkommode. Er entnahm ihr eine große Karte und kehrte an den Tisch zurück, wo er sie zwischen den vier Männern ausbreitete. Sie blickten auf eine detaillierte Darstellung Mitteleuropas. Talleyrands waches Auge nahm sofort die vorläufige Anordnung der Streitkräfte wahr, die Berthier eingezeichnet hatte.

»Ich sehe jetzt, dass dieses Treffen nicht stattfindet, um unseren Rat einzuholen, sondern um uns Befehle zu erteilen, Bürger Konsul.«

Ein Ausdruck der Missbilligung huschte über Napoleons Gesicht. »Ich schätze zwar die Meinung meiner … Kollegen, aber jetzt ist die Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Also zur Sache.« Er tippte auf die Karte. »Trotz der jüngsten Rückschläge in Italien und Deutschland sind wir dank unserer Besetzung der Schweiz in einer guten Position, den Krieg zu unseren Gunsten zu beenden. Sie alle wissen, dass sich eine neue Armee rund um Dijon sammelt – die Reservearmee. Ich werden in den nächsten Tagen bekanntgeben, dass Berthier ihr Kommandeur werden soll.«

Berthier nickte nur, da er bereits über die Ernennung unterrichtet war.

»Wer wird ihn als Kriegsminister ersetzen?«, fragte Moreau.

»Carnot.«

»Carnot? Ich dachte, der sei in Ungnade gefallen.«

Talleyrand lächelte. »Natürlich. Das macht ihn so geeignet für die Aufgabe. Er wird keine Bedrohung für das neue Regime sein, vor allen Dingen, wenn …« Er sah Napoleon forschend an. »Das bedeutet vermutlich, Sie selbst werden gegen Österreich ins Feld ziehen.«

Moreau schüttelte den Kopf. »Das verbietet die neue Verfassung. Der Erste Konsul darf kein Armeekommando innehaben.«

»Das ist richtig«, stimmte Napoleon zu. »Ich werde Berthier lediglich in der Rolle eines Beraters begleiten. Er führt das Kommando über die Reservearmee.«

»Oder wenigstens wird es dem französischen Volk so verkauft«, sagte Talleyrand. Er nickte in Anerkennung von Napoleons geschickter Umgehung der neuen Regeln.

»Es war naheliegend«, erwiderte Napoleon unumwunden. »Ich sollte Paris gefahrlos für einige Monate verlassen können. Das Volk wird dem neuen Regime für eine Weile die Treue halten.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Talleyrand. »Fouché ist fleißig dabei, die Zeitungen zu zensieren, und ich höre, bald müssen alle Theaterbetreiber ihre Stücke ebenfalls von ihm genehmigen lassen. In der Zwischenzeit arbeitet Ihr Bruder Lucien hart daran, patriotische Lieder und Denkmäler für die ruhmreichen Toten in Auftrag zu geben.«

»Ihr Zynismus ist unangebracht«, erwiderte Moreau kalt. »Was Sie auch denken mögen, die Toten haben ihr Leben für Frankreich geopfert, und das ist mehr, als Sie getan haben, Bürger.«

Talleyrand zuckte mit den Achseln. »Ich habe mein Leben dem Dienst an meinem Land gewidmet. Das ist mein Opfer.«

Moreau schnaubte höhnisch. »Was weiß ein Zivilist von Opfern?«

»Kannten Danton, Desmoulins und Robespierre denn nicht die Bedeutung eines Opfers?«, antwortete Talleyrand mit eisiger Ruhe.

»Meine Herren!« Napoleon hob die Hand. »Das genügt. Wir haben keine Zeit für solche kleinlichen Auseinandersetzungen. Jetzt also zu den Einzelheiten. Der Plan wurde vor Weihnachten an die obersten Armeekommandeure weitergeleitet. Nach meiner Absicht sollte General Moreaus Rheinarmee den Hauptschlag führen. Um das zu erreichen, sollte sie mit einem ihrer Korps die österreichische Armee im Gebiet des Schwarzwalds binden, während die drei übrigen Korps bei Schaffhausen den Rhein überqueren, die feindliche Flanke umgehen und den Österreichern in den Rücken fallen sollten.«

»Das hört sich nach einem realistischen Plan an.« Talleyrand zog die schmalen Augenbrauen in die Höhe. »Warum also die Vergangenheitsform?«

»Weil General Moreau auf – seiner Ansicht nach – nicht vertretbare Risiken in diesem ursprünglichen Plan hingewiesen hat«, antwortete Napoleon ruhig, »Wenn Sie so freundlich wären, Moreau.«

»In der Tat.« Moreau stand auf und beugte sich über die Karte. »Es ist ein kühner Plan, Bonaparte, das gestehe ich Ihnen zu. Aber er ist zu kühn. In Schaffhausen ist nicht genügend Platz, um mit drei Korps zu manövrieren. Davon abgesehen, wenn der Feind von dem Plan Wind bekommt, könnten sie meine Armee der Reihe nach in ihren Einzelteilen schlagen.«

»Vorausgesetzt, sie können schnell genug marschieren.«

»Es ist trotzdem ein beträchtliches Risiko«, ließ Moreau nicht locker. »Bei allem Respekt für Bonapartes Plan – meiner Ansicht nach wäre es klüger, auf breiter Front am Nordufer des Rheins vorzurücken. Und genau das werde ich tun«, schloss Moreau und setzte sich wieder.

»Danke, General.« Napoleon lächelte. »Ich bin überzeugt, es ist klug von Ihnen, vorsichtig zu sein, wenn man bedenkt, dass Sie die weitaus größte und beste unserer Feldarmeen befehligen. Folgerichtig habe ich die Feldzugspläne abgeändert, und der Hauptschlag wird nun nicht mehr in Deutschland geführt, sondern in Italien. Meine Herren, ich beabsichtige, die Reservearmee in die Schweiz vorrücken zu lassen, und wenn sie vollständig ausgerüstet und mit Proviant versorgt ist, wird sie sich spätestens Ende April nach Süden wenden, die Alpen überqueren und hinter der österreichischen Armee unter General Melas durchbrechen, sodass der Feind zwischen den Kräften von Masséna und Berthier eingezwängt sein wird.«

»Die Alpen im Mai überqueren?« Moreau schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Die Pässe werden immer noch von Schnee und Eis bedeckt sein. Es wäre unmöglich, die Geschütze über die Berge zu schaffen, und was ist mit der Lawinengefahr? Es wäre der Gipfel der Torheit, es zu versuchen.«

»Die Österreicher würden niemals damit rechnen«, erwiderte Napoleon. »Deshalb muss es geschehen. Und deshalb wird es geschehen. Deshalb werden wir sie entscheidend schlagen.«

Moreau schwieg einen Moment lang. »Ich kann diesem Plan nicht zustimmen.«

»Ich glaube nicht, dass Sie jemand darum gebeten hat«, sagte Talleyrand, und Moreau sah ihn zornig an.

»Nun, das ist jedenfalls der Plan.« Napoleon tippte auf die Karte. »Er wird zielstrebig umgesetzt, und ich muss Sie bitten, Lecourbes Division abzutreten, damit sie Berthier verstärkt, sobald wir eine Route über die Alpen eröffnen.«

Moreau dachte darüber nach. »Lecourbe kommandiert eine meiner besten Divisionen.«

»Genau deshalb brauche ich sie.«

»Natürlich.« Moreau nickte. »Ich werde Berthier verstärken, wie Sie vorschlagen. Wenn Sie einverstanden sind, Bonaparte, muss ich jetzt gehen. Ich muss bei Tagesanbruch zu meiner Armee aufbrechen. Ich werde sie beachrichtigen, sobald ich meinen Feldzug beginne.«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden, General.«

Die kleine Versammlung löste sich auf, und Talleyrand benutzte die Gelegenheit, sich zusammen mit Moreau zu verabschieden. Nachdem sie gegangen waren, blickte Berthier auf die Tür, die sich hinter ihnen geschlossen hatte.

»Ich traue diesen beiden nicht.«

»Ich genauso wenig«, pflichtete ihm Napoleon bei. »Aber ich brauche sie beide, und ich wage es nicht, mir Moreau zum Feind zu machen. Nicht, bevor jedem französischen Soldaten klar ist, wer von uns beiden der Herr im Haus ist. Deshalb muss ich diesen Feldzug gewinnen, Berthier. Wenn ich verliere, werfen mich die beiden den Wölfen zum Fraß vor.«