Dante, Cyrus und ich stehen um die falsche Raya herum. Der Wald hier ist feucht und unsere einzige Lichtquelle ist eine Laterne, die Raya in weiser Voraussicht mitgebracht hat. Wir lassen sie ihre Feen einsammeln, die davongeflogen sind, als ich sie überrascht habe, und inzwischen kaum noch die Kraft haben, sich in der Luft zu halten. Als Raya in ihrem schlammbesudelten Kleid wie Espenlaub zittert, bietet Cyrus ihr sein Wams an. Sie nimmt es mit einem stillen Dankeschön entgegen.
»Mein Name ist Nadiya Santillion«, sagt sie zwischen uns kniend mit gesenktem Kopf. »Ich war Rayas Dienerin, als eine Hexe aus dem Feenwald kam und ihr Anwesen angriff.«
»Alles, was du uns erzählst, werde ich mit einem erneuten Blick in deine Fäden überprüfen«, warne ich sie.
»Ich sch… schwöre, das ist die Wahrheit.« Ihre Zauber haben sich inzwischen vollständig aufgelöst. Als sie nach oben blickt, sehe ich zum ersten Mal ihr wahres Gesicht. Sie sieht viel jünger aus … ungefähr so alt wie ich. Ihre Züge sind weicher und nicht mehr so zierlich. Sommersprossen sprenkeln ihre Nase und ihre abstehenden Ohren erinnern an die einer Feldmaus. »Sie nannte sich die Hexe der Albträume. Sie hat meine Herrin getötet und mich gezwungen, mich als Raya auszugeben. Falls ich mich weigern sollte, würde sie alle anderen im Haus ebenfalls töten. Sie befahl mir, zur Sonnenstadt zu reisen und den Platz meiner Herrin auf dem Ball einzunehmen. Und es stimmt, Sehende Meisterin: Ich war es, die die Bestien freigelassen hat, aber ich … ich wusste nichts von ihnen! Die Hexe hat mich mit zwei hölzernen Truhen hergeschickt und gesagt, ich solle sie über die Klippen in den Fluss der Hauptstadt werfen … Ich meine, ich habe mir gedacht, dass etwas Böses darin eingeschlossen ist, aber ich … hatte Angst. Ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte nur, dass es vorbei ist!«
»Warum sollte diese Hexe das von dir verlangen?«, fragt Dante.
»Um einen Krieg zu entfachen.«
Dante, Cyrus und ich tauschen Blicke.
Cyrus hockt sich auf Augenhöhe mit Nadiya hin. »Und wie würdest du einen Krieg entfachen?«
»Das war alles, was sie gesagt hat, Eure Hoheit, und ich fordere keine weiteren Erklärungen von einer Mörderin.« Sie kichert quietschend, auf eine schüchterne Art … eine nervöse Angewohnheit von ihr.
»Womöglich sind es dieselben Gründe, die wir bereits befürchtet haben«, murmelt Dante. »Indem sie Auveny davon überzeugt, dass Raya – mögen die Sterne ihre Seele geleiten – hinter den Bestien steckt oder deine Chancen sabotieren will, die wahre Liebe zu finden. Es wäre auch ein Leichtes zu behaupten, Nadiya sei eine getarnte Attentäterin … Man kann sich einiges ausdenken, wenn man Balica wirklich die Schuld zuschieben will, wie dein Vater oder der Rat …«
»Ich weiß, ich weiß«, stöhnt Cyrus.
»Aber was hat die Hexe von einem Krieg?«
»Sie will, dass Blut vergossen wird.« Nadiya hebt ihre buschigen Brauen. »Sie hat erwähnt … dass es ihre Magie noch mächtiger macht.«
Ich ziehe scharf die Luft ein. »Ist es möglich, dass die Hexe der Albträume eine Seherin ist?«
Alle drei schauen mich an. Hinter dem Rücken balle ich meine verletzte Hand zur Faust.
»Ich bin mir nicht sicher, Sehende Meisterin. Sie hat irgendetwas über die Schicksale gesagt.«
»Falls sie eine Seherin ist, könnte das erklären, warum sie dir diese Aufgaben aufgetragen hat. Womöglich hat sie gesehen, wie sie die Zukunft, die sie sich wünscht, herbeiführen kann.« Ich betrachte diese Möglichkeit langsam von allen Seiten. Soweit ich es nach dem flüchtigen Blick auf die Hexe beurteilen kann, sieht sie zu jung aus, um eine der bekannten Seherinnen von Balica oder Verdant zu sein. Allerdings ziehe ich in Betracht, dass sie nie jemandem von ihrer Gabe erzählt hat. »Die Fäden der Zukunft können sich verändern oder widersprüchlich sein … aber vielleicht ist ihre Gabe stärker als das, was mir vertraut ist. Oder vielleicht leiten sie auch die Schicksale.«
Cyrus richtet sich auf. »Die Schicksale? Warum sollten die Schicksale der Hexe helfen?«
Wenn er bloß wüsste, dass er nur noch am Leben ist, weil ich mich andauernd ihren Wünschen widersetze. Dafür verdiene ich mindestens noch eine Dankesnachricht, aber werde ich eine bekommen? Ich bezweifle es. »Die Schicksale sind der Grund, warum deine verfluchte Prophezeiung überhaupt erst existiert. Warum sollten sie der Person, die sie endlich verwirklichen will, nicht helfen?«, entgegne ich scharf. »Du hast noch nie mit den Schicksalen gesprochen. Wenn doch, wärst du nicht so überrascht, dass wir ihnen egal sind. Alles, was sie wollen, ist Blut. Und was tun Bestien und Kriege nun mal? Blut vergießen .«
Cyrus sieht mich ungläubig an. »Die Schicksale sind nicht böse .«
»Wenn du das sagst. Gerecht sind sie jedenfalls auch nicht, falls es das ist, was du denkst.« Wenn selbst meine Magie durch Blut mächtiger wird, ist es nicht gerade weit hergeholt, sich zu fragen, ob es die Schicksale ebenfalls mächtiger macht.
»Sehende Meisterin, Eure Hoheit … verzeiht, wenn ich Euch unterbreche.« Zögerlich steht Nadiya auf und behält dabei vor allem mich im Blick, als befürchte sie, dass ich mich erneut auf sie stürze. »Meine Feen sind sehr schwach und ich bin hierhergekommen, um ihnen zu helfen.«
Mit ihren Rehaugen und in nur einem Wimpernschlag lenkt Nadiya Cyrus’ volle Aufmerksamkeit auf sich und er wendet sich so schnell von mir ab, dass es offen gesagt beleidigend ist. »Was ist passiert?«
»Würdevoller geht’s wohl nicht, Prinzchen«, murmele ich leise vor mich hin.
»Es waren meine Feen, die der Bestie – der, die sich in den Mann zurückverwandelt hat – vorhin die dunkle Magie entzogen haben. Sie waren die ganze Zeit in meinem Ärmel versteckt. Ich hatte rein gar nichts damit zu tun.« Nadiya hebt ihre schützend zusammengefalteten Hände in die Höhe. Das Leuchten zwischen ihren Fingern flackert und ich kann winzige flatternde Flügel darin erkennen. »Ich wollte es nicht riskieren, ihre Magie aufzubrauchen, aber der König hat mich unter Druck gesetzt. Er wollte, dass ich mich beweise, und schien mir immer mehr auf die Schliche zu kommen. Also habe ich zugestimmt.«
»Das war meine Schuld«, besänftigt Cyrus sie. »Ich hätte ihn davon abbringen sollen.«
Eine sanfte Röte steigt in ihre Wangen. »Ihr habt alles richtig gemacht, Eure Hoheit. Ich dachte, meine Feen würden es schaffen. Sie waren so gut wie tot, als ich sie das erste Mal gerettet habe. Doch als wir auf dem Weg nach Auveny den Feenwald durchquerten, haben sie sich erholt. Also dachte ich, wenn ich sie wieder dorthin bringe …«
Cyrus mustert die knochigen Bäume um uns herum, die verglichen mit ihrer Umgebung noch üppig wirken. »Das hier ist lediglich das Jagdgebiet. Der nächste Abschnitt des Feenwalds ist mit der Kutsche zwei Tage von der Hauptstadt entfernt.«
»Oh.« Nadiya ist eindeutig den Tränen nah und beißt sich auf die Lippe.
»Werden sie sterben? Sollen wir uns auf den Weg machen?« Cyrus legt seine Hände um ihre, und zwar in einer solch ritterlichen Geste, dass einem glatt schlecht werden könnte. Ich verdrehe die Augen. Scheinbar hat er keine Probleme damit, ihr zu vertrauen. »Hilft vielleicht Ambrosia? Viele Feen der Stadt ernähren sich davon …«
»Das habe ich schon versucht. Sie brauchen ihr Zuhause, die Magie des Waldes.«
»Mein Turm …« Mit zusammengebissenen Zähnen atme ich scharf ein. Jetzt helfe ich ihr auch noch. Leider glaube ich ebenfalls, dass sie unschuldig und unsere beste Spur ist, um die Hexe zu finden. Darüber hinaus ist sie ein mittelloses Mädchen an einem ihr fremden, herzlosen Hof … Die Parallelen zu meinen eigenen Anfängen sind mir durchaus bewusst. Sie kann von Glück reden, dass sich mein Herz anscheinend noch nicht vollständig in einen Eisklumpen verwandelt hat. »Falls du echten, lebenden Feenwald brauchst, zählt mein Turm fachlich gesehen dazu.«
Nadiyas große schüchterne Rehaugen leuchten auf. »Können wir dorthin gehen, Sehende Meisterin?«
»Deshalb habe ich es wohl erwähnt«, sage ich mit lang gezogenen Worten. »Gehen wir, bevor deine Feen zu Staub zerfallen.«
Nun, da wir alle zusammen sind, wirken wir auf dem Weg zurück zum Turm ironischerweise weitaus weniger verdächtig. Es scheint lediglich, als habe Prinz Cyrus mit ein paar engen Freunden – und mir – einen kleinen Jagdausflug unternommen. Ungewöhnlich, aber nichts, was sich nicht durch das Vorhandensein von Wein erklären ließe. Camilla kam einmal völlig betrunken um Mitternacht zurück zum Palast geritten und trug dabei nichts als eine bunte Mischung Unterwäsche – eine Geschichte, die sie an Feiertagen immer noch stolz zum Besten gibt.
Auf dem Rückweg gehe ich Hände haltend mit Nadiya ihre Erinnerungen durch. Sie öffnen sich mir bereitwillig, sehnen sich förmlich danach, gesehen zu werden.
Ich erfahre, dass die Hexe Nadiya verzaubert hatte, um sie wie Raya aussehen zu lassen, die Magie aber nur bis zum Ende des Balls anhielt. Nadiya sollte von Anfang an als Schwindlerin entlarvt werden, um Zweifel an Balica zu säen. Ich glaube nicht, dass die Hexe wollte, dass sie in jener Nacht vom Ball davonrennt. Ich spüre Nadiyas Verunsicherung in dem Moment, in dem ihre Tarnung beginnt, sich aufzulösen, ihren Wunsch aufzugeben, nur um dem anstrengenden Versteckspiel zu entkommen, bevor das verzweifelte Verlangen zu überleben sie überkommt. Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Ihre Täuschung hat Nadiya von da an mithilfe von Schleiern und Feenzaubern aufrechterhalten, wenngleich recht unbeholfen.
Ich sehe in ihren Fäden auch, warum sie so viele Feen hat: Es sind die Feen, die ursprünglich in dem Zepter der Hexe gefangen waren. Nadiya hatte es kurz vor ihrer Abreise nach Auveny heimlich gestohlen und anschließend zerschmettert. Weil sie die Feen dadurch befreit hat, sind ihr diese seither treu ergeben. Bei der heutigen Vorführung mit der Bestie haben sie sogar ihr Leben für sie riskiert.
Ich wünschte, ich könnte mehr über die Hexe der Albträume selbst sehen. Ich frage mich, was an meiner Theorie dran ist, dass sie eine Seherin sein könnte. Die Magie, die sie angewendet hat, liegt jenseits meiner Vorstellung. Allerdings hätte ich mir vor Kurzem auch noch nicht vorstellen können, aus nichts als meinem Blut und ein bisschen Feenwald einen Dorn zu erschaffen. Die Hexe hatte ein Zepter voller Feen. Wenn ich es nur versuchte … könnte ich Magie dann genauso manipulieren?
Meine Gedanken verflüchtigen sich, als wir uns dem Fuße des Turms nähern. Hier ist der Pfad so schmal, dass er zwischen dem reißenden Fluss, der nach dem jüngsten Regen noch höher steht, und den Klippen unter dem Palastgelände kaum Platz bietet.
Nadiya stolpert uns eilig voraus. Auf einem Stück Wiese an den Treppenstufen des Turms setzt sie die Feen ab. Diese klettern die Wand empor und leuchten vor unseren Augen immer heller. Ihre winzigen Flügel flattern, als sei ein Wind aufgekommen. Eine spürbare Erleichterung breitet sich aus. Zarte goldene Fäden, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind, fließen zwischen den Ranken und den Feen, als würde etwas aus ihnen herausgezogen werden. Die Ranken verschrumpeln …
… und werden schwarz.
Der Gestank von verwelkten Rosen steigt so urplötzlich in meine Nase, dass ich würgen und sie mir zuhalten muss.
Als ich den Blick wieder hebe, ist der Pfad, den die Feen entlanggeklettert sind, verfault. Die Fäulnis breitet sich kreisförmig immer weiter aus. Schwarze Adern fädeln sich wie stechend riechende Tinte in alle Richtungen.
Mir wird schwindelig. Ich schubse Nadiya beiseite, presse eine Hand gegen die Wand und versuche es irgendwie aufzuhalten. »Was zur Hölle?«, fauche ich und spüre, wie die anderen hinter mir sich vordrängen. Ich kann die abgestorbenen Stellen mit den Fingern abkratzen, doch darunter taucht nur noch mehr Fäulnis auf, die sich immer weiter ausbreitet. Die schwarz gewordenen Ranken sind außen versteinert und innen triefend nass und bröckeln ab.
Wie die Fäulnis, die den Dorn umgeben hatte.
Wie die Fäulnis in meinen Träumen.
Ich wirbele herum und packe Nadiya am Kragen des von Cyrus’ geliehenen Wamses. »Was hast du getan?«
»I… Ich wusste nicht, dass das passiert. Ich schwöre!«, quietscht sie mit erhobenen Armen. »Ich weiß nur, dass sie sich im Feenwald erholen. Bitte tut mir nichts, Sehende Meisterin!«
»Es scheint, als hatten die Feen noch die dunkle Magie der Bestien in sich und brauchten einen Ort, um sie freizusetzen.« Stirnrunzelnd nimmt Dante die Laterne und nimmt die Ranken unter die Lupe. Sein Atem geht stockend. Die Fäulnis hat aufgehört sich auszuweiten, doch der Schaden ist bereits unumkehrbar und ungeheuer groß. »Ihre Magie fließt im Einklang mit dem Feenwald. Das heißt, sie nutzen ihn wahrscheinlich wie einen Schwamm.«
Die wiederbelebten Feen erheben sich in die Lüfte und sausen zirpend um mich herum, als wollten sie sich entschuldigen. Woraufhin ich lediglich niesen muss, während ich Nadiya grob schüttele. »Das hätte ich gerne gewusst, bevor sie meinen Turm verfluchen!«
»I… Ich repariere den Schaden! Ich wollte das nicht.«
»Gute Absichten heben deine Fehler nicht auf. Weißt du, was ich sehe, wenn ich dich anschaue?« Ich kneife meine Augen zusammen. »Ein Risiko.« Ich stoße sie von mir weg. Ich werde nie wieder hilfsbereit sein.
Cyrus tritt mit einem warnenden Blick zwischen uns. »Beruhige dich. Ich lasse die Fäulnis morgen von ein paar Arbeitern entfernen.«
Das sagt er so einfach. Schließlich ist er der von allen geliebte Märchenprinz. Er musste sich noch nie darum sorgen, irrtümlich abgestempelt zu werden. »Und wie willst du erklären, auf welchem Weg die Fäulnis hierhergekommen ist? Dunkle Magie auf meinem Turm erweckt den Anschein, dass ich diejenige bin, die verdorben ist.«
»Mir wird schon was einfallen.«
Als Cyrus mit derselben Behutsamkeit nach meinem Arm greifen will, die er zuvor Nadiya entgegengebracht hat, weiche ich wütend vor ihm zurück. Bei mir kann er sich sein gekünsteltes Gehabe sparen. Etwas in seinem Blick wirkt zögerlich, doch ehe ich es entziffern kann, schiebt er sich an mir vorbei.
»Ein Glück, dass wir deine Feen retten konnten, Nadiya. Dies ist jedoch erst der Anfang unserer Probleme.« Cyrus läuft auf dem matschigen Untergrund hin und her. »Ich muss Soldaten losschicken, um die Hexe zu finden. Sie kann inzwischen überall sein. Es ist möglich, dass sie für das Erscheinen aller Bestien verantwortlich ist, und scheint sich ihrer Macht und ihres Plans zudem sehr sicher zu sein. Ach ja …« Er fasst sich mit der Hand an die Brust. »Es wird dich wahrscheinlich kaum überraschen, dass ich nicht in Raya verliebt war. Dennoch möchte ich mich entschuldigen, falls ich dich das Gegenteil habe glauben lassen. Wir müssen einen Weg finden, deine wahre Identität zu offenbaren.«
»Aber doch nicht jetzt «, protestiert Dante.
»Warum nicht?«
»Wenn wir zwischen zweierlei Kopfschmerzen wählen müssen, dann ist es wohl das kleinere Übel, eine falsche Raya zu heiraten.« Dante wischt sich die Hände an der Hose ab und lässt schwarze Handabdrücke darauf zurück. »Die Menschen glauben an sie. Dieses Vertrauen jetzt brechen? Das würde euch beiden weitaus mehr schaden. Es ist noch nicht lange her, dass deine Thronfolge gefährdet war, weil du noch keine Braut gefunden hattest, Cyrus.«
Der Prinz verzieht das Gesicht.
»Und um ehrlich zu sein, Nadiya, Violet hat recht. Du bist ein Risiko. Es wird nie einen guten Zeitpunkt geben, um deine Identität zu offenbaren. Doch während Bestien durchs Land ziehen, ist definitiv ein schlechter Zeitpunkt.«
Nadiya wringt den Stoff ihres Kleides mit den Händen. »Ich muss weiterhin so tun, als sei ich Raya?«
»Mir gefällt es nicht, diese Scharade fortzusetzen«, sagt Cyrus.
Dante zuckt mit den Schultern. »Ich trage euch nur eine Meinung vor.«
»Aber was ist mit der Hochzeit …«
»Im schlimmsten Fall heiratet ihr eben. Es ist ja nicht so, als hättest du vorgehabt, eine andere zu heiraten.«
Vom vernünftigen Ton seines Freundes gibt sich der Prinz geschlagen, legt den Kopf in den Nacken und stöhnt. »Nein, du hast recht.«
»Das habe ich immer.«
Im Licht der Laterne sehe ich, wie Cyrus in seine charmanteste Rolle schlüpft. »Es würde mir wirklich unglaublich helfen, wenn du noch ein wenig länger die Lady Raya spielen könntest, Nadiya. Ich verspreche dir, dass wir die Hexe finden und sie zur Rechenschaft ziehen werden.«
Ich verdrehe die Augen so sehr, dass sich mein ganzer Kopf mit dreht. »Jegliches Versprechen, das er dir gibt, ist die Luft nicht wert, die er atmet«, sage ich zu ihr. Ich halte diesen zuckersüßen Ton von ihm nicht länger aus.
»Violet, nicht jetzt …«
»Cyrus wird das tun, was für Auveny am besten ist. Er hat keine andere Wahl«, erkläre ich Nadiya und ignoriere den Prinzen einfach. Ich sollte dem Mädchen wenigstens die Wahrheit sagen, wenn es sich an unserem Hof zurechtfinden soll. Ich lasse nicht zu, dass noch irgendeine Seele dem Prinzen wegen seiner angeblichen Barmherzigkeit verfällt. »Du wirst von Menschen umgeben sein, die dich ausnutzen und erpressen wollen. Stehst du zwischen ihm und dem Thron, würde ich mich nicht darauf verlassen, dass er seinen Prinzipien oder dir treu bleiben wird. Und ich sage das als jemand, den er nur zu gerne verbannen würde, denn ich bin ihm unbequem .«
Cyrus funkelt mich böse an, während Dante ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue mustert.
»Später«, flüstert Cyrus, seufzt und wendet sich abermals lächelnd Nadiya zu. »Das mit Violet war eine ganz andere Situation. Das wäre mir nicht einmal in den Sinn gekommen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass sie allein auf sich aufpassen kann. Sie würde überall zurechtkommen …«
»Genau das Kompliment, das sich jedes Mädchen wünscht«, brumme ich. »Stark genug fürs Exil .«
»… aber das ist völlig unwichtig, denn ich verspreche«, er legt eine Hand auf Nadiyas Arm, »dass ich nichts tun werde, was dir schaden würde.«
»Nicht die Luft wert, die er atmet «, forme ich lautlos mit den Lippen.
Wenn wir weiter so diskutieren, reißt Nadiya noch ein Loch in ihr Kleid. Sie blickt uns beide völlig verschreckt an. »M… muss ich mich jetzt entscheiden?«
»Nein, nein. Natürlich nicht …«, beginnt Cyrus.
»Nein, musst du nicht«, falle ich ihm ins Wort. »Schlaf eine Nacht drüber und entscheide dich dann für den Plan des Prinzen. Genau genommen Dantes Plan, was auch der einzige Grund ist, warum der Plan vernünftig ist. Ich werde dich nicht dafür heimsuchen.«
Hinter uns stöhnt Dante auf. »Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen und schlafen. Was haltet ihr davon, wenn wir dieses Gespräch vertagen? Und zwar auf morgen . Ich muss unsere alte Korrespondenz durchgehen, jetzt, da ich weiß, dass Rayas Anwesen von der Hexe übernommen wurde.«
Also gehen wir alle etwas unbeholfen auseinander. Cyrus und Dante wechseln noch ein paar Worte unter sich, dann grüßt Dante uns zum Abschied und macht sich auf den Weg zu seiner Wohnung im Universitätsviertel.
Cyrus führt Nadiya die Wendeltreppe des Turms hinauf. Das Nordtor, das ich jeden Tag passiere, ist der nächste Eingang zum Palast. Ich marschiere hinter ihnen her und fühle mich wie eine Nachzüglerin.
Als wir den Treppenabsatz in der Mitte des Turms erreichen, bittet Cyrus Nadiya, schon einmal die Brücke zum Palast zu überqueren. Das Licht der Laterne und ihrer Feen entfernt sich, dann befinden sich da unterm Sternenzelt nur noch ich und der Prinz. Ich stehe in der Nähe des Turmeingangs und erwarte schon mit gesträubten Haaren seine Vorwürfe.
Er weicht meinem Blick aus und fummelt an seinen Manschetten herum. »Danke«, sagt er in dem sanften Ton, den er sonst nur für Rayas und Nadiyas und Menschen übrighat, die nicht ich sind. »Ich bin dir … sehr dankbar für deine Hilfe heute. Sogar für die Art und Weise, in der du sie erbracht hast.«
»Sobald dir die größeren Probleme ausgehen, hast du es wieder auf mich abgesehen«, spotte ich.
»Du bist noch immer mein größtes Problem.« Sein Tonfall ist harsch, aber als er den Blick hebt, finde ich darin nicht die übliche Vorsicht, die ich so gewohnt bin. Seine Augen verweilen mit einem bedauernden Ausdruck auf mir.
»Sieh mich nicht so an.«
»Wie denn?«
»Als würde ich dir etwas bedeuten.«
Die Stelle zwischen seinen Augenbrauen zieht sich zu einer Furche zusammen. Etwas wie Verständnis schimmert durch seine Gesichtszüge hindurch. »Wäre das so schlimm? Du hast gesagt, ich soll herausfinden, was ich will. Was, wenn ich die ganze Zeit nur dich wollte?«
Ein Zittern durchfährt meinen Körper, das ich nicht auf die kühle Abendluft schieben kann. »Ich würde dir nicht glauben.«
»Natürlich nicht. Du bist nicht irgendein wehrloses Opfer. Du sorgst dich um niemanden als dich selbst, damit dich niemals jemand zum Narren halten kann.«
Ich öffne den Mund, um ihm zu widersprechen, aber ja … »Das stimmt.«
»Allzeit gescheit, was?« Cyrus grinst, als hätte er etwas gewonnen und ich blicke ihn trotzig an.
So sind wir noch gefährlicher: Wenn wir einander necken, als sei es ein Spiel, so offen und nachlässig gegenüber dem Schaden, den wir anrichten könnten. Als hätte Cyrus nicht die ganze Zeit versucht, mich loszuwerden. Als wäre ich nicht mehr als einmal versucht gewesen, sein Herz aufzuspießen. Als würden wir die Welt nicht allein durch unsere Anwesenheit neu formen.
»Gute Nacht, Violet«, sagt er und sieht mich genau so an, wie ich es ihm verboten habe.
Ich lasse ihn ohne ein Wort des Abschieds stehen.
Ein Windstoß rauscht durch die offene Balkontür und trägt einen Chor lachender Stimmen mit sich herein:
Vi…o…let
Widerliche Hexe
Dummes, im Dreck geborenes Ding .
Verschwitzt und kalt schrecke ich aus dem Schlaf hoch und mache mich auf die Kopfschmerzen gefasst. Draußen hängt dichter Nebel. Der Himmel fühlt sich näher an denn je. Im großen Wandspiegel auf der anderen Seite des Zimmers scheint sich der Mond zu kräuseln.
Die Schicksale sind wieder da.
Ich grabe die Fingernägel tief in meine Handfläche, doch ihr Flüstern bleibt. Ist heute nicht schon genug passiert? Ich schlüpfe aus dem Bett und durchquere den blauen dunklen Streifen meines Zimmers bis zum Spiegel, bis ich so nahe bin, dass ich eine Hand gegen mein Abbild pressen kann. Das Licht des Mondes umspielt meinen Kopf wie eine Krone.
Irgendwo am Rande meiner Gedanken spüre ich Fäden der Zukunft, die ich nicht fassen kann.
Ein Leben hast du uns genommen , sprechen die Stimmen im Chor.
Du wirst für ihn brennen .
Für ihn zu Asche zerfallen .
»Ich werde keinen Krieg für euch anfangen. Das ist es doch, was ihr wollt, nicht wahr?« Ich erkenne endlich das große Ganze, die intrigierenden Götter. Ihre Gier nach Blut und Macht. »Ihr helft auch der Hexe. Habe ich nicht recht?«
Sie hat gewählt, ja, gewählt ,
Blut und Rosen und Krieg .
Spieler, Marionette, Schachfigur:
Welche Wahl wirst du treffen?
Es stimmt also. »Ist es wirklich eine Wahl, wenn ich mich nur zwischen Mord und Tod entscheiden kann? Wenn ihr mich beobachtet habt, solltet ihr wissen, dass ich nichts mehr verabscheue, als gesagt zu bekommen, was ich zu tun habe.«
Wir werden nicht trauern ,
wenn sie dich hintergehen .
Du bist niemand, nichts –
ein Schatten, unvollkommen .
»Oder gesagt zu bekommen, wer ich bin.«
Mein Gesicht, das mein offenes Haar teils verdeckt, wirkt im Spiegel erschöpft und angespannt. In dem trüben Licht scheint jegliche Farbe daraus gewichen zu sein. Vom unruhigen Schlaf ist mein Nachthemd zerknittert. Ich halte den Dorn in der Hand, doch als ich an mir herabblicke, sehe ich ihn dort nicht.
Du verwehrst dich deiner Bestimmung .
Er vergiftet dein Herz .
»Besser er als ihr.«
Mit einem Mal erwacht der Dorn zum Leben. Ranken schnellen meine Arme empor, legen sich um meinen Hals, meinen ganzen Körper. Ich stolpere zurück, taste nach etwas, womit ich den Spiegel zerschmettern kann. Da erinnert mich das dumpfe Pochen meiner verletzten Hand: Ich weiß nicht einmal, ob ich wach bin oder schlafe.
Die Ranken winden sich, bedecken mein gesamtes Spiegelbild, bis ich nichts weiter bin als ein Stückchen Auge. Die Stimmen verschmelzen miteinander, singen in feierlichem Chor:
In eurer Erde fault es, fault es ,
dringt bald ans Licht, dringt bald ans Licht .
»Seid still, seid still, seid still! «, schreie ich den ganzen Weg zurück zum Bett. Die Stimmen lachen nur.
In deinem Herzen fault es .
Verfaultes legt Lügen in dein Herz .
Faule Lügen liegen in deinem Herzen .