Die Ankündigung einer königlichen Verlobung sollte normalerweise mit viel Lärm einhergehen, in gleichem Maße gefeiert und verhöhnt werden. Doch niemand scheint mehr zu wissen, wie er sich verhalten soll, nachdem prophezeite Bestien ihren Prinzen und ihre Seherin mit Narben übersät haben. Seit dem Angriff kommen immer wieder Fremde auf mich zu, um sich für das Geschehene zu entschuldigen, meine Genesung zu feiern oder mir ihre Ängste zu offenbaren – ein Schmaus an übermäßig vertraulichen Gesten, auf die ich am liebsten gar nicht erst reagieren würde. Noch schlimmer ist allerdings, dass die Leute tatsächlich nett zu mir sind und dementsprechend ich ebenfalls nett sein muss.
Anstrengend ist das.
Ich könnte auf der Stelle umkippen, dabei stehe ich nur im Audienzsaal und halte meine eine Hand fest um ein nahezu leeres Weinglas geklammert, das ich zur Feier des Tages ein weiteres Mal auf das neue Paar erhebe.
Auf der Bühne steht die zukünftige Königin von Auveny und sieht so unbeholfen aus wie ein ausgestopfter Storch – weit entfernt von ihrer ätherischen Erscheinung beim Ball. Sie versinkt in einem monströsen Rüschenkleid, das vielleicht den modischen Standards der Saison entsprechen mag, ihr aber überhaupt nicht steht. Balicanische Kleidung ist meist lockerer und den milden Temperaturen dort angepasst. Wenn Raya jedoch hofft, akzeptiert zu werden, indem sie sich an die unpraktische hiesige Kleidung gewöhnt, dann ist das sicherlich ein Weg, das zu erreichen. Das auvenische Violett steht ihr gut, durch die satte Farbe erstrahlt ihr brauner Hautton. Feenglöckchen zieren ihr elegant geflochtenes Haar und ein hauchdünner Schleier aus Seide verhüllt ihr Gesicht.
Sie ist ungewöhnlich schweigsam, während Cyrus sie ausschweifend vorstellt. »Raya ist eine seltene Mischung aus großzügig und klug«, sagt er und nimmt ihre Hand. »Auf meiner Reise durch Balica haben wir uns nur flüchtig kennengelernt, doch selbst da bemerkte ich im Nu den Sog des Schicksals. Offensichtlich ging es ihr genauso, denn schließlich hat sie den weiten Weg zurückgelegt, nur um mich wiederzusehen.« Er lächelt und lehnt sich so dicht zu ihr herüber, dass sie beinah die Nasen aneinanderreiben könnten. Wie schnell er sich doch an derart Übelkeit erregende Lügen gewöhnt hat. »Wäre sie nicht von allein gekommen, hätte ich die Reise wahrscheinlich selbst angetreten.«
Jedes Mal, wenn Raya unruhig wird, höre ich aus den Reihen des Publikums ein weiteres skeptisches Husten. Blumige Reden halten Bestien nicht auf. Wir alle dachten, wir hätten Zeit, sie auf die Probe zu stellen und uns ein Urteil zu bilden, doch der Mantel der Prophezeiung liegt bereits auf ihren Schultern und jetzt sitzen wir mit einer Braut fest, die aussieht, als sei sie diejenige, die mit uns festsitzt.
Ein schriller Aufschrei gellt durch den Saal, gefolgt von einem zweiten. Stühle kratzen über den Boden.
Ich war in Gedanken versunken und bekomme also gerade noch das Ende des Aufruhrs mit. Ein paar Mädchen haben versucht, die Bühne zu stürmen. Ihre Finger deuten boshaft auf Raya, die sich hinter Cyrus’ Umhang versteckt.
»Sie ist eine Hexe! Sie hat ihn verzaubert! «, schreit eine von ihnen.
Es sind harmlose Mädchen des Hofstaats, keine Attentäterinnen. Sie würden nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, weil ihnen das zu eklig wäre. Aus Eifersucht oder durch ein wenig Feenmagie, die in der Luft liegt, haben sie es lediglich auf Rayas Ruf abgesehen.
Irgendwo in der Menge höre ich Camilla lachen.
Die Wachen bringen die Mädchen schnell unter Kontrolle und geleiten sie aus dem Saal. Inmitten des erschrockenen Gekichers verbergen einige Zuschauer auch ein Lächeln. Die Prinzessin ist nicht die Einzige, die Raya misstraut.
Ich habe erfahren, dass hinter den Kulissen auch die Botschafter Balicas reichlich zu tun hatten. Gerüchten zufolge wussten sie ebenso wenig von Rayas Ankunft, was durchaus merkwürdig ist. Dante wirkt gestresst und weicht Cyrus nicht mehr von der Seite; die beiden tuscheln unaufhörlich miteinander. Ich frage mich, wie viel er über Cyrus’ wahre Gefühle für seine künftige Braut weiß.
Der Prinz hat einen Arm um Raya gelegt und flüstert ihr etwas ins Ohr. Was auch immer es ist, seine Worte scheinen sie zu beruhigen. Man könnte tatsächlich glauben, sie seien verliebt, solange man nicht allzu genau hinschaut.
Oder solange man nicht weiß, wie sich seine Pupillen weiten, wenn er etwas ansieht, das er wahrhaftig begehrt. Oder solange man seine Fassade noch nie eigenhändig heruntergerissen hat, während er einen mit dem Körper gegen die Wand presst.
Niemand würde glauben, dass Cyrus lieber mich küssen würde als sie, selbst wenn die Schicksale es persönlich behaupteten. Eher würden die Menschen aufhören, an die Schicksale zu glauben.
Als endlich wieder Ruhe einkehrt, verkündet Cyrus das Datum der Hochzeit: Sie wird am achtundzwanzigsten Tag von Hetasol stattfinden, dem Tag vor der herbstlichen Tagundnachtgleiche.
Ich leere mein Weinglas. Die Schicksale haben Cyrus’ Tod bis zum Ende des Sommers vorgesehen.
Zufälle gibt es nur selten.
In den Gartenanlagen beginnt das Feuerwerk und die Menge strömt nach draußen, um das Paar zu feiern … oder zumindest so zu tun. Bevor Cyrus den anderen nach draußen folgt, treffen sich für einen Wimpernschlag unsere Blicke. Sein Ausdruck ist vollkommen leer: die Augenbrauen unbewegt, der Mund gerade, das Hemd steif – wie an dem Tag, an dem er von seiner Reise zurückgekehrt ist und ich nicht mehr als eine Unannehmlichkeit war. Er wurde noch nicht einmal gekrönt und ist schon dabei, die Vergangenheit umzuschreiben.
Ich habe nie etwas anderes erwartet. Auf dem Thron findet man keine Liebesgeschichten, sondern nur Geheimnisse, Intrigen und Könige mit Spinnenfingern.
Und dennoch frage ich mich …
… gab es je einen Faden, in dem die Dinge anders waren? Wo wir uns nicht gegenseitig hassten, uns vielleicht sogar mochten?
Gab es einen, in dem ich ihn nie gerettet habe?
Und wenn nicht, hätte ich meinen Weg in den Palast trotzdem gefunden, auf andere Art und Weise? Wäre es dann Camilla, die die Thronfolge antritt, oder würde der Rat stattdessen den Cousin des verstorbenen Prinzen oder irgendeine andere Marionette ihrer Wahl krönen? Wäre ich in diesen Fällen in meinem Turm sicher?
Aber ich habe Cyrus nun mal an jenem Tag auf dem Marktplatz gerettet, diese Wahl mit dem Stoff der Welt verwoben und die anderen Fäden abgetrennt. Wir haben uns am Morgen nach dem Ball geküsst und ich werde jedes Mal, wenn ich ihn sehe, daran denken – die Erinnerung hat sich deutlich auf meinem Gesicht, in meiner Stimme und meinem Urteilsvermögen eingebrannt. Es gibt keinen Weg, um die Fäden, die geschehen sind, wieder aufzutrennen.
Neben meinen Träumen verfolgt mich nun auch seine Berührung bis in den Schlaf. In dieser mondlosen Nacht winde ich mich in den Laken und sehne mich nach Dingen, die ich mir zuvor nie erträumt hätte.
Mein Turm brennt .
Mit dem Tode ringend wachsen die Ranken weiter an ihm empor, schwarz vom Feuer und schwarz von der Fäulnis. Sie winden sich, sprießen wie dorniges Gestrüpp, bis das Feuer sie ebenfalls erwischt .
Seine Lippen streifen flehend über meine Haut, fahren flüsternd über Mund und Hals und Mulden. Seine Hände folgen der Form meines Körpers, als hätten sie mich schon immer gekannt. Ich bin die lebendig gewordene Schwäche seines Herzens .
Wir schmiegen uns aneinander. Begierde, die Begierde erzeugt .
Ein Anwesen brennt .
Flammen prasseln wie Donner, übertönen die Schreie. Auf dem Balkon erhebt sich eine Silhouette, eine lachende Gestalt mit breiten Hüften .
Der Balkon bricht zusammen und die Gestalt verschwindet .
Ein Rabe steigt in den Nachthimmel empor .
An dem Tag, als mein Turm wieder für Lesungen öffnet, überbringt mir der Bedienstete des Königs eine Botschaft. »Bitte nehmt Euch heute Abend Zeit, Sehende Meisterin«, sagt er. »Lady Raya wird Euch aufsuchen.«
Auf dem Weg nach draußen weicht er den Schäden in meinem Vorzimmer aus. Der Teppich muss komplett erneuert werden: Die Spuren der Krallen reichen bis in das darunterliegende Holz und obwohl die Dienstmädchen das Blut so gut es ging ausgewaschen haben, sind die dunklen Flecken nicht zu übersehen. Manchmal finde ich hinter den Möbeln noch Fellfetzen, die moschusartig nach frischem Pelz riechen.
Ein Sommergewitter tobt über der Sonnenstadt, Regen prasselt laut gegen die Holzwände des Turms und färbt meine Robe dunkelgrau. Trotz des Unwetters suchen mich einige Ratsuchende auf. Ein paar von ihnen scheinen die Neuigkeiten über Lady Raya optimistisch zu sehen, doch die meisten befinden sich in derselben Untergangsstimmung wie das Wetter.
Manche fragen mich, woran wir erkennen werden, dass die Prophezeiung gebrochen ist, und ich sage ihnen: »Wenn es so weit ist, werden wir es wissen.« Was nicht komplett an den Haaren herbeigezogen ist. Schließlich kann man ein Ereignis nicht als Wunder bezeichnen, wenn man es erklären kann, bevor es überhaupt passiert ist.
Ich hätte auch gerne Antworten, bekomme aber nur mehr Omen – Teile eines Puzzles, die kein Bild ergeben.
Der Regen lässt genau zur rechten Zeit nach, um einen in allen Farben schillernden Sonnenuntergang zu erleben. Leuchtendes Orange verdunkelt sich zu einem tiefen Blau, als sich die Nacht über den Himmel legt. Die Schläge des Glockenturms mehren sich.
Raya ist noch nicht erschienen.
Ich esse vor dem Feuer zu Abend – ein herzhaftes Mahl aus Hähnchen und geröstetem Gemüse – und zünde Räucherkerzen an, um den Geruch zu übertönen. Knoblauch ist das Einzige, was noch hartnäckiger ist als ich.
Ich warte noch eine Weile, schnippe die Aschesäulen von den Stümpfen der Räucherkerzen. Ich sollte im Palast nach Raya sehen. Dort soll sie bis zur Hochzeit übernachten, habe ich gehört. Ich weiß allerdings nicht, ob sie schon eingezogen ist.
Kurz nachdem es sieben schlägt, ertönt endlich ein Klopfen.
Ich schnaube verärgert, eile zur Tür und öffne sie. »Lady Raya, Ihr seid spä … nicht Raya. Hi.«
»Hi«, erwidert Cyrus. Seine Selbstbeherrschung ist beinah tadellos. Nur die Tatsache, dass sein Atem kurz stockt, als ich spreche, verrät ihn.
Ein lockeres Hemd bedeckt nur zum Teil die neue zackige Narbe an seinem Schlüsselbein. Die schimmernden Konturen eines Zaubers bedecken kreuz und quer sein Gesicht. Das Biest hat ihn mit seinen Klauen heftig erwischt. Ich kann mir vorstellen, warum er sich entschieden hat, die Narben zu verbergen – weil sie hässlich und schockierend sind, weil sie zeigen, wie töricht er doch war, oder eben wie mutig. Ich frage mich, welcher Grund es wohl sein mag.
Wir starren uns gegenseitig an. Was wir sagen, ergibt kaum einen Sinn, aber wenigstens habe ich eine Ausrede: Was soll ich schon zu einem Prinzen sagen, der mich küsst, dann verlangt, ich soll aus seinem Königreich verschwinden und mich dann wiederum vor einer Bestie beschützt, um sich dann über Nacht zu verloben?
»Was willst du hier?«, frage ich ihn mit abgehackter Stimme. Ein indirektes Angebot, wieder zur Normalität zurückzukehren. So zu tun, als sei der Kuss niemals geschehen.
»Ich habe … lange über die Zukunft nachgedacht.« Cyrus räuspert sich, rückt die goldenen Manschettenknöpfe zurecht. »Über meine Zukunft und die von Auveny. Ich bin nicht sehr zuversichtlich, dass Raya diejenige ist, von der die Prophezeiung spricht. Aber eine Braut ist immerhin besser als keine. Ich möchte versuchen, mich in sie zu verlieben.«
»Gut.« Ich ignoriere diese neue Empfindung in meinem Herzen, das sich anfühlt, als würde sich etwas hindurchbohren. Womöglich ist es Eifersucht, doch das wäre idiotisch. »Gut, dass du endlich auf mich hörst.«
Ihn scheint das nicht zu freuen. Er sieht aus, als würde er etwas zurückhalten. Sein Blick fällt auf die Schnittwunde an meinem Kiefer. Er runzelt die Stirn und hebt die Hand, fährt mit den Fingerspitzen über die Naht. Diese Routine sollte mich kalt lassen, seine Sanftheit dient lediglich einem Zweck. Doch ein verräterischer Teil von mir zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich weiche zurück.
»Du … bist weiterhin eine Ablenkung.« Cyrus seufzt. Er klingt, als würde er mir die Schuld geben. »Ich werde dich nicht dazu zwingen, Auveny zu verlassen. Sobald deine Arbeit hier getan ist, solltest du allerdings aus eigenen Stücken gehen. Wir werden die Rückkehr der Seherin aus Verdant verhandeln.«
Es hat sich also nichts geändert. Das gilt jedoch auch für meine Antwort: »Nein.«
»Ich sage dir dasselbe, was ich Camilla gesagt habe. Wenn du hierbleibst, werden wir immer nur miteinander streiten.«
»Nein .«
»Es werden ständig Leute hin- und hergetauscht.« Seine Stimme ist beschwichtigend, ein Tropfen Honig, der das Gift umhüllt, das er mir ins Ohr säuselt. »Fidare wurde schon mit siebzehn ins Grenzgebiet verfrachtet, nur weil Vater nicht gefiel, wie er sich bei den anderen einschmeichelte. Jetzt liebt er es, das Zehnte Herzogtum zu regieren. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Ich kann mich um deine Unterbringung kümmern. Dir ein möbliertes Anwesen arrangieren …«
»Allein, in einem fremden Land. Das ist kein Geschenk .« Zorn gerinnt in meiner Kehle, weil er entschlossen ist, mich zu behandeln, als sei ich nur ein Geschäft für ihn. »Ich gehe nicht, weil du dich für deine Gefühle schämst.«
Er schließt die Augen. »Für eine Seherin siehst du nicht gerade deutlich, wie die Dinge enden werden. Was, glaubst du, wird passieren, wenn die Menschen herausfinden, dass da mehr zwischen uns ist?«
»Nur weil ein wenig Zunge mit dabei war, ist es noch lange nicht verbindlich, Prinzchen. Es war ein Kuss.«
»Trotzdem habe ich keine Verwendung für eine Seherin, die zuallererst opportunistisch ist.«
»Als ob dich das je gekümmert hat.« Ich stürme über die Türschwelle und stoße einen Finger gegen seine Brust. Cyrus zieht scharf den Atem ein. Genau so hat es angefangen, als wir uns in jener Nacht geküsst haben. »Ich habe mich von dir ferngehalten, oder etwa nicht? So getan wie du, als sei die Nacht des Balls nie passiert. Ich habe dich deine kleine Hochzeit planen lassen …«
Er packt mein Handgelenk und ich bin ihm so nah, dass ich die bläuliche Schattierung um seine Augen sehen kann. »Und wie lange soll das gut gehen? Wir verfallen jetzt schon in alte Muster.«
Ich schnaube spöttisch, doch in Anbetracht der Wahrheit seiner Worte schweige ich. Mein Herz hämmert längst. Der Traum, den ich von ihm hatte, schleicht sich in meine Gedanken. Wir können so viel diskutieren, wie wir wollen. Die Tatsache bleibt, dass Cyrus meinen Mund anstarrt, als wolle er ihn sich wieder zu eigen machen, und der Teil von mir, der beim Einschlafen an ihn denkt, möchte das ebenfalls.
»Du kannst mich nicht zwingen … nur weil …« Erst als die gestotterten Worte von meinen Lippen taumeln, merke ich, wie flehend ich mich anhöre. »Das ist nicht fair .«
»Es tut mir leid.«
Etwas unstet reiße ich mich von seinem Griff los. Meine flackernde Beharrlichkeit brennt schnell nieder. So behutsam wird er mich nicht los. »Ich bleibe.«
»Ich bin bereit, meinem Vater den Kuss zu gestehen, wenn es sein muss«, fährt er mit unnachgiebiger Ruhe fort. »Dann wird er dich selbst fortschicken. Womöglich muss ich es ohnehin tun, wenn wir die Seherin aus Verdant haben wollen. Ausnahmsweise ist es mal bedauerlich, dass mein Vater dich so sehr mag, sonst bräuchte ich keinen Vorwand.«
Ich verpasse ihm eine Ohrfeige. Genau dorthin, wo ich weiß, dass der Zauber eine seiner Verletzungen verbirgt. Er taumelt mit einem scharfen Zischen zurück, ein roter Abdruck blüht auf seiner Wange auf.
»Ich hasse dich«, fauche ich ihn an.
Ich gehe zurück in den Lesungssaal und schlage die Tür vor seinem fassungslosen Gesicht zu.
Jetzt, da ich mir wieder zu atmen erlaube, fange ich an zu zittern. Mit meiner vor Schmerz pochenden Hand wische ich die aufkommenden Tränen davon.
Ich weiß, dass ich Cyrus anflehen könnte, seine Meinung zu ändern. Ich müsste nur das Fräulein in der Not spielen und weinend in seinen Armen zusammenbrechen, dann würde er meine Tränen davonwischen, sich entschuldigen und auch noch für großzügig halten. Während ich das arme Ding wäre, das in seiner Schuld stünde.
Eher würde ich mich selbst in einer Seekiste verschiffen.
Ich fülle meine Lungen mit Luft, atme tief ein und wieder aus, bis das Zittern nachlässt und laufe dann in den kalten Schatten des Zimmers auf und ab. Wenn er seinem Vater davon erzählt … bei den Göttern, dann bin ich ruiniert. Ich bin ein zu großes Risiko, vor allem mit der bevorstehenden Hochzeit.
Wir sollten eine Unmöglichkeit sein.
Ich könnte es leugnen. Immerhin war es Cyrus, der mich geküsst hat. Ich könnte behaupten, dass ich den Kuss nicht erwidert habe und hoffen, dass sich König Emilius auf meine Seite schlägt.
Hoffen . Der Gedanke überrascht mich und ich lache auf. Ein schwacher Plan, der jedoch genügen muss.
Und in der Zwischenzeit werde ich unersetzlich sein. Ich hatte neue Visionen von meinem Turm und diesem bedrohlichen Anwesen. Dunkle Magie ist im Gange. Ich kann herausfinden, wo sie herkommt. Und dann werde ich dem König sagen, wie er sie stoppen kann.
Ich muss den Dingen lediglich einen Schritt vorausbleiben.
An meinem Schreibtisch schlage ich mit unruhigen Händen erneut die geliehene Ausgabe von Bräuche & Magie des Waldes auf. Die Nachricht, die Cyrus mir geschrieben und ich zwischen die Seiten gesteckt hatte, fällt heraus und diesmal werfe ich sie doch ins Feuer.
Ich lese noch einmal die Passagen, die beschreiben, wie sich Blut auf den Feenwald auswirkt. Durch Blut kann der Feenwald verfaulen, aber kann es ihn auch in etwas anderes verwandeln? Meine düsteren Träume und diese chimärischen Bestien – es ist, als würde sie irgendetwas verderben. Was allerdings noch wichtiger ist: Wer oder was steckt dahinter?
Menschen mit angeborener Magie sind nicht mehr als ein Mythos. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie je existiert haben, mit Ausnahme der Sehenden und unserer Gabe. Es gibt Menschen, die gelernt haben, Magie aus Pflanzen zu gewinnen oder mit Feen um sie zu feilschen. Aber ich habe noch nie einen Beweis dafür gesehen, dass jemand diese Magie in mehr umgewandelt hat als in das, woraus sie bestand.
Meine Gedanken fallen auf die Schicksale selbst. Wozu sind sie fähig? Physisch weilen sie zwar nicht auf derselben Ebene wie wir, müssen die Fäden der Zeit aber irgendwie lenken.
Niemand weiß von der Euphorie, mit der die Schicksale von dem Fluch gesprochen haben. Sie haben mich in jener Nacht bedroht, sich über meinen Untergang, meine Hilflosigkeit amüsiert. Sie haben Cyrus’ Tod verlangt, als sei es nichts. Vielleicht wollen sie nur das, was er ihnen schuldig ist, doch was immer ihr Grund sein mag, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nur ihre eigenen Interessen verfolgen.
Wenn die Schicksale wollen , dass die Prophezeiung von Blut und Krieg und rosensprießenden Bestien wahr wird, wäre der beste Weg dann nicht, den Prinzen – das Herzstück eben jener Prophezeiung – zu beseitigen?
Ich lehne mich mit dem Stuhl nach hinten und jongliere meine Gedanken, bis mein Kopf wehtut. Dieses ganze Rätselraten, nur um zu beweisen, dass ich Wert habe, wenn das gar nicht nötig sein sollte.
Wobei es womöglich gar keinen Unterschied machen wird, weil ein einziger Skandal mich ins Verderben stürzen könnte.
Eine Stimme klingt in meinen Gedanken wider. Dir steht so viel mehr zu .
Sie könnte mir helfen. Die Stimme, die zuletzt zu mir gesprochen hat – sollte sie sich mir jemals wieder offenbaren. Von allen Gottheiten war sie die Einzige, die etwas Nützliches beigetragen hat. Wenn ich sie nur selbst herbeirufen könnte.
Ich trommele mit den Fingern gegen das Holz meines Stuhls, während ich dessen Beine langsam wieder auf dem Boden absetze.
Vielleicht kann ich das ja.
Götter sind wahrscheinlich genauso eigennützig wie wir alle. Die Menschen nennen ihre Gaben Tribute oder Geschenke … als fühlten sie sich nicht zumindest ein klein wenig dazu gezwungen, einen Zoll zu entrichten. Bestechung wäre da wohl das bessere Wort.
Und ich bin mir nicht zu schade, jemanden zu bestechen.
Wahrscheinlich sind die Schicksale schon ganz gierig darauf, weil niemand mehr wirkliche Opfer bringt.
Es wird schon irgendetwas in diesem Turm geben, das mir helfen wird, ein Ritual zu vollziehen. Ich gehe wieder nach unten. Lady Raya wird heute offensichtlich nicht mehr kommen, also mache ich stattdessen das hier.
Ich durchsuche die Schränke entlang der Wände, schiebe kunstvoll verzierte Kostüme beiseite, Kugeln, die funkeln, wenn ich sie berühre, Karten und Sternenapparate, die ich nie verwende. In einer Kiste mit vielen kleinen Boxen darin finde ich schließlich einen Satz Messer.
Ich kenne mich nicht gerade aus, wenn es darum geht, wie man ein Opfer darbringt . Was ich darüber weiß, stammt lediglich aus Szenen, die ich geträumt habe, und den wenigen Erwähnungen im Buch bezüglich des Feenwalds:
Blutrituale und sonstige Schlachtereien sollten mit separaten Gefäßen und Messern durchgeführt werden, um eine Verunreinigung zu vermeiden. Blutfäule kann für die Pflanzen des Waldes tödlich sein .
Von allen Blutarten ist menschliches Blut das mächtigste .
Aus der juwelenbesetzten Hülle ziehe ich eines der Messer und halte es ins Licht empor. Stirnrunzelnd blickt mir mein verzerrtes Spiegelbild von der Klinge entgegen. Schon als Kind wusste ich, wenn ich in Fensterscheiben mein Konterfei sah, dass ich mit meinen langen schmalen Augenbrauen, den strengen Lippen und dem pastellgelben Hautton, der an die Flügel von Motten erinnert, niemals süß aussehen würde. Stattdessen schien ich bereit, es jederzeit mit jemanden aufzunehmen, der doppelt so groß war wie ich. Und das hat sich bis heute nicht geändert.
Ich teste die geschwungene Klinge an einem Stück Stoff aus. Sie ist noch immer scharf. Das sollte genügen.
Ich zünde eine Kerze an und reinige die Messerschneide in der Flamme. Dann gehe ich zur Tür des Lesungssaals und stelle mich vor den Brunnen, der einst ein Gefäß für Blut war und nicht wie jetzt nur die Münzen meiner Besucher empfängt. Die heutigen Gaben nehme ich noch heraus, damit die Schale leer ist, und knie mich davor.
Mit verzogenem Gesicht drücke ich die Spitze der Klinge in meinen Finger, bis ein dunkelroter Tropfen Blut hervorquillt. Ich schmiere es in die Brunnenschale.
Und warte.
Der Schnitt pocht kaum spürbar, wie ein Herzschlag. Bald hört es auf zu bluten. Nichts passiert.
Also scheint ein bisschen Blut nicht auszureichen.
Ich beiße mir auf die Lippe und hole aus dem Schlafzimmer ein zusammengefaltetes quadratisches Tuch. Ich platziere es auf dem Boden, stelle einen Krug Wasser darauf, lege in Griffweite frische Bandagen bereit. Dann richte ich den Blick auf den Brunnen vor mir, setze mich in die Mitte des Tuchs und drehe in meiner Handfläche das Messer.
Was für eine dumme Idee.
Vielleicht sollte ich das besser lassen.
Bei den Göttern, ich will das nicht machen.
Allerdings weiß ich: Tue ich es nicht jetzt, werde ich es am Ende mitten in der Nacht tun, wenn ich frustriert bin und wieder nicht schlafen kann.
Die Stahlklinge fühlt sich auf meiner Haut kalt an, wärmt sich aber allmählich schon auf. Falls eine Zukunft es auf mich abgesehen hat, möchte ich das wissen. Und wenn ich einen Plan haben will, bleibt mir nichts anderes übrig.
Ich umschließe die Klinge fest mit den Fingern und schneide mir die Handfläche auf.
»Verdammt«, keuche ich und verziehe vor Schmerzen das Gesicht. Das hat sich … tief angefühlt.
Ich lasse das blutbefleckte Messer fallen und komme auf die Knie, um nach den Bandagen zu greifen. Doch da das Blut nun in meinen Kopf strömen will, während es gleichzeitig aus meiner Hand tropft, verliere ich die Orientierung. Ich wanke. Flecken, die ich nicht wegblinzeln kann, trüben meinen Blick.
»Verdammt .« Ich glaube, ich werde ohnmächtig.
Und so ist es auch.