Für mich allein beschließe ich, die Sonnenstadt zu verlassen.
Jede Nacht frage ich mich, wo die Hexe gerade ist. Jede Nacht fürchte ich, ihre Stimme in meinen Träumen zu hören. In der Zukunft, die ich gesehen habe, als ich ihre Hand genommen hatte, war ich glücklich, aber nicht ich selbst. Wie viel von der Reue, die in meiner Brust schwelt, ist Bedauern, nicht an ihr festgehalten zu haben?
Sie sagte, sie hätte gesehen, dass wir zu Großem berufen sind. Ich glaube nicht, dass sie gelogen hat, denn das war der einzige Grund, aus dem sie mich verschont hat. Aus dem sie mir die Gelegenheit gab, mich ihr anzuschließen. Sie hat nur nicht erwartet, in dem Faden der Zukunft zu landen, in dem ich sie abweise.
Um ehrlich zu sein, habe ich das selbst nicht.
Wo auch immer meine Zukunft nun liegen mag, sie liegt nicht länger in Auveny. Hier, wo mich die Erinnerungen verfolgen und die Hilflosigkeit quält, bin ich ein wandelnder Schatten.
Meine Abreise aus der Sonnenstadt vorzubereiten, dauert nicht lange. Meine Truhe Habseligkeiten aus dem Turm ist bereits gepackt, ich muss lediglich noch ein paar Vorräte zusammensammeln. Um zu vermeiden, dass die Angelegenheit zu sehr aufgebauscht wird, habe ich nicht angekündigt, dass ich Auveny verlassen werde. Ich werde Camilla vermissen, aber wir können uns immer noch Briefe schreiben und sie hat ohnehin andere Freunde.
Ich habe kein Ziel vor Augen, allerdings bleibt mir auch keine große Wahl. Die Grenzgebiete brennen. Balica zu durchqueren, ist keine Option und es ist schwer, in den Norden nach Verdant zu reisen. So bleibt nur der Mondkontinent auf der anderen Seite des Meeres, wo sie hoffentlich noch kaum von mir gehört haben.
In dem Gästezimmer des Palasts, wo ich neuerdings übernachtet habe, wasche ich mich und mache mich bettfertig. Als ich gerade meinen geflochtenen Zopf entwirre, ertönt an der Tür ein kurzes, energisches Klopfen.
Als ich sie öffne, knalle ich sie fast sofort wieder zu. Eine in einen Mantel gehüllte Gestalt steht vor mir im Flur. Doch ich erkenne den Rhythmus seines Atems und allmählich auch die Konturen seines Körpers. »Cyrus?«
Cyrus schiebt die Kapuze zurück. An den Seiten seines Kopfs funkeln die Spitzen zwei gläserner Hörner.
Vor Erstaunen bleibt mir der Mund offen stehen und ich lasse ihn geschwind herein.
Cyrus setzt sich auf das Bett und legt die Robe ab. Sein Gesicht ist rau geworden, wie Baumrinde. Er rollt die Ärmel hoch und entblößt seine Arme, die mit filzigem Moos bedeckt und dort, wo er neue Triebe gekappt hat, mit abgebrochenen Stielen übersät sind.
Und einfach so fange ich wieder an zu zittern. Natürlich war mein Blut nur ein vorübergehendes Heilmittel, genau wie Nadiyas Feen nur einen Teil der dunklen Magie absorbieren konnten. Der Fluch lebt in seinem Herzen weiter, fließt unentwegt durch seine Adern.
Ich durchquere das Zimmer und suche in dem startklaren Rucksack nach dem Messer, das ich schon eingepackt habe. »Seit wann?«, frage ich und ziehe auch eine Rolle Bandagen heraus.
»Meine Haut verändert sich schon seit Tagen immer mal wieder. Ich dachte, es würde aufhören. Aber dann kamen die Hörner …«
»Wieso dachtest du, es würde einfach so aufhören , Prinzchen?« Ich wirbele zu ihm herum, beiße mir zu spät auf die Zunge. Cyrus ist jetzt König. »Ich weiß, dass du eintausend andere Dinge um die Ohren hast, aber denkst du etwa nicht, die Tatsache, dass du dich zurück in ein Biest verwandelst, sollte auf der Stelle in Angriff genommen werden?«
Mit dem Messer öffne ich den Rand der Wunde auf meiner Handfläche. Ohne eine unmittelbare Bedrohung schmerzt es mehr, mir ins Fleisch zu schneiden, als ich es in Erinnerung hatte. Tränen treten in meine Augen. Ich setze mich neben ihn und reiche ihm meine Hand, die er sanft am Gelenk fasst. Sein Mund verzieht sich zu einer Grimasse, wenngleich ich höre, wie seine Zunge von innen über seine Zähne fährt.
Ich begreife, dass er sich selbst anwidert.
Nun schließt er die Lippen um meine Wunde und trinkt. Der Schnitt ist kleiner und das Blut strömt nicht so heraus wie beim letzten Mal. Diesmal dauert es auch länger, bis die Hörner schrumpfen und die Pflanzen verwelken. Wir sprechen nicht, schauen einander nicht einmal wirklich an, aber manchmal spüre ich, wie sich sein Griff verstärkt und mein Puls unter seinem Daumen zu rasen beginnt.
Als er wieder ganz er selbst ist, lässt Cyrus sich rückwärts auf das Bett fallen und stöhnt erleichtert auf. Darauf bedacht, kein Blut auf mein weißes Nachthemd tropfen zu lassen, fange ich an, meine Hand zu verbinden.
Es dauert eine Minute, bis er sich wieder aufsetzt und den Blick durch das Zimmer und über die ordentlich gefaltete Kleidung und meine Reiseausstattung schweifen lässt.
»Willst du etwa …?«, setzt er an.
»Du wirst mich endlich los.«
»Du kannst nicht gehen«, sagt Cyrus mit absoluter Gewissheit, während er meinen Verband anstarrt.
Ich begreife, was er damit meint, und lache stockend. »Weil du mein Blut brauchst? Du scheinst nicht klar zu denken. Du solltest eindeutig ebenfalls gehen. Überlasse Camilla den Thron oder so. Sieh dich doch an. So kannst du nicht regieren.«
»Wenn ich den Thron meiner Schwester überlasse, kann ich das Königreich auch gleich selbst in Brand setzen. Das würde dasselbe bewirken, nur schneller. Sie würde es tun, wenn auch nur widerwillig – aber nein, ich muss regieren. Sonst wäre das, was Dante getan hat … völlig bedeutungslos.«
Ich erinnere mich wieder, mit wem ich es hier zu tun habe. Der einstige Prinz, der an einer Krankheit leidet, die er Mut nennt. Also lache ich ihm noch lauter ins Gesicht, damit er es endlich begreift. »Was geschehen ist, ist geschehen. Dein Vater ist tot … Wen kümmert es, warum? Zur Hölle mit dem Wohl des Königreichs! Die Herzöge waren bereit, dir wegen einer Prophezeiung, die noch nicht einmal eingetroffen war, deinen Thron vorzuenthalten. Jetzt ist sie eingetroffen und du verwandelst dich in ein Biest . Das wird dich deinen Kopf kosten .«
Doch wie immer verwechselt Cyrus den Willen zu überleben voreilig mit Selbstsüchtigkeit. An seinem stumpfen Blick erkenne ich, dass er es nicht versteht, dass für ihn nichts davon lachhaft ist, nicht einmal ansatzweise. »So müssen sie mich ja nicht zu Gesicht bekommen. Was auch der Grund ist, weshalb du bleiben musst. Wir können uns einmal die Woche treffen, so wie jetzt … das sollte genügen.«
»Nein.« Ich erhebe mich und er springt wütend auf.
»Das ist alles deine Schuld!« Da ist sie ja, die Schärfe, die er bis jetzt zurückgehalten hat. Es ist meine Schuld. Und genau davor laufe ich fort, das weiß ich.
»Du wirst uns noch beide umbringen.« Ich wende den Blick von ihm ab.
»Muss ich dir erst drohen?«
»Ich habe nichts zu verlieren.«
Als Cyrus mein Kinn zu sich neigt, starrt er mich nur mit stiller Verzweiflung an und fragt dann: »Was willst du dafür, dass du bleibst, als Gegenleistung?«
»Nichts, was du mir geben könntest.«
»Ich kann dich zur Königin machen.«
Blut rauscht in meinen Ohren.
Ich kenne diesen Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich habe ihn hoffnungsvoll und erschöpft und monströs gesehen – immer wunderschön, egal in welchem Zustand. Seine geröteten Wangen sind auf eine mysteriös wirkende Weise von Schatten umspielt und immer noch voller Sonnensprossen – genauso wie bei dem Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin. Sein Blick ist weder hinterlistig noch drängend. Nicht einmal wirklich angewidert.
Sein Daumen streicht nachdenklich über mein Kinn. »Ich wusste schon immer, dass die Königin an meiner Seite besser aus Eis als aus Fleisch und Blut gemacht sein sollte«, raunt er. »Dass es grausam wäre, jemanden zu lieben, der weniger belastbar ist. Doch nie hätte ich gedacht, dass ich so willens dazu wäre.«
Ich umklammere den Stoff meines Kleids, denn ich bin nicht länger besorgt, es mit dem Blut zu beschmieren, das noch immer aus meiner Handfläche sickert. Habe ich ihm nicht schon genug angetan? Ich erinnere mich, wie er zwangsläufig sagte, ich sei diejenige, die Felicitas Prophezeiung entscheiden würde. Das kann er doch nicht immer noch glauben. Die Prophezeiung ist eingetreten. Die Verdammnis ist eingetroffen.
Allerdings ist die Hexe immer noch dort draußen und der Krieg hat noch nicht begonnen.
Und ich könnte immer noch seine Braut werden …
Mir schwindelt davon, ein Spiel gewonnen zu haben, das ich gar nicht erst spielen sollte. »Die Menschen … sie würden mich niemals akzeptieren. Obendrein … Was würde es mir bringen, mich an einen dem Untergang geweihten König zu binden?«
»Sie akzeptieren alles, was ihnen genug Unterhaltung verspricht. Das weißt du besser als sonst jemand. Und außerdem, wo willst du sonst hin?« Cyrus deutet auf meine wenigen Habseligkeiten. »Du kennst nichts anderes als das Leben in dieser Stadt. Und ich kann dir deine Reise so schwer machen, dass du von ganz allein wieder zurückkehren möchtest.«
Nun ist es an mir, finster dreinzublicken. »Ich komm schon zurecht. Du brauchst mich mehr als ich dich.«
»Dann brauchen wir uns wohl noch immer beide.«
Die ganze Zeit schon überschlagen sich meine Gedanken. Die Sache ist ja, dass ich mit Cyrus’ Hilfe wirklich eine erinnerungswürdige Geschichte zu erfinden vermag. Eine, die mich von allen meinen Taten reinwaschen könnte – sogar wenn ich dann noch immer wie ein schmachtendes Fräulein aussehen würde. So muss es sein. Kleine Lügen werden leichter geschluckt. Es wird eine schicksalhafte Liebesgeschichte sein, die die Welt alles andere vergessen lässt.
Mein Herz rast – nicht vor Angst, sondern vor Aufregung.
Ein Grinsen breitet sich auf Cyrus’ Gesicht aus. Die erste Freude, die seit der verpatzten Hochzeit seine Züge ziert. »Du hast bereits einen Plan, nicht wahr? Verrat ihn mir, Violet. Spinne uns Fäden aus Gold.«
Es würde uns einiges an Theater abverlangen und dem Risiko würde er niemals zustimmen. Die Formation auf dem Spielbrett hat sich gewandelt. Sein Vater ist nicht mehr da, seine Verbündeten sind flatterhaft. Die Herzöge sind im Begriff zu rebellieren. Doch wenn die Wahl darin besteht, davonzulaufen oder sie alle hereinzulegen … den Thron zu besteigen, nach dem es alle gelüstet hat …
»Es muss überzeugend sein«, sage ich und halte ihm meine Hand hin, »und würde an ein Wunder grenzen, wenn es gelingt.«
Cyrus lässt die Lippen auf meine verbundene Handfläche sinken. »Dann geben wir ihnen ein Wunder.«