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Ich habe es mir anders überlegt. Das Märchengarn, das ich gesponnen habe, möchte ich mit eigenen Augen sehen, möchte wissen, in wessen Arme ich Cyrus geschickt habe.

Und ich muss aus diesem verdammten Labyrinth herausfinden.

Ich folge Cyrus zurück zum Palast. Den gesamten Weg dorthin ignoriert er mich. Der Lärm im Ballsaal ist verklungen. Die Menschen sind betrunken und schläfrig. Selbst die Schar um die goldenen Füchse ist kleiner geworden.

Schockiertes Keuchen sprudelt durch die Menge, als der Prinz sich seinen Weg durch sie hindurchbahnt: Ein Biest ist Furcht einflößend, selbst wenn es nur ein Kostüm und die mit Rosen verzierte Maske so schön wie ihr Träger ist. Er fordert die Schicksale heraus, aber vielleicht ist es genau das, was er will.

Ich sehe das Mädchen noch nicht, will mir gerade einen besseren Aussichtspunkt suchen, als ich in meinem Hinterkopf ein Gefühl wahrnehme. Ich drehe mich zum Eingang des Ballsaals.

Unter dem Bogen einer Statue zweier Schicksale steht eine einzelne Silhouette. Ich erinnere mich nicht, sie zuvor gesehen zu haben.

Das Mädchen tritt aus dem Schatten. Eine Schmetterlingsmaske verbirgt die Hälfte seines Gesichts, die übrigen Züge sind so grazil wie von Meisterhand gefertigt – wie die einer kostbaren Puppe aus Porzellan. Ihr Kleid ist von der Art, die aus Kindheitsträumen und dem Neid Erwachsener gemacht ist. Der frühlingsgrüne Stoff, der den Anschein erweckt, sie sei dem Feenwald entsprungen, verliert Blüten und Blätter, die sich herbstgold verfärben und dabei in schimmerndem Dunst auflösen. Ein Fülle goldener Feenglöckchen fällt zu Boden.

Eigentlich müsste es kitschig wirken. Selbst Camilla würde dieses Kleid als übertrieben bezeichnen. Doch das Mädchen sieht wunderschön aus und ich verstehe nicht wieso. Anders als die vom Schicksal auserwählte Partnerin eines Prinzen oder zumindest irgendjemandes Auserwählte kann ich sie nicht beschreiben.

Sie ist es. Sie muss es sein.

Ein Kopf nach dem anderen dreht sich ihr zu. Ein süßer Duft durchströmt die Luft. Am Rand der Menge sehe ich den Prinzen mit seiner Biestmaske stehen. Er steht reglos da wie ein Hirsch und ist völlig hingerissen. Was für ein Paar sie abgeben: der rosengehörnte Prinz und seine feengesegnete Braut.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass mir Camilla zuwinkt. Doch ich kann meinen Blick noch nicht abwenden. Ich muss sehen, wie das Märchen endet.

Acht Verehrer in Fuchsmasken gehen auf das Mädchen zu, strecken ihr jeweils eine Hand entgegen und fragen zeitgleich: »Darf ich um den ersten Tanz bitten?« Niemand stellt sich ihnen in den Weg, vermutlich beneidet jeder die Füchse mehr als das Mädchen.

Es mustert die Füchse. Ein kollektiver Atemzug erwartet ihre Wahl: Wird sie die richtige treffen?

»Ich möchte mit ihm tanzen.« Sie deutet mit dem Finger an den Füchsen vorbei. Auf das Biest.

Ein Raunen wogt durch den Saal. Wer noch nüchtern ist, durchschaut nun langsam den Trick mit den Füchsen. Der echte Prinz Cyrus nimmt zögerlich ihre Hand, als sei er völlig überwältigt, dass sie wirklich existiert – für ihn existiert, soweit er glaubt – und dass endlich einmal eine Zukunft eintrifft, die ihm vorhergesagt wurde.

Die Musik setzt wieder ein. Im Handumdrehen umringt die Menge das Paar und ich kann nur noch Cyrus’ gläserne Hörner sehen.

Jemand packt mich am Handgelenk.

Ich stolpere und wirbele herum. Ein Furcht einflößender Pfau starrt mich mit erhobener Hand an. »Camilla?«

»Wer ist die Schönste in diesem Saal?«, donnert sie. Eine spitze Stecknadel blitzt in ihrer Hand und sie ist bereit, sie jederzeit herabschnellen zu lassen.

»Was …«

»Antworte mir oder ich steche zu!«

»D… Du!«, antworte ich hastig und weiche zurück. »Hast du noch alle Kröten beisammen?«

Mit geblähten Nasenflügeln lässt sie die Nadel sinken. »Das Mädchen in dem grünen Kleid, auf ihr liegen mehr Zauber als auf einer Kürbiskutsche. Ich glaube, sie ist eine Hexe oder … oder … ich weiß es nicht.« Sie schnappt sich meinen Arm und zieht mich zu den Stufen, die zum oberen Treppenabsatz führen. Ihr Daumen blutet, hinterlässt einen langen Streifen an meinem Handgelenk und reißt mir ein Loch in den Ärmel.

»Pass auf! Du lässt meinen Zauber zerfließen.«

Camilla hört mir kaum zu, ihre Augen sind weiterhin auf die Tanzfläche gerichtet, wo ihr Bruder sich vor dem mysteriösen Mädchen verneigt. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich muss dieses Kleid von ihr runterbekommen.«

Bevor mir ein anzüglicher Witz herausrutschen kann, beiße ich mir auf die Zunge. »Camilla, hör auf.« Ich kann ihr genauso gut die Wahrheit sagen. Sie wird wohl ohnehin bald alles erfahren. Ich senke meine Stimme zu einem kaum hörbaren Zischen. »Dein Vater hat das alles klammheimlich arrangiert. Er hat dieses Mädchen schon vor einer Weile ausgewählt und mich angewiesen, Cyrus zu sagen, sie sei seine große Liebe.«

Sie blinzelt überrascht. »Wer ist sie?«

»Ich … Ich weiß es nicht.«

»Wenn die Feenmagie, die sie umgibt, mächtig genug ist, um das hier zu vollbringen, wer weiß, ob diese vollkommen Fremde dann nicht auch Vater verzaubert hat, um das Ganze einzufädeln.«

»Was meinst du mit das hier

»Der Bann, in den sie alle zieht. Der … zusätzliche Zauber.« Camilla schaut mich schief an, als sei ich das seltsamste Wesen im ganzen Saal. Sie schüttelt den Kopf. »Es hat kaum einen Einfluss auf dich, nicht wahr? Das hat Cyrus früher echt frustriert.«

Das wirft nur noch mehr Fragen auf. »Ich verstehe noch immer …«

»Sieh dir an, wie alle sie anhimmeln. Es ist genauso wie bei mir und meinem Bruder, nur viel, viel stärker.« Camilla schnippt die Finger vor dem Gesicht eines Kellners, dem gerade das mit Gläsern gefüllte Tablett zu entgleiten droht, als er das tanzende Paar angafft. Doch es macht keinen Unterschied. »Wir sind nicht zufällig so begehrenswert. Wir sind rund um die Uhr in Feenmagie gehüllt. Das verändert nicht unser Aussehen, verleiht uns aber einen gewissen Charme oder Charisma, wie auch immer du es nennen magst. Die Menschen können gar nicht anders, als uns anzusehen, sich ein wenig verführen zu lassen.«

Dieser ständige Rummel um Cyrus und wie die Zwillinge alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen , sobald einer von ihnen den Raum betritt. »Deshalb sind alle in euch verliebt.«

»Nun ja, ich brauche das natürlich nicht, um begehrenswert zu sein«, fügt Camilla schnell hinzu.

»Natürlich nicht«, versichere ich ihr.

»Der Zauber zeigt seine größte Wirkung bei denen, die uns ohnehin wohlgeneigt sind. Wenn also jemand Cyrus mag, dann mag diese Person ihn einfach besonders gerne. Alle drei Palastfeen sind nötig, um das zu vollbringen, was mein Bruder und ich haben. Das Mädchen dort strotzt nur so vor Magie. Ich habe mir, den Schicksalen sei gedankt, in den Finger gestochen, sobald ich es bemerkt habe.« Sie trommelt aufs Geländer. »Hmm, wie gehe ich am besten vor? … Wir müssen näher an sie ran. Genau, tanz mit mir!«

Camilla schubst mich die Treppe hinab und ich rudere mit den Armen, um mein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Im Gegensatz zu Dante ist die Prinzessin eine forsche Tanzpartnerin. Sie presst mich an ihre Brust, bevor ich überhaupt antworten kann. Ich protestiere, während sie meinen Arm in die Höhe reißt und mich in eine extravagante Pose zieht.

»Camilla …!«

»Sei still und konzentrier dich !« Mit unseren ineinander verschränkten Händen als Rammbock stürmt sie voran, um die Menge zu teilen. Camillas Fäden wirbeln durch meinen Geist.

Die Menge, die ihr bei der Verkündung des Maskenballs applaudiert .

Eine gläserne Kette mit einem Tropfen roter Flüssigkeit .

Unzählige Feiern erfüllt von leerem Gelächter, alle Blicke auf das Mädchen gerichtet, das an der Seite seines Bruders steht .

Im Hier und Jetzt würden sich die Zuschauer wohl gerade wundern, warum unversehens ein zweites Paar die Tanzfläche betritt, wenn nicht alle so vollkommen von Cyrus und dem Mädchen gefesselt wären. Camilla und ich wirbeln uns immer näher an sie heran, unsere Füße geraten so durcheinander, als wären wir völlig betrunken. Der Sternenhimmel aus Kerzen über uns dreht sich im Kreis und ich schaffe es doch tatsächlich, mir selbst ans Schienbein zu treten. Nicht einmal die verzauberten Schuhe können mich retten.

»Nur noch ein Stückchen näher. Wie schafft sie es, dass wirklich alle Blicke auf sie gerichtet sind? Ich habe noch nie so einen wirkungsvollen Zauber gesehen«, murmelt Camilla. »Flipp jetzt nicht aus, okay?«

»Ich bin schon längst dabei!«

Camilla zieht ein Messer aus der Tasche. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ritzt sie sich in die weiche Fingerkuppe ihres Daumens, bis ein roter Tropfen daraus hervorquillt. Dann schnappt sie sich von einem der Kellner, der am Rand der Menge steht, einen Wasserkrug und steckt ihre Hand hinein.

Wasser- und Bluttropfen rieseln auf mich herab. Mein Ärmel zerfließt und ich reiße mich los. »Was …«

Ich stolpere über die Schleppe des Mädchens. Allmählich wird sich Cyrus unserer Anwesenheit bewusst.

Camilla stürmt auf sie zu und übergießt sie mit dem Gemisch.

»Iiih! «

Die Maske des Mädchens fängt an zu schrumpeln und verschwindet. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, während rosafarbenes Wasser von ihrem Kinn tropft. Ich kann bereits sehen, wie ihr Kleid immer fadenscheiniger wird, das Grün immer blasser.

Cyrus stürzt auf Camilla zu, reißt ihr den Krug aus der Hand und hält ihre blutige Handfläche nach oben. »Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?«

Sie schubst ihn zurück. »Sie verzaubert dich …«

»Natürlich tut sie das! Sie ist meine wahre Liebe.«

»Nein, wortwörtlich , du Krötenhirn!«

»Sie entkommt!«, ruft jemand.

Die Türen des Ballsaals beben und das Mädchen stürmt hinaus. Ihr Kleid hinterlässt eine Spur aus Magie. Mein Bein fühlt sich nass an. Ich blicke an mir herab und meine Maske verrutscht. Ich schiebe sie zurück an ihren Platz.

Meine Zauber lösen sich ebenfalls gerade auf.

Eine Hand ergreift meine Schulter. Ich wirbele herum und Cyrus starrt mich wütend an.

»Immer bist du’s, nicht wahr?«, knurrt er.

»Ich hab nichts … es war Camilla …« Ich winde mich von ihm los, was einfacher ist als gedacht. Eine Mischung aus Magie und Wein scheint ihn noch zu benebeln. Ich stürze mich in die Menge und suche nach einem Versteck, doch der Andrang der Menschen, die dem Mädchen folgen wollen, zieht mich mit sich zum Ausgang.

Ich muss hier weg.

Also renne ich los, und zwar halb barfuß, als wäre ich wieder ein Straßenmädchen, weil einer meiner Schuhe dabei ist, sich aufzulösen.

Mein Kleid verwandelt sich in Fetzen, sodass meine Beine nun frei sind. Ich renne noch schneller.

Ich halte die Überreste meiner Maske umklammert und stürme in die Nacht. Feine Regentropfen rieseln vom Himmel und landen auf meinen Wimpern. Mein Blick verschwimmt. Bis auf die Silhouette des mysteriösen Mädchens, die sich vor den wirbelnden, hellen Lichtern der Stadt jenseits der Palasttore abzeichnet, kann ich kaum noch etwas sehen. Mit zusammengekniffenen Augen erkenne ich die leuchtenden Formen ihrer Feen. Eine, zwei … drei …

Es geschieht äußerst selten, dass sich mehrere Feen eines einzelnen Schützlings annehmen – was allerdings oft schlimmer ist, als nur eine zu haben. Zu zweit besitzen sie zwar doppelt so viel Magie, streiten aber auch mehr als zu helfen. Drei Feen auf einmal gibt es nur in Märchen. Der Palast hat auch drei Feen, doch diese werden mit einer beträchtlichen Menge Ambrosia gekauft und dienen allen Mitgliedern der Königsfamilie. Gerüchten zufolge war es wohl ein Albtraum, überhaupt drei zu finden, die bereit waren zusammenzuarbeiten, und es grenzte an ein wahres Wunder.

Der Besitz von mehr als drei Feen ist gänzlich unbekannt.

Hinter dem Mädchen befinden sich aber fünf.

Der Lärm der Massen brandet näher heran. Ich renne hinter das Pförtnerhaus und kauere mich in dessen Schatten. Als ich mich wieder umblicke, ist das Mädchen verschwunden und Cyrus steht dort, wo sie eben noch gestanden hat, und blickt in Richtung Stadt.

Er ruft nach seinen Wachen und einem Pferd. Minuten später reitet er durch das Tor hindurch, Dante und die Wachen an seiner Seite. Auch ein Großteil der Menschenmenge folgt ihnen.

In dem Tumult eile ich durch die Gärten zurück zu meinem Turm. Niemand folgt mir. Sobald ich in meinem Zimmer bin, streife ich die triefend nasse Seide ab und klettere noch ganz klamm ins Bett.

Erst in diesem Augenblick bemerke ich, dass ich auch den anderen Schuh verloren habe.