Ich verbrenne den Dorn.
Ich sehe zu, wie er schwarz wird und schrumpft, bis nichts als Asche im Kamin zurückbleibt.
Wie sehr habe ich der Hexe unwissentlich geholfen? Wie viel hat sie in meinem Kopf gesehen? Sie bezeichnet sich selbst nicht als Seherin, hat aber die Gabe, muss sie haben, wenn sie die Zukunft kennt. Sie redet von den Schicksalen, als hätte sie mit ihnen gesprochen.
Sie mag zwar böse sein, doch frage ich mich, nachdem ich gesehen habe, was sie alles erreicht hat: Wozu wäre ich fähig, wenn ich es nur versuchte?
Die Gabe des Sehens ist lediglich die Oberfläche deiner Magie .
Nur weil sie boshaft ist, heißt das nicht, dass sie falschliegt.
Doch ich nehme an, das ist genau das, was sie mich glauben machen will.
Es sind nur noch zwei Wochen bis zur Hochzeit, zwei Wochen bis unsere Bestimmung uns ereilt. Ich werde meine Antworten bekommen, ob ich sie nun hören will oder nicht, und fiebere dem Tag mit einer gespannten, nicht gänzlich angsterfüllten Erwartung entgegen.
Unterdessen ist der Prinz mit allem Möglichem beschäftigt, nur nicht mit seiner Braut. Während er wutentbrannt von Flur zu Flur läuft, folgen ihm auf Schritt und Tritt die drei Feen des Palasts, um seine Charmezauber aufrechtzuerhalten. Die Pläne seines Vaters hinsichtlich Balica bringen ihn zu sehr in Rage, als dass er jegliche Gelassenheit vorspielen könnte. Wenn diese Zauber nur auch bei den Ratsmitgliedern wirkten, hätte Cyrus wohl weitaus mehr Verbündete.
Bei der nächsten Ratsversammlung berichtet der General, dass Patrouillen einen ungewöhnlich großen Raben aufgespürt haben, der am Himmel seine Kreise zieht, ihn aber bisher nicht abschießen konnten, weil er jedes Mal in den Feenwald entwischt. Zuletzt wurde er in der Nähe des Dritten Herzogtums gesichtet, näher an der Sonnenstadt als je zuvor.
Ich überlege, irgendjemandem – König Emilius oder Cyrus, Dante oder sogar Camilla – von meinen Gesprächen mit der Hexe zu erzählen. Zuzugeben, was sie von mir verlangt hat, damit sie genau wissen, wie gefährlich und unirdisch sie ist. Doch es gibt zu viel, was ich gestehen müsste, erklären müsste, und meine Zunge ist von all den Wahrheiten, die ich bisher ausgelassen habe, wie zugeknotet. Wenn ich ihnen erzählen würde, wie die Hexe mich dazu bringen wollte, Cyrus zu töten, wüssten sie, dass ich versucht war.
Und wenn sie von dem Dorn wüssten, hätten sie womöglich sogar Angst vor mir .
Meine alltäglichen Aufgaben wiederaufzunehmen, ist eine unerwartet willkommene Ablenkung. Die Fäule an meinem Turm wurde inzwischen vollkommen entfernt, was bedeutet, dass ich wieder Besucher empfangen kann. Der Anblick am Fuß des Turms auf dem Weg nach oben ist gespenstisch. Wo die schwarzen Stellen abgekratzt wurden, schlängeln sich bereits frische Rankentriebe empor, um die Lücke zu füllen. Sie wachsen so geschwind, dass man ihnen bei genauerer Betrachtung regelrecht dabei zusehen kann.
Weniger erfreulich ist dagegen, dass ich immer öfter Kopfschmerzen bekomme. »Auf Wiedersehen Turmfäulnis, willkommen Hirnfäulnis«, grummle ich, während ich die Tür zum Lesungssaal öffne.
Ich zwinge mich, drei Lesungen durchzuhalten, in denen ich von Zukünften murmele, die zur Hälfte blanker Unsinn sind. Die Menschen sind so was von durchschaubar. Es ist nicht schwer herauszufinden, was sie hören wollen, selbst wenn mein Schädel dröhnt. Ihre Unsicherheiten verbergen sich in Worten, ein Lachen erzählt von ihren Wünschen.
Am Turm trifft eine Mutter mit ihren zwei Töchtern ein. Die eine ist ungefähr in meinem Alter, die andere zu jung, um irgendetwas anderes zu tun, als zu seufzen und gegen den Tisch zu treten. Die ältere Tochter hatte sich darauf vorbereitet, in das Sechste Herzogtum zu ziehen, um ihren wohlhabenden Cousins als Kindermädchen zu dienen, doch das Reisen ist weiterhin gefährlich. Immer wieder gelingt es Bestien, sich an den Wachposten der Armee vorbeizuschmuggeln.
Meine Hände sind schweißnass, während ich die Lesung durchführe. Ich sehe eine kurze Szene ihrer Ankunft in den Fäden, viel mehr jedoch nicht.
Die Mutter unterbricht mich mittendrin: »Sehende Meisterin, verzeiht, wenn ich das frage, aber geht es Euch nicht gut?«
Ich halte mir die Hand an die Stirn. Sie glüht.
Mittags schmettert mich die Erschöpfung nieder. Ich versuche im Bett zu bleiben, doch der Gedanke daran einzuschlafen, erfüllt mich mit Grauen. Ich träume und wache, träume und wache, erinnere mich nur an Fetzen dessen, was ich gesehen und gehört habe. Was bleibt, ist ein beharrlich beängstigendes Gefühl in meinem Nacken, in irgendeinem anderen Teil meiner Gedanken beobachtet zu werden.
Die Hexe verhöhnt mich aus den tiefsten Schatten meines Bewusstseins:
Wie sich unser Glück gewendet hat, nur weil ich nach Macht zu greifen wage. Ich war einst so trotzig wie du, als ich es noch nicht besser wusste. Du hast den schweren Weg gewählt, doch auch du wirst lernen .
Der Rand meiner Gedanken löst sich in ein mit Reißzähnen bestücktes, weit aufgerissenes Maul einer Bestie auf.
Die Bestien sind hungrig. Er wird sterben, Krieg wird ausbrechen und du wirst sein Verderben sein .
Die Dunkelheit zersplittert in ein blendendes Licht. Ich setze mich im Bett auf und die Sonne strahlt mir in die Augen. Fluchend ziehe ich die Decke über den Kopf und lasse mich wieder in mein Kissen sinken, die Ruhe ist dahin.
Besorgt besuchen mich in den nächsten Tagen Camilla und Dante, aber nach ein wenig Bettruhe fühle ich mich schon etwas besser. Wahrscheinlich weil unterdessen keine störenden Stimmen mehr meinen Schlaf unterbrechen – ein revolutionäres Heilmittel.
Mehrere Morgen, an denen ich noch wacklig auf den Beinen bin, sind vergangen, als ein vertrauter Falke an die Fensterscheibe klopft.
Er starrt mich aus wachsamen Knopfaugen an, während ich das Fenster öffne. An seinem Bein ist ein cremefarbener Zettel mit Cyrus’ Siegel festgebunden. Schon klar, da küsst man den Prinzen ein paarmal und daraufhin schreibt er einem unaufhörlich Briefe.
Die Nachricht ist so simpel wie sonst auch: Habe gehört, es geht dir besser. Können wir uns in meinem Arbeitszimmer treffen?
Manchmal, wenn das Sonnenlicht auf meinen Lesungstisch fällt, muss ich an Cyrus denken, wie er sich dagegen lehnt. An die Berührung seiner Lippen, die meinen Nacken so hinterhältig wie ein Geheimnis streifen. Wie die anderen Nachrichten sollte ich auch diese einfach zerknüllen. Sollte ihn weiterhin ignorieren, weil seine Hochzeit unmittelbar bevorsteht und es leichtsinnig scheint, die Dinge aufzuwühlen, nun, da wieder Stille eingekehrt ist.
Oder aber ich könnte es ihm gleichtun.
Ich sehne mich nach ein wenig Freude und kann dem Gedanken nicht widerstehen. Ich binde mir den Zopf noch einmal ordentlicher nach und suche mir aus der hintersten Ecke meines Schranks ein Kleid heraus, dessen herzförmiger Ausschnitt Camilla einen Pfiff entlocken würde. Der Stoff ist in ein schmeichelhaftes Dunkelrot getaucht, Libellen sind mit silbernen Fäden darauf gestickt und um die Hüfte schmiegt sich eine Schärpe. Alles in allem ist es etwas filigraner und figurbetonter als meine üblichen Kleider, aber wirkt nicht so offensichtlich verführerisch, als hätte ich es darauf abgesehen, ihn in Versuchung zu führen.
Was vielleicht gar nicht so abwegig ist.
Über dem Kleid trage ich noch meine Robe, denn immerhin ist es ein offizieller Besuch.
Während ich die Brücke zum Palastgelände überquere, gehe ich im Kopf diverse Unterhaltungen durch, die jeglichen Grund abdecken, aus dem Cyrus mich zu sich gerufen haben könnte. Wenn er nach den Plänen seines Vaters für die Hochzeit fragt, werde ich so tun, als wüsste ich nur ein paar Details. Wenn er möchte, dass ich ihm einen Gefallen tue, werde ich von ihm ebenfalls eine kleine Entschädigung verlangen – ohne Vertrauen ist Erpressung die einzig gültige Währung.
Dann gäbe es da noch weniger unschuldige Beweggründe und ich schlucke, als ich mich daran erinnere, wie sein Mund auf meinem brennt. Die Ärmel meines Kleides fallen so schon fast von meinen Schultern. Er könnte sie mühelos abstreifen, wenn das alles wäre, was er wollte.
Ich kneife mich in den Arm.
Nachdem ich mich durch die weniger geschäftigen Wege schlängele, betrete ich durch einen Seiteneingang den äußeren Hof. Die meisten cremefarbenen Blüten der Magnolienbäume sind zu Boden gefallen und ich kann keine unbeschädigte finden, die ich noch pflücken könnte. Am gegenüberliegenden Bogengang erhasche ich das Flattern eines violetten Umhangs, gefolgt vom Schimmer goldener Stiefelspitzen, die sich in Richtung meines Turms bewegen.
»Cyrus?«
Die Stiefel machen ein paar Schritte zurück, er ist es wirklich . »Guten Mor…gen.« Ihm scheint etwas in der Kehle zu stocken, als ich auf ihn zugehe, meine Robe aufflattert und das Kleid darunter zum Vorschein kommt.
»Ich dachte, wir wollten uns in deinem Arbeitszimmer treffen.«
»Ich dachte, du würdest meine Nachricht wieder ignorieren.« Cyrus lässt seinen Blick über mich schweifen, während das Geräusch von Flügelschlägen über mir meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vermutlich glaubt er, dass ich nichts bemerke. Sein Falke hat sich auf einem tief hängenden Ast über uns niedergelassen. »Du holst dir noch eine Erkältung«, sagt er.
»Nicht, wenn du mich weiter so anstarrst. Was willst du diesmal?«
Er hält inne, als wollte er sein Anliegen nun, da er mich so gesehen hat, noch einmal überdenken. »Meine schüchterne Braut hat voreheliches Lampenfieber und es wäre sehr hilfreich, wenn die Seherin sie beschwichtigen könnte.«
Also gehen wir letztendlich doch nicht in sein Arbeitszimmer und auch nicht in Nadiyas Gemächer, sondern stattdessen in Camillas, wo Nadiya wohl die meiste Zeit verbringt.
Auf dem Weg dorthin schweigen wir größtenteils. Keiner von uns beiden ist daran interessiert, eine belanglose Unterhaltung vorzutäuschen, und alles andere können wir hier nicht offen besprechen. Ich frage ihn allerdings leise: »Wie stehen die Dinge mit deinem Vater?«
»Er hat mich noch nicht verstoßen«, ist seine optimistische Antwort.
Im königlichen Palastflügel muss ich niesen, woraufhin ich neben uns die Feen schweben sehe. Ich versuche sie zu verscheuchen, doch sie driften nur außer Reichweite. Eine von ihnen dreht sich einmal um sich selbst und eine Blume erblüht mitten in der Luft – eine perfekte Magnolie. Sie gleitet auf meine Handfläche hinab.
»Danke?« Ich stecke sie mir hinter das Ohr und die Feen sausen davon.
Obwohl Cyrus nach vorn blickt, kann ich sehen, wie sich auf seinen Wangen ein Lächeln abzeichnet. »Sie mögen dich.«
»Aber wieso?«
»Ich könnte mir dieselbe Frage stellen.« Kann man es noch als Flirten bezeichnen, wenn er es wie eine Beleidigung klingen lässt? »Manche Menschen glauben, dass Feen von Hoffnung angezogen werden.«
»Das klingt, als lägen manche Menschen falsch .«
Das Vorzimmer zu Camillas Gemächern ist ein komfortabler Aufenthaltsbereich. In einer Art Kaleidoskop an der Decke spiegelt sich mein Gesicht über mir und von einem tief hängenden Kronleuchter tropfen Saphire.
Sobald Cyrus die äußeren Türen hinter sich schließt, entspannen sich seine Schultern erleichtert, als sei der öffentliche Weg hierher für ihn der schlimmste Teil gewesen. Er streicht sich mit einer Hand durchs Haar, wobei er es weiterhin vermeidet, mich direkt anzusehen. »Camilla konnte Nadiyas Selbstvertrauen mit ihren Ausflügen in die Stadt schon ein wenig aufbauen, aber sie ist noch immer … ängstlich«, erklärt er. »Sie wird nervös, sobald jemand die Hochzeit auch nur anspricht, was kein gutes Zeichen für die eigentliche Hochzeit ist. Sie fürchtet sich vor dem, was du in ihrer Zukunft gesehen hast. Davor, dass die Hexe hier erscheint. Was verständlich ist … aber der Palast wird vollständig abgeriegelt sein und die Hochzeit muss nun mal stattfinden. Es würde sie sicherlich beruhigen, wenn du in ihrer Zukunft Erfreulicheres siehst.«
»Ich entscheide nicht darüber, was ich sehe«, sage ich wie selbstverständlich. »Die Zukunft ist, was sie ist.«
»Dann … tu das, was du am besten kannst.«
Ich neige den Kopf zur Seite, als die Verwirrung einem hämischen Vergnügen weicht. »Prinzchen. Du bittest mich doch nicht etwa, sie anzulügen ?«
»Ich bitte dich zu tun, was du am besten kannst.« Mit einem Mal nimmt er eine schnurgerade Haltung an, räuspert sich und klopft an die Flügeltür des Schlafzimmers. »Ich bin es, Cyrus«, ruft er. »Ich habe Violet mitgebracht.«
Die Türen schwingen auf und eine Wolke aus gelben Blüten wirbelt mir ins Gesicht. »Violet, du siehst gut aus, den Sternen sei Dank«, höre ich Camilla von irgendwo hinter dem Ansturm aus Blumen rufen.
Das Zimmer der Prinzessin hat sich in ein Labyrinth aus Kleidern verwandelt. Brokat, schimmernde Seide und faltenreicher Taft hängen in allen erdenklichen Farben an zickzackförmig aneinandergereihten Ständern. Riesige Blumensträuße und Beistelltische, auf denen sich Leckereien stapeln, füllen die Lücken. Allein hier drinnen gibt es genügend Dinge, um problemlos zehn Hochzeiten auszurichten.
Camilla ist ausnahmsweise einmal die am wenigsten dekorierte Sache im Raum, denn sie bekleiden lediglich ein Handtuch und eine klebrige Gesichtsmaske. Aus dem dampfenden Badezimmer hinter ihr strömt ein fruchtiger Duft. Cyrus legt den Kopf in den Nacken und schaut mit einem mürrischen Grummeln an die Decke, woraufhin sie ihm die Zunge herausstreckt und zurück in den Dampf schlendert. »Lasst euch von mir nicht stören. Nadiya ist beim Sofa.«
Ein Sofa kann ich nicht sehen , dafür höre ich es rascheln und zwischen einer überwältigenden Anzahl Unterröcke taucht das zierliche Gesicht des Mädchens auf. »Hallo, Sehende Meisterin! Entschuldigt, dass Ihr nur für mich hierherkommen musstet.«
Nachdem ich mir einen Weg um die Kleiderständer herum gebahnt habe, entdecke ich Camillas überfüllte Sitzecke, an deren Ende ein Gestell mit lauter Stoffproben und ein Nähtisch voller Spulen mit Seidenbändern steht. Nadiya bringt hastig ein Tablett mit Kaffee herüber und steigt dabei geschickt über Katastrophe hinweg, die es sich in einem Sonnenfleckchen gemütlich gemacht hat. Cyrus nimmt eine der Tassen entgegen, ich lehne ab und sie stellt das Tablett zurück auf die Anrichte.
»Ich wäre zu Euch in den Turm gekommen, doch sobald ich mich nur vor die Tür wage, scheint es unversehens die ganze Stadt zu wissen«, sprudelt sie wie ein Wasserfall los. »Ich schwöre es, Adlige lauern mir sogar hinter Blumentöpfen auf, um mich auszufragen. Sie wollen Informationen über Balica oder wissen, was meine Absichten sind und ob ich nicht doch eine Hexe bin. Wie geht es Euch? Ihr seht heute bezaubernd aus, Sehende Meisterin. Oh, und Ihr natürlich auch, Eure Hoheit.«
»Cyrus genügt völlig«, erinnert sie der Prinz, wie es scheint zum x-ten Mal.
»Ich bin mir sicher, dass Ihr mehr als genügt, Eure Hoheit«, antwortet Nadiya, ohne auf den Trichter zu kommen, was er gemeint hat.
Nur damit sie aufhört hin- und herzulaufen, nehme ich mir einen Keks von dem zweiten Tablett, das sie herüberbringt. »Du bist heute ausgesprochen gesprächig.«
»Ihre Hoheit meint, es sei überbewertet, mysteriös zu wirken. Also versuche ich mich darin, Konversation zu betreiben.« Nadiya kichert atemlos. »Sie sagt, man müsse nur so tun, als habe man etwas Wichtiges zu sagen, dann strahle das Selbstvertrauen aus.«
»Arbeitest du für die Hochzeit an deinem Selbstvertrauen?«
»Oh, ich …« Sie setzt sich und faltet über ihrem eierschalenblauen Rock im Schoß die Hände zusammen. »Seine Hoheit hat Euch wahrscheinlich von meinen Sorgen erzählt.«
»Ist es die Hexe, vor der du dich fürchtest?«
»Mehr als das.« Ihre Lippen verziehen sich erst in die eine, dann in die andere Richtung, während sie nach einem passenden Ausdruck suchen. »E… es wird solch ein langer Tag werden, Sehende Meisterin. Eine lange Feier nach der anderen und dann noch ein ganzes Festmahl … Ich weiß nicht, ob meine Feenzauber so lange halten werden. Beamte aus Balica werden dort sein, Menschen, die meine Herrin persönlich gekannt haben. Wegen der schwierigen Reisebedingungen glücklicherweise nicht viele … Oh, natürlich meine ich damit nicht, dass ich dankbar bin, dass die Bestien das Reisen erschweren.« Nadiyas Stimme wird piepsig und blechern. »Ich habe Briefe von ihrer Schwester bekommen, die die Reise unbedingt auf sich nehmen will, und ich … ich weiß einfach, dass sie dahinterkommen wird. Ich befürchte …«
»Das kann ich verstehen«, unterbreche ich sie, bevor sie vor Sorge noch hyperventiliert. »Es ist nicht gerade optimal. Allerdings würdest du überrascht sein, was Menschen alles glauben, nur weil sie es glauben wollen. Und viele von ihnen wollen , dass du Raya bist. Sie wollen, dass sie lebt und ihnen Hoffnung gibt. Ich kann einen Blick in deine Fäden werfen, wenn dich das beruhigt. Vielleicht konnten wir die Zukunft bereits ändern.«
»Das wäre nett. Ich wünschte, ich müsste das alles nicht durchmachen.« Mit einem hektischen Winken fügt sie hinzu: »Nehmt es mir nicht übel, Eure Hoheit. Ich bin mir sicher, die Leute würden Schlange stehen, um euch zu heiraten.«
Cyrus lächelt in seine Tasse. »Aber in keiner ordentlichen.«
»Ich habe mich …vergebt mir, aber ich habe mich darauf gefreut, mich eines Tages zu verlieben.«
»Das ist doch durchaus noch möglich, hm?«, entgegne ich trocken und halte ihr die Hände hin. »Komm, lass mich nachsehen.«
Nadiya legt ihre Hände in meine. Ich erinnere mich nur zu gut an das, was ich das letzte Mal gesehen habe, und stähle mich für die grausamen Szenen, die kommen werden. Mit geschlossenen Augen stürze ich mich in die Dunkelheit. Aus der Ferne rufen mich vergangene Fäden zu sich, doch ich ignoriere sie. In der Zukunft …
In der Zukunft sehe ich nichts, nicht einmal verschwommene Fäden, die sich nur zurückhalten.
Ich sehe nichts als Leere. Die Abwesenheit dessen, was dort sein sollte, es aber nicht ist.
Als ich meine Lippen schürze, fällt mir wieder ein, dass ich Nadiya gut zureden sollte. »Hmm«, murmele ich ermutigend, während ich innerlich laut aufschreien möchte. So etwas ist noch nie vorgekommen.
Doch auch die vergangenen Nächte waren ungewöhnlich traumlos. Das letzte Mal hat sich meine Gabe von selbst geregt, als ich Anfang der Woche diesen unruhigen Fiebertraum hatte, in dem mich die Hexe verspottet hat …
Ich öffne die Augen und erwidere ohne ein Blinzeln Nadiyas Blick. »Die Hochzeit wird reibungslos verlaufen«, lüge ich. »Lass den Kopf nicht hängen, trink nicht zu viel und bleib in der Nähe des Prinzen. Ich würde dir raten, zwar ein wenig Magie aufzutragen, aber nicht so viel, dass du die Menschen damit verzauberst. Nicht so viel, dass jemand Verdacht schöpfen würde, falls der Zauber doch nachlässt.«
»Oh … okay.« Mit einem eher höflichen als aufrichtigen Lächeln lehnt sie sich zögerlich zurück.
Ich halte ihre Hände noch einen Moment länger fest und füge hinzu: »Hochgeborene reden gerne, haben aber kein Rückgrat. Lass dir das von jemandem sagen, der mittellos auf die Welt kam. Du magst vielleicht nicht wissen, wie man mit einem König feilscht, aber du kannst dir selbst treu bleiben und besser sein als jeder König. Du hast es so weit geschafft, Nadiya Santillion. Die Zukunft ist nicht immer gütig, aber das hat dich bis jetzt auch nicht aufgehalten.«
Ein breites Lächeln erstrahlt auf ihrem Gesicht. »Ich danke Euch, Sehende Meisterin. Ich werde mein Bestes geben.«
Vielleicht werden diese Worte des Zuspruchs die Zukunft auf irgendeine klitzekleine Weise beeinflussen. Das ist alles, worauf ich hoffen kann. Meine Gedanken wandern zu der Leere meiner Magie zurück. Ein Grauen breitet sich in meinem Magen aus. Was passiert mit mir?
Camillas Summen und das Geräusch von laufendem Wasser hallen aus dem Bad herüber. Neben mir klappert besonders laut die Porzellantasse, von der ich weiß, dass sie Cyrus gehört. »Ich sollte jetzt gehen«, sage ich. Bei der fröhlichen Dekoration bekomme ich auf einmal Platzangst.
Cyrus folgt meinem Beispiel und steht ebenfalls auf. »Ich begleite dich.«
Ich werfe ihm einen scharfen Blick zu. »Ich weiß, wie ich zurück zu meinem Turm komme, Prinzchen.«
Er legt in aller Unschuld eine Hand auf sein Herz. Bei den Göttern, sein Charme ist wirklich lächerlich, wenn er ihn bei mir einsetzt. »Du hast dich noch nicht vollständig erholt. Was, wenn du ohnmächtig wirst?«
»Dann mögen mich die Arme eines Rosenbuschs auffangen.«
Ich gehe und höre dabei, wie er sich hinter mir von Nadiya verabschiedet.
Im Gleichschritt verlassen wir Camillas Gemächer. Sobald niemand in unserer Nähe ist, fragt Cyrus: »Hast du sie angelogen?«
»Natürlich. Du schuldest mir was, du Heuchler.«
»Die Zeiten sind womöglich zu verzweifelt, um sich auf die Wahrheit zu verlassen«, lenkt er ein und fährt sich dabei mit den Händen über die goldene Bordüre seines Mantels. »Felicita hat uns den Untergang prophezeit, ich bin mit einem glücklosen Mädchen verlobt, das sich verstellen muss, wir müssen die Herzöge und meinen Vater im Zaum halten – und dann bist da noch du.«
Ich. Die, die er begehrt. Von der er sich wünscht, dass sie nie in sein Leben getreten wäre.
»Aber wann warst du jemals kein Problem?«, seufzt Cyrus. Ein paar lange, stille Schritte später dreht er sich um, sodass er vor mir steht. Er spielt mit seinen Fingern am Kragen herum. »Violet …«
»Versteh mich nicht falsch«, sage ich, bevor sich der süße Ton wieder in seine Stimme stehlen kann. »Ich versuche lediglich zu verhindern, dass uns diese Prophezeiung alle umbringt. Das ist alles.« Und das mache ich noch nicht einmal sonderlich gut.
Er grinst. »Hast du dich deshalb für mich hübsch gemacht, ja?«
»Wie arrogant, das anzunehmen.«
»Kommst du mit mir in mein Arbeitszimmer?« Seine Frage ist offenkundig ein Angebot.
Ich öffne gerade den Mund, um abzulehnen, da fügt Cyrus sanft hinzu: »Nur dieses eine Mal noch?«
Ein letztes Mal, bevor er heiratet, meint er. In diesem Kleid, das ich natürlich für ihn angezogen habe, erscheint mir das Flattern, das seine Worte in mir auslösen, noch absurder. Als entblöße mein tiefes Dekolleté nicht nur die Wölbung meiner Brust, sondern mein Herz selbst. Würde uns jetzt irgendjemand beobachten, würde er sicherlich sagen, dass es für den Prinzen und die Seherin keinen Grund gibt, sich so eindringlich anzusehen, und dass an dem Blick, den er über mich gleiten lässt, nichts unschuldig ist.
Doch da ist niemand.
Also folge ich ihm in sein Arbeitszimmer.