Die Zentralverriegelung öffnete sich mit einem Klacken. Knut nahm das Gepäck und ging damit zum Bus. In den Staub auf der Tür hatte jemand in krakeligen Buchstaben etwas geschrieben. Die Nachbar-Kids fanden es gerade witzig, ›Wasch mich!‹, Strichmännchen oder Pimmelbilder an die Autos zu malen. Auf der Tür stand das Wort »Opfer«. Knut zog die Augenbrauen hoch. »Opfer« – In einer Gegend, wo eigentlich nur Privilegierte wohnten, hatte das schon eine gewisse Komik.

Knut fiel ein, wie er früher vor dem Einschlafen oft gedacht hatte, dass er sich bei Gott bedanken müsse. Dafür, dass er oder das Schicksal es so gut mit ihm gemeint hatte. Wie naiv das gewesen war. Heute war Knut sich voll bewusst, dass er in der Lotterie des Lebens einfach das große Los gezogen hatte. Als Kind einer intakten Akademikerfamilie, als weißer, nichtbehinderter, heterosexueller Mitteleuropäer, aufgewachsen in einem behüteten Reihenhausviertel wie diesem.

Die Heckklappe schwang auf. Knut verstaute sein Gepäck im Laderaum. Den Rucksack und die Tasche mit den Büchern, die Kreilich als Pflichtlektüre genannt hatte. Kant, Aristoteles, Utilitarismus … das waren die Prüfungsthemen. Kreilich wollte immer, dass sie mit den Originaltexten arbeiteten und nicht nur mit Auszügen. Knut bereute es nicht, dass er Ethik gewählt hatte. Die Klarheit im Denken, das war etwas, was ihn wirklich interessierte.

Er stieg ein und startete den Motor. Vorsichtig steuerte er den VW-Bus aus dem Carport vor dem Reihenhaus. Knut hatte den Führerschein erst seit vier Monaten, pünktlich zum Achtzehnten. Vier Monate, in denen er den Wagen bei jeder Gelegenheit genutzt hatte. Seine Eltern waren da zum Glück ganz entspannt. Sie fanden, dass er möglichst schnell möglichst viel Fahrpraxis sammeln sollte. Es passte, dass sie gestern zu einem Kongress nach Brüssel geflogen waren und der Bus das ganze Wochenende frei war.

Knut öffnete die Playlist. Die Bässe wummerten aus der Anlage. Vorfreudig trommelte Knut dazu auf dem Lenkrad. Er würde es locker schaffen, pünktlich um zwölf am Europaplatz zu sein, um die anderen abzuholen.

Esther stand am Küchentresen und packte den Proviant ein. Die Frischhalteboxen bestanden zu 60 Prozent aus recyceltem Meeresplastik. Es war Esther wichtig, ein Wertesystem zu haben. Zu wissen, was gut war und was schlecht. Es war schlecht, dass die reichen Länder den Planeten zerstörten. Es war schlecht, dass ein Zehntel der Erdbevölkerung hungern musste. Es war schlecht, dass in vielen Regionen Krieg und Gewalt herrschten. Gut war, dass es immer mehr Leute gab, die etwas dagegen tun wollten. Dazu zählte sie sich selbst.

Ein dumpfer Schlag ließ Esther zusammenzucken. Sie kannte das Geräusch und eilte zu dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer. Auf der Dachterrasse davor lag eine junge Amsel.

Esther beugte sich über sie. Benommen und mit verdrehtem Kopf zuckte der Vogel hilflos mit den Flügeln. Sein glänzendes Auge starrte Esther an, während sich die kleine Brust hektisch hob und senkte. Esther spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte. Sie konnte nicht hinschauen. Trotz der Habichtsilhouetten, die sie an die Scheiben geklebt hatten, passierte es immer wieder, dass Vögel dagegen flogen und sich das Genick brachen. Normalerweise übernahm Lars die Entsorgung, aber er und Annette waren längst aus dem Haus. Esthers Eltern arbeiteten beide Vollzeit in der Agentur. Sie hatten ihr am Abend den Schlüssel zum Ferienhaus auf den Tisch gelegt, dazu 150 Euro zum Aufstocken der Vorräte.

Esther überlegte, was sie machen sollte. Der Vogel atmete immer noch. War er verletzt oder stand er nur unter Schock? Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Als sie ihn berührte, zuckte er, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Esther schreckte zurück. Wild flatternd torkelte der Vogel über den Boden, bis es ihm gelang abzuheben. Er flog über die Terrassenbrüstung und tauchte dahinter ab.

Esther sah ihm nach, konnte ihn aber zwischen den dichten Laubkronen der Straßenbäume nicht mehr entdecken. Sie kehrte erleichtert in die Küche zurück und packte schnell die Sachen ein. Sie musste sich beeilen.

Wieder hatte er die ganze Nacht wach gelegen und sich gewälzt. Als es hell wurde, war er aufgestanden und hatte sich in die Küche gesetzt. Es schmerzte und schmerzte und schmerzte. Nicht mal Kiffen half. Die Gedanken kreisten wie in einer Endlosschleife. Manuel hoffte, dass das Wochenende mit den anderen ihn irgendwie rausreißen würde. Aus diesem schwarzen Loch.

Er konnte es einfach nicht fassen, dass Leonie es getan hatte. Einfach so! Wie konnte sie? Wie konnte ihr das, was sie hatten, von einem Moment auf den anderen nichts mehr bedeuten? Vor drei Tagen hatten sie sich noch zusammen auf das Wochenende in Rehberg gefreut. Gemeinsam lernen, gemeinsam chillen, gemeinsame Zukunft, blablabla. Und am Abend kam dann ihre Textnachricht: manu, wir haben es immer wieder versucht, aber es geht einfach nicht mehr für mich.

Manuel spürte eine Welle der Wut in sich aufsteigen: Für dich? Und was ist mit mir?! Ich hasse, dich, Leonie. – Nein, Scheiße, ich liebe dich. Immer noch. Ich kann nicht ohne dich leben. Leonie, warum hast du alles kaputt gemacht?

es ist aus. Nach allem, was du für mich warst, was wir füreinander waren, was ich für dich getan habe. Du hast gesagt: Wir sind wie ein Zwillingsstern mit einem doppelten Kraftfeld.

manu, wir haben es immer wieder versucht … Wieder und wieder ging er die Textnachricht Wort für Wort durch, als könne sich der Sinn dadurch doch noch verändern. … aber es geht einfach nicht mehr …

Überhaupt: Beziehungsende per Textnachricht – wie billig war das denn?!

ich weiß jetzt, dass ich frei sein will. bitte melde dich nicht. bitte schreib mir keine nachrichten mehr. das macht es für uns beide nur schwerer. ich hoffe, dass wir irgendwann freunde sein können. mach es gut. leonie.

Freunde sein können – er könnte kotzen. Fick dich, Leonie! Er würde sie und alle Erinnerungen an sie aus seinem Herzen schneiden. Sie hatte jemanden wie ihn überhaupt nicht verdient.

Ich wünsche dir, dass du für immer und ewig unglücklich wirst! Manuel entfuhr ein Schluchzen und er fand sich selbst lächerlich. Ihm war zum Heulen, aber aus ihm kam keine Träne. Nicht mal das ging. Verdammt, Leonie. Es war ein Fehler. Komm zurück, komm bitte zurück.

Sie saß eingeklemmt auf dem Sitz am Fenster, den Rucksack vor sich auf dem Schoß. Der Mann neben ihr hatte die Beine weit gespreizt. Bei jedem Rucken der Straßenbahn spürte Selin, wie sein Knie ihren Oberschenkel berührte. »Können Sie sich mal ein bisschen weniger breitmachen?« Ihre Stimme klang scharf. Der Mann zog eilig seine Beine zusammen und nuschelte etwas Unverständliches.

Selin atmete tief durch. Als Kind war sie für ihre Wutanfälle berüchtigt gewesen. Das Gefühl, dass etwas ungerecht war, hatte sie explodieren lassen wie eine Bombe. Sie schrie und wälzte sich auf dem Boden. Zum Glück ihrer Eltern hatte sich die Phase irgendwann gelegt und die Anfälle waren seltener geworden. Geblieben war aber, dass Selin bis heute jede Form von Ungerechtigkeit nur schwer ertragen konnte. Sich dagegen zu wehren war wie ein innerer Zwang.

Ihr Sitznachbar stand auf, um auszusteigen. Selin atmete auf. Seit der Pandemie fand sie die Nähe zu Fremden oft beklemmend. Dazu kam die Hitze in dem Straßenbahnwagen. Der Rucksack drückte auf ihre Beine und sie spürte, wie das T-Shirt an ihrem Rücken klebte. Beim Packen hatte Defne sie mit ihren neugierigen Fragen gelöchert. »Warum nimmst du das ganze Schminkzeug mit, wenn du eigentlich nur zum Lernen fährst?«

Selin war erleichtert gewesen, als die Tür mit dem Salzteigschild »Hier wohnt Familie Yildiz« hinter ihr ins Schloss fiel. Erleichtert, dass sie rauskam aus der Enge der Dreizimmerwohnung, die sie mit ihren Eltern und ihren Geschwistern Defne und Bilge teilte. Ihre Eltern waren schon okay. Das war nicht der Punkt. Aber sie hatten einfach ganz andere Erwartungen. Sie dachten, dass sie gleich nach dem Abi studieren und Karriere machen würde. Jura, BWL oder noch besser Medizin. Aber Selin wollte nicht studieren. Sie hatte genug von dem ewigen Lernen. Politik, Geschichte, Ethik … Das meiste war einfach nur Hirnwichserei alter weißer Männer. Sie brauchte kein Studium, um zu wissen, dass die Menschheit am Arsch war. Die Gesellschaft musste sich verändern, und zwar radikal.

Selin wollte sich nicht anpassen. Sie wollte ihr eigenes Leben leben, sich engagieren, helfen. Mit oder ohne Philipp. Der überlegte schon seit Ewigkeiten, was er machen solle, und konnte sich nicht entscheiden. Selin hatte sich als Volunteer in einem Geflüchtetencamp in Griechenland beworben. Vor einer Woche kam die Zusage, dass sie im August anfangen könne. Philipp hatte einfach Schiss, aus seiner Komfortzone rauszukommen.

Wer von ihnen war eigentlich auf die Idee gekommen, den Europaplatz als Treffpunkt auszuwählen? Das Einzige, was man sich hier holen konnte, war eine Feinstaublunge.

Philipp scannte den Verkehrsstrom und hielt nach dem VW-Bus Ausschau. Seine Mutter hatte ihn auf dem Weg zur Arbeit hier abgesetzt und er war viel zu früh. Er saß auf dem kleinen Rollkoffer und checkte die Nachrichten auf seinem Handy, während die Passanten an ihm vorbeihasteten.

»Do you need help?« Eine Frau mit Rastalocken und Regenbogenhalstuch war stehen geblieben und lächelte ihn an. Philipp schüttelte den Kopf. »Alles gut. Ich komm klar.«

Im Gruppenchat poppte eine neue Nachricht auf. Von Knut: +10 wg stau. Philipp schaute auf die Uhr: 11.52 h. Er freute sich auf das Wochenende. Auch wenn sie sich schon länger kannten, vor allem Knut und er, als Gruppe waren sie erst in der Oberstufe so richtig zusammengekommen. Und es hatte trotz – oder wegen – der Pärchennummer bisher immer gut funktioniert. Also, mehr oder weniger. Dass Leonie mit Manuel Schluss gemacht hatte, war natürlich Scheiße. Erst große Liebe und dann von einer Sekunde auf die andere alles vorbei. Aber Manuel würde schon drüber hinwegkommen. Nur schade, dass Leonie damit raus war. Zwischen Knut und Esther lief es auch gerade nicht so super. Sie machte dauernd Druck wegen der Zeit nach dem Abi, ihrem Praktikum in New York und sagte, dass Knut auch mal planen müsse. Aber Knut wusste selbst nicht so genau, wie es für ihn weitergehen sollte. Studieren? Jobben? Reisen? Philipp ging es ähnlich und vielleicht würden sie beide ja auch erst ein bisschen um die Welt ziehen. Afrika, Asien, Lateinamerika.

»Wollten wir uns nicht auf der anderen Seite treffen?« Philipp drehte sich um. Hinter ihm stand Selin. Mit dem großen Rucksack auf dem Rücken sah sie irgendwie ganz klein aus.

»Schon möglich, dass du recht hast.« Philipp ging zu ihr und sie küssten sich. »Hi.«

»Hab ich.« Selin deutete auf den Verkehr. »Stadtauswärts gehts in die Richtung. Und Manu ist auch schon da.«

Jetzt erst bemerkte Philipp Manuel, der auf der anderen Seite der Kreuzung stand. Hatte er etwa auch schon die ganze Zeit dort gewartet? Er trat von einem Fuß auf den anderen und rauchte.

»Hey, Manu!«, rief Philipp und winkte. Aber durch den Verkehrslärm hörte Manuel ihn nicht. Vielleicht hatte er auch Kopfhörer drin.

Als Knut den Europaplatz erreichte, standen die anderen schon alle da. Er hupte zweimal kurz, setzte den Warnblinker und hielt auf der rechten Spur.

Manuel, der blass und übernächtigt aussah, witzelte: »Mann, Alter, wir dachten schon, wir müssen laufen.«

Knut und Manuel klatschten sich durchs Fenster ab. »Sorry. Auf dem Ring war ein Unfall. Alles dicht. Ich musste einen Umweg fahren.«

Philipp hatte schon die Heckklappe geöffnet und lud das Gepäck ein.

Esther kletterte auf den Sitz neben Knut, umarmte ihn und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. »Auf gehts, Leute, ab ins Boot-Camp!«

Selin rüttelte an der Schiebetür und bekam sie nicht auf.

»Drücken und zur Seite ziehen!«, rief Knut.

Manuel wollte helfen, aber da hatte Selin die Tür schon auf und stieg ein. Lautes Hupen schreckte sie auf. Hinter ihnen drängelte ein Linienbus, der an die Haltestelle fahren wollte. Knut sah im Rückspiegel, wie der Fahrer wild gestikulierte.

»Bin ja schon weg. Reg dich nicht auf, du Arsch!«

Philipp sprang in den Bus und schob schnell die Tür zu. Knut gab Gas, fuhr mit quietschenden Reifen los und fädelte sich in den Verkehr ein. »Alle an Bord?«

Die Antwort von der Rückbank: »Yallah!«

Knut hob grinsend den Daumen und drehte die Musik lauter. Manuel klatschte wie ein durchgeknallter Animator im Takt.

Der Bus fuhr über die Landstraße. Esther hielt den Kopf in den warmen Fahrtwind, der durchs offene Seitenfenster blies. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen. Wald, Felder und Wiesen säumten die Straße. Esther freute sich auf Rehberg, auf das Haus, auf die Zeit mit den anderen. Nur Manuel tat ihr ein bisschen leid. Als Janik, ihre erste große Liebe, sie vor zwei Jahren verlassen hatte, dachte sie, die Welt ginge unter. Sie drehte sich zu Manuel um. »Hat Leonie sich noch mal gemeldet?«

»Nee.« Manuel, der zwischen Philipp und Selin auf der Rückbank saß, schüttelte abfällig den Kopf. »Ist auch besser so.«

Philipp nahm einen Schluck aus seiner Club-Mate. »Schon irgendwie krass. Ihr habt immer so harmonisch gewirkt.« Er warf einen schnellen Seitenblick zu Selin.

Manuel grinste schief. »Waren wir ja auch. Dachte ich. Aber eben nur bis vorgestern.«

»Vielleicht überlegt Leo es sich ja noch mal«, sagte Knut. »Sie ist immer bisschen impulsiv.«

Manuel verzog das Gesicht. »Weiß nicht, ob ich das überhaupt wollen würde. So, wie sie Schluss gemacht hat …«

Selin schaltete sich ein. »Es ist immer Scheiße, wenn man verlassen wird. Aber ein harter Schnitt ist trotzdem besser, als lange drumrumzulabern. Das ist wie Milch, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wenn du dir die noch in den Kaffee kippst, wird alles sauer. Besser gleich weg damit.«

Philipp fühlte sich durch Selins Bemerkung selbst angepikst. »Das ist jetzt bestimmt supertröstlich für Manu.«

Esther war es unangenehm, dass das Gespräch sich so entwickelt hatte und plötzlich so eine Spannung da war.

Aber Manuel winkte ab. »Passt schon. Lasst uns einfach nach vorne schauen. Wir haben gesagt, wir machen uns ’n schönes Wochenende. Und das machen wir auch.«

Eine Weile fuhren sie schweigend. Knut konzentrierte sich auf die Straße. Ihm fiel auf, wie viele tote Tiere am Rand lagen. Auf den wenigen Kilometern hatte er schon zwei Katzen, einen Fuchs und ein bis zur Unkenntlichkeit deformiertes Fellbündel gezählt, das ihm seltsam groß erschienen war. Das Navi zeigte an, dass er sich an der nächsten Abzweigung rechts halten sollte.

»Gleich musst du rechts«, sagte Esther.

Knut, der nur darauf gewartet hatte, nickte. »Hab ich im Blick.«

Esther lächelte und legte kurz die Hand auf seinen Oberschenkel. Knut mochte die Art, wie sie ihn berührte. Er mochte es, dass Esther ihre Zuneigung auch körperlich zeigen konnte. Er selbst war da eher gehemmt. In seiner Familie waren sie alle so. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Eltern sich das letzte Mal vor seinen Augen berührt hatten. Kein Kuss, keine Umarmung, keine zärtliche Berührung der Hände. Als Kind hatte seine Mutter ihm manchmal den Kopf gekrault und das Gefühl hatte ihm wohlige Schauer über den Rücken gejagt. Aber irgendwann hatte sie den Körperkontakt eingestellt. Eine kurze Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied war das höchste Maß an Intimität. Sein Vater neutralisierte die Geste zudem meist mit einem robusten Klopfen auf die Schulter: ›Machs gut, Junge.‹ Und danach waren alle erleichtert, wieder auf Abstand gehen zu können. Knut empfand sich in seinem eigenen Körper oft als fremd und ungelenk. Als gehöre der eigentlich nicht zu ihm, sondern sei so etwas wie ein Außenposten. Und manchmal hatte er die Sorge, dass er Esther körperlich nicht genug bieten könne. Sie war seine erste Freundin. Esther hatte vor ihm schon andere Beziehungen gehabt. Sie sagte, nur Affären. Aber Knut fühlte sich ihr deswegen trotzdem irgendwie unterlegen. Die Vorstellung, dass sie einen Vergleich hatte, er aber nicht, quälte ihn.

Er nahm die Ausfahrt. Nach ein paar Hundert Metern kam eine Parkbucht. In der Einfahrt stand ein Anhalter und streckte den Daumen raus.

Knut deutete auf ihn. »Sollen wir den mitnehmen?«

Die anderen reckten die Köpfe.

»Nur, wenn er gut aussieht«, scherzte Esther.

Alle Blicke gingen auf den Anhalter. Ein junger Typ in Trainingsjacke und Cargo-Hosen mit einer schwarzen Tasche über der Schulter.

»Ich weiß ja nicht …«, meinte Philipp unschlüssig.

Aber da hatte Knut schon das Steuer rumgerissen. Der Bus bog in letzter Sekunde in die Parkbucht ein und bremste ab.

Der Anhalter hatte dünnes strähniges Haar. Seine Gesichtshaut sah blass und durchlässig aus, wie Porzellan. Selin fand ihn auf Anhieb unsympathisch. Nachdem er gefragt hatte, in welche Richtung sie fuhren, öffnete er die Seitentür. Selin machte ihm Platz und wechselte nach vorne zu Esther. Der Anhalter setzte sich neben Manuel und Philipp auf die Rückbank. »Cool, dass ihr mich mitnehmt.«

»Kein Ding.« Knut fuhr aus der Parkbucht zurück auf die Straße.

Selin öffnete das Seitenfenster ein Stück weiter. Ihr war, als könne sie den Atem des Anhalters in ihrem Nacken spüren. Er beugte sich vor und kramte etwas aus der Tasche zwischen seinen Füßen. Eine Dose Monster Energy. Als er sie öffnete, spritzte die Flüssigkeit heraus und tropfte auf den Sitz. Selin sah, wie Knut in den Rückspiegel schaute und missbilligend die Stirn runzelte.

»Und du willst also nach Frankfurt?« Manuel versuchte Konversation zu machen.

»Ich hab nicht gesagt, dass ich nach Frankfurt will«, sagte der Anhalter. »Ich hab gesagt: ›Richtung Frankfurt.‹«

Erneutes Schweigen. Nur unterbrochen von dem lauten Schlürfen, das der Typ beim Trinken machte. Selin schaute zu Esther. Sie sah ihr an, dass ihr die Situation ebenfalls unangenehm war.

Schließlich verzog der Anhalter das Gesicht zu einer schiefen Grimasse: »Und ihr? Wo fahrt ihr hin?«

»Sagt dir Rehberg was?«, fragte Esther.

»Rehberg«, wiederholte der Anhalter langsam, als sei er ein bisschen begriffsstutzig. »Was wollt ihr denn in Rehberg?«

Selin überlegte, ob er vielleicht irgendwas hatte, eine Behinderung oder so. Okay, das war jetzt das falsche Wort. Aber wenn er was hatte, dann wäre das eine Erklärung und sie schämte sich, dass sie ihn deswegen vorschnell verurteilt hatte.

Wir fahren nach Rehberg, weil Esthers Eltern da ein Wochenendhaus haben«, erklärte Manuel.

»Dass ihr aus der Stadt seid, ist eh klar.« Der Anhalter nahm einen weiteren Schluck. »Sieht man ja am Autokennzeichen.« Er nickte wissend.

Manuel sah im Rückspiegel, wie Knut vorne am Steuer ein Voll-Pfosten-Gesicht machte. Esther musste kichern. Es war zu albern. Auch Selin hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Der Anhalter schien nichts davon zu merken.

»Die Leute aus der Stadt kaufen den Leuten hier das Land weg, um da Urlaub zu machen.« Der Anhalter sagte das, als sei es eine einfache Feststellung.

»Wir haben das Haus schon seit 10 Jahren«, sagte Esther, als müsse sie sich verteidigen.

»Und wir machen da auch keinen Urlaub«, stellte Philipp klar, »wir arbeiten da.«

»Arbeiten?« Der Anhalter kicherte nun selber. »Was arbeitet ihr denn?«

Philipp wurde es langsam zu blöd. Manuel kannte den Tonfall in seiner Stimme, wenn er genug hatte. »Lernen. Fürs Abi«, sagte er herablassend.

»Du machst Abi?« Der Anhalter schaute Philipp an und drückte die Dose, dass es laut knackte.

Philipp kniff die Augen zusammen. »Hast du ein Problem damit?«

Der Anhalter zuckte mit den Achseln. »Ich hätte es nicht gedacht.«

»Und warum nicht?« Philipps Stimme verschärfte sich.

Selin hatte den Kopf gedreht und verfolgte den Dialog mit gerunzelter Stirn.

Der Anhalter lächelte schief. »Ich hätte es halt einfach nicht gedacht, dass einer wie du Abi macht.«

»Einer wie ich?«, hakte Philipp nach.

Jetzt schauten alle gespannt auf den Anhalter. Knut fixierte ihn im Rückspiegel.

»Na ja, du weißt schon … weil …«

Der Anhalter hob die Hände und fasste sich ins Gesicht.

»Weil ich Schwarz bin«, sagte Philipp.

Der Anhalter grinste achselzuckend.

Selin konnte nicht mehr an sich halten. »Merkst du eigentlich, was du hier gerade abziehst?« Sie funkelte den Anhalter an der Kopfstütze vorbei an. »Was für ’ne rassistische Kackscheiße!« Dessen Dauergrinsen machte sie noch wütender. »Wie wärs mit einer Entschuldigung?!«

Der Anhalter wandte sich an Manuel. »Hat die gerade ihre Tage oder regt die sich immer so schnell auf?«

»Du solltest jetzt lieber ganz schnell die Fresse halten!«, sagte Selin scharf.

»Häh, wieso?« Der Anhalter verstand nicht. Oder wollte einfach nicht verstehen. »Ich hab nix gegen Schwarze und auch nix gegen Türken. Wem’s hier nicht gefällt, kann ja gehen.«

»Eeeey!« Manuel rückte demonstrativ von dem Anhalter ab. »Halt jetzt wirklich besser mal die Klappe, ja?«

»Allerdings«, sagte Knut bestimmt. »Sonst kannst DU nämlich gleich wieder gehen.« Er trat demonstrativ auf die Bremse.

»Okay, okay. Ich sag nichts mehr.«

Der Anhalter drehte den Kopf und sah aus dem Fenster, als ginge ihn das alles gar nichts an.

Knut fuhr weiter und beschleunigte wieder.

Manuel meinte zu hören, wie der Anhalter leise in sich hineinkicherte. Manuel verstand Philipps und Selins Empörung. Aber er wusste auch, dass sie in solchen Fällen meistens nichts brachte.

Knut hatte an der Tankstelle gehalten, obwohl der Tank noch halb voll war. Der Bus stand neben der Zapfsäule. Knut war ins Kassenhäuschen gegangen, um zu bezahlen. Philipp lehnte am Kotflügel und besprach sich mit den anderen.

»Was für ein ekliges Arschloch«, sagte Selin.

Esther verzog das Gesicht und schüttelte sich. »Zum Kotzen, dass diese Typen sich das einfach so trauen.«

Manuel kaute Kaugummi, als wolle er ihn zermalmen.

»Ja, schon.« Philipp schaute Richtung Toiletten, wohin der Anhalter verschwunden war. »Aber irgendwas stimmt nicht mit dem.«

Das war nicht der übliche Alltagsrassismus, den Philipp kannte. Die unterschwelligen Diskriminierungen, die einem überall immer wieder reingedrückt wurden. Die Frage, woher er eigentlich komme. Der Türsteher, der ihn auf Drogen filzt. Die Oma in der Straßenbahn, die panisch ihre Tasche schnappt, wenn er sich neben sie setzt. Für mich spielt Hautfarbe keine Rolle … Gerade die, die superliberal taten, waren besonders subtil beim Ausgrenzen. Das hab ich doch nicht so gemeint, du bist einfach zu empfindlich.

Aber dieser Typ hier meinte es genau so, wie er es sagte. Und doch irritierte Philipp irgendetwas an ihm.

Knut kam aus dem Kassenhäuschen zurück. Er steckte die Tankquittung in sein Portemonnaie und schaute sich nach dem Anhalter um. »Ist er immer noch auf dem Klo?«

Manuel spuckte den Kaugummi in hohem Bogen Richtung Mülleimer und traf. »Wahrscheinlich zu blöd zum Scheißen.«

Knut zog eine Grimasse.

»Wir fahren einfach ohne ihn weiter.« Selin sprach aus, was alle dachten.

»Gute Idee«, sagte Knut.

Manuel grinste breit. »Es ist vielleicht nicht ganz okay – aber gerade deswegen voll okay.«

»Selbst schuld. Die Lektion hat er verdient.« Selin stieg ein.

Knut saß schon hinter dem Steuer. »Also los.«

Philipp spürte, wie etwas in ihm zögerte. Trotz allem erschien es ihm plötzlich feige, einfach abzuhauen.

Esther winkte ungeduldig. »Jetzt komm schon!«

»Oder willst du dir noch mehr rassistische Kackscheiße anhören?« Selin verstand nicht, was er hatte.

Philipp stieg als Letzter ein und schob die Seitentür zu.

Knut zündete den Motor. »Bye-bye, Asshole!«

Er gab Gas. Der Bus rollte Richtung Ausfahrt. Auf der Rückbank drehten sich Philipp und Manuel um. Sie sahen durchs Heckfenster, wie der Anhalter aus der Toilette kam und sich irritiert umschaute. Als er den Bus entdeckte, beschleunigte er seinen Schritt und winkte. Dabei sah er irgendwie ganz kindlich und hilflos aus. Schließlich fing er an zu rennen. Doch dann wurde ihm klar, dass er keine Chance hatte, und er blieb stehen. Sein Mund verzog sich, ein stummer Ausdruck des Protests, der Philipp irgendwie anrührte.

Plötzlich fiel ihm der Satz vom Krieg aller gegen alle ein. Hobbes, sechzehnhundertirgendwas. Kreilich hatte ihn in fettem Rot auf das Smartboard geschrieben. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Oder: Wenn ich dich jetzt nicht plattmache, machst du mich platt. Permanenter Kampf als Normalzustand.

Liam stützte sich mit den Händen auf die Knie und versuchte seinen Atem zu beruhigen. Die Gedanken in seinem Kopf strudelten wild durcheinander. Der Bus war ohne ihn weitergefahren. Hatten die ihn vergessen oder es mit Absicht gemacht? Liam wusste es nicht. Er wusste nur, dass das Ganze ein Fehler war. Fehler, Fehler, Fehler …

Liam fuhr sich über sein verschwitztes Gesicht. Seine Hände rochen nach Flüssigseife. Er schüttelte langsam den Kopf und tastete nach dem Handy in seiner Jacke.

Jemand musste den Fehler wiedergutmachen.

Mann, was für ein Vollidiot!« Manuel lachte laut. Die Stimmung war jetzt ausgelassen, fast schon überdreht. Knut fuhr mit Schwung durch die Kurven. Die Fenster weit offen. Er hatte die Musik wieder laut gedreht und alle schrien die Erleichterung aus sich raus.

»Sagt der: ›Ich hab nix gegen Schwarze.‹« – »Ich fass es nicht!« – »Das war das letzte Mal, dass ich einen Tramper mitgenommen hab!«

Manuel schnippte und pogte im Takt der Musik und spürte, wie sein Fuß an etwas Weiches stieß. Er beugte sich vor. »Hey, Leute …« Er zog die schwarze Tasche unter der Rückbank hervor. »Ich glaub, der Kollege hat was vergessen!«

Philipp, Esther und Selin schauten auf die schwarze Tasche.

Knut blickte in den Rückspiegel. »Kacke. Ist was Wichtiges drin?«

Die Tasche war ein billiges Modell aus dünnem Nylon. Manuel öffnete sie und holte mit spitzen Fingern den Inhalt heraus. Noch zwei Monster-Energy-Dosen, ein zusammengeknülltes T-Shirt, Papiertaschentücher, ein Streifen Tabletten und ein Zauberwürfel.

Manuel schaute auf die Tabletten und zog die Augenbrauen hoch. »Drogen?«

Die meisten waren schon aus dem Streifen rausgedrückt. Nur vier waren noch drin. Manuel kniff die Augen zusammen und versuchte den Aufdruck auf der Aluminiumfolie zu lesen: »Fleca … irgendwas …«

»Scheiße. Da müssen wir wohl noch mal zurückfahren«, seufzte Esther.

Manuel drehte an dem Zauberwürfel. Die Plastikquadrate waren so abgegriffen, dass die Farben nur noch zu erahnen waren.

»Fleca … mit c?« Philipp googelte den Tablettennamen auf seinem Handy.

»Auf keinen Fall fahren wir zurück!«, sagte Selin.

»Hier ist gerade kein Netz …« Philipp ließ das Handy sinken. »Also was jetzt?«

Knut zögerte. »Klar, unter normalen Umständen wäre Zurückfahren das einzig Korrekte …«

Manuel packte die Sachen wieder in die Tasche.

»Aber die Umstände waren nicht normal«, fuhr Knut fort. »Der Typ hat sich superscheiße verhalten. Dafür hat er es voll verdient, einfach stehen gelassen zu werden. Dass seine Tasche weg ist, ist einfach Pech für ihn. Niemand hat das gewollt.«

»Ja, und genau deswegen sollten wir zurückfahren«, widersprach Esther. »Vielleicht sind die Sachen ja wichtig.«

Manuel stellte sich die Situation bildlich vor. »Und dann gehst du zu dem Typen und sagst: ›Hey, wir haben dich absichtlich stehen gelassen. Aber hier ist deine Tasche.‹«

Selin blies verächtlich Luft aus. »Mit Rassisten und Sexisten hab ich null Mitleid. Schmeiß das Ding einfach aus dem Fenster.«

»So irrsinnig wichtig kann der Krempel jetzt auch nicht sein … ein olles T-Shirt … und die Plörre ist eh ungesund.« Knut sah zu Esther.

Sie wirkte alles andere als überzeugt. Aber sie war eindeutig überstimmt. Und es ging schon in Ordnung, dass sie mal was Unkorrektes tun musste, fand Manuel. Moralisch gesehen hatte Esther manchmal einen Stock im Arsch.

»Oooookay.« Manuel ließ das Fenster bis zum Anschlag runterfahren. »Eins … zwei …«

Esther hatte kapituliert und zuckte mit den Achseln: Na gut.

»… drei!«, schrien Manuel, Philipp, Selin und Knut im Chor.

Manuel gab der Tasche einen Stoß. Sie flog nach draußen, der Fahrtwind erfasste sie und riss sie trudelnd mit sich. Sie überschlug sich mehrmals im Gras und verschwand im Straßengraben.

Das Licht der Nachmittagssonne schimmerte golden auf den Hügelkuppen. Rehberg lag in einer Senke. Dahinter begann im Osten ein großes Waldgebiet. Die Gegend war nur dünn besiedelt. Es hieß, die Region leide seit Jahrzehnten unter Landflucht. Mehrere der alten Häuser im Dorf standen leer. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Der Bäcker hatte nur noch dienstags und freitags auf und bis zum nächsten Supermarkt im Nachbarort waren es acht Kilometer.

Das Haus stand etwas abseits am südlichen Dorfrand am Ende einer Stichstraße. Gleich dahinter begann der Wald mit dem See. Esthers Eltern hatten das Haus vor zehn Jahren günstig gekauft. Mittlerweile waren Häuser in guter Lage sehr gefragt. Immer mehr Städter suchten nach einem Landsitz für den Sommer. Und manche zogen auch ganz raus. Nachdem Rehberg ans Glasfasernetz angeschlossen worden war, konnte man hier auch Homeoffice machen.

Der Bus hielt vor der Einfahrt. Esther sprang raus und öffnete das Tor. Knut parkte auf der Rasenfläche neben dem Haus. Alle stiegen aus.

»So geil, wieder hier zu sein!« Manuel streckte sich.

Philipp pflückte einen Apfel vom Baum. Er biss rein und verzog das Gesicht. »Uah, sauer.« Er warf ihn in die Hecke.

»Was dachtest du denn? Die sind erst im Herbst reif.«

Esther schaute rüber zum Nachbarhaus. Die Fensterläden waren geschlossen. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Günther Hanika war eigentlich immer da. Die Male, wo er sein Haus verließ, um einkaufen zu fahren oder zum Arzt, waren selten. Er war schon lange vor Esthers Eltern aus der Stadt hierhergezogen. Er lebte allein mit seinem Hund Telemann. Hanika war Orchestermusiker gewesen. Oboist. In den ersten Jahren war sein Spiel auch regelmäßig zu hören gewesen. Tonleitern und Orchesterpassagen. Esther erinnerte sich, wie der quäkende Oboen-Klang über den Garten wehte. Aber dann übte Hanika immer seltener und fuhr auch nicht mehr in die Stadt. Es hieß, dass eine Krankheit ihn berufsunfähig gemacht hatte. Irgendwas mit den Nerven. Er wurde immer eigenbrötlerischer und feindseliger, beschwerte sich ständig über Lärm. Und Esther durfte auch nicht mehr mit Telemann spielen, den sie immer gerne zu sich gelockt hatte. Hanika war ihr seit jeher ein bisschen unheimlich gewesen. Aber jetzt fing sie an, Angst vor ihm zu haben, und wünschte sich, dass er weg wäre.

Sie gingen ins Haus und verteilten die Zimmer. Esther und Knut nahmen das große Schlafzimmer oben, Selin und Philipp das kleine. Manuel erklärte sich mit gespielter Leidensmiene bereit, unten auf der Couch zu schlafen. »Mit mir kann man es ja machen.«

Danach ging Esther raus, um zu gießen. Ihre Eltern waren erst vor ein paar Tagen hier gewesen. Aber die Pfingstrosen in den Staudenbeeten ließen schon die Blätter hängen, der Rittersporn sah welk aus. Die Sommer wurden immer heißer und trockener. Letztes Jahr hatte es ein paar Kilometer weiter einen Waldbrand gegeben. Der Rauch war so dicht und beißend gewesen, dass sie in die Stadt zurückfahren mussten.

Esther tauchte die Gießkanne in den trüben Rest, der noch in der Regentonne war, und schleppte sie zu dem Beet hinter dem Haus. Ihr Vater begeisterte sich für alte Gemüsesorten, die es im Supermarkt nicht mehr zu kaufen gab. Der Anbau war eins seiner Projekte und er war immer wahnsinnig stolz, wenn die Ernte gut war. Aus den frischen Kartoffeln, Rüben, Karotten und Tomaten kochte er dann spezielle Gerichte und alle mussten immer den besonderen Geschmack loben.

In der Küche packten Knut und Philipp die Vorräte aus. Manuel verband sein Handy mit der Bluetooth-Box. Aus den Lautsprechern perlte warmer Deep House. Die Box hatte satte Bässe und kristallklare Höhen. Alles hier im Haus war sehr geschmackvoll und durchgestylt. Man sah, dass Esthers Eltern Kohle hatten. Manuel strich über die chromglänzende Espressomaschine auf der Anrichte. Sie kostete garantiert ein paar Tausend Euro. Die Kochbücher im Regal darüber waren nach Farben sortiert. Das Geschirr in den Fächern war alles Designer-Ware.

Manuel schlenderte weiter ins Wohnzimmer, wo eine weitere Box stand, die mit der in der Küche verbunden war. Durch das Terrassenfenster hatte man einen Wahnsinnsblick. In den Garten, wo Esther mit der Gießkanne rumging, über das Feld dahinter bis zum Wald. Plötzlich zuckte Manuel zusammen. Die Eröffnungsakkorde des gerade anlaufenden Titels versetzten ihm einen Stich. Er griff schnell zu seinem Handy und übersprang den Song auf der Playlist. Es war einer von Leonies Lieblingstiteln und sie hatten ihn oft zusammen gehört. Vor allem am Anfang, als sie voll verliebt waren. Bitch! Echt zum Kotzen, seine ganze Musik war jetzt kontaminiert von ihr.

»Kommste mit?« Philipp schaute aus der Küche ins Wohnzimmer. »Kurz in den See springen zum Abkühlen?«

»Und was ist mit Kochen?«, fragte Selin.

»Können wir doch danach noch machen«, sagte Knut.

»Ich krieg aber jetzt schon Hunger«, sagte Selin. »Und so ein Risotto braucht mindestens ’ne Stunde.«

»Ich kann ja schon mal anfangen«, sagte Esther. »Geht ihr ruhig. Ich hab den See hier oft genug.«

Esther und Selin schnippelten Champignons und Schalotten. Philipp und Knut hatten noch mal gefragt, ob sie wirklich nicht helfen sollten, um dann gut gelaunt mit Manuel zum See abzuziehen.

Selin war auch deswegen geblieben, weil sie den Moment mit Esther alleine haben wollte.

»Was läuft im Hirn von so einem Typen eigentlich ab?« Die Sache mit dem Anhalter beschäftigte sie immer noch.

»Keine Ahnung«, sagte Esther und löschte die Zwiebeln im Topf mit Weißwein ab, dass es zischte. »Ist mir eigentlich auch egal. Wir werden eh nie wieder was mit ihm zu tun haben.«

»Aber dafür mit all den anderen Typen, die sich genauso verhalten.« Selin gab Reis und Gemüsebrühe in den Topf und fing an zu rühren. »Aggro, rassistisch, sexistisch, frauenverachtend … solange Männer damit durchkommen, wirds nie echte Gleichberechtigung geben.«

»Schau uns mal an«, sagte Esther. »Wir stehen hier in der Küche und die Jungs springen erst mal in den See.«

»Die alten Rollen … Meine Mutter hat immer gepredigt, dass ich auf eigenen Beinen stehen soll. Dabei bekocht sie meinen Vater bis heute, putzt, kauft ein, sorgt dafür, dass alles immer schön und gemütlich ist.«

»Voll paradox.« Esther stellte die Hitze der Herdplatte kleiner.

Selin rührte weiter. »Mein Vater hat im Haushalt keinen Finger krumm gemacht. Nicht mal jetzt, wo er in Rente ist. Er liest Zeitung, guckt Fußball und jammert, wie kaputt ihn die Arbeit gemacht hat. Und insgeheim ist meine Mutter froh, wenn er sie in Ruhe machen lässt.«

»Dafür haben wir Oxana. Sie kommt jede Woche und danach sieht die Wohnung wieder picobello aus. Vorher gabs oft Streit, wer was macht.«

»Nicht jeder kann und will sich eine Putzfee leisten.«

»Es ist schon auch komisch, wenn andere den Dreck von einem wegmachen.« Esther holte Parmesan aus dem Kühlschrank. »Wer will, kann sich den ja druntermischen.«

Selin überließ Esther das Rühren, nahm den Käse und die Reibe. Esther ernährte sich seit Jahren vegan. Aber sie fand es okay, wenn andere Fleisch und Milchprodukte aßen.

»Die Keimzelle der Unterdrückung der Frau ist der Haushalt.«

Selin sah Esther fragend an. »Wo hast du das denn jetzt her?«

»Irgendwo gelesen – und gleich abgespeichert.«

Selin bearbeitete den Käse mit der Reibe. »Aber der Haushalt ist gleichzeitig auch die Keimzelle der feministischen Revolution. Ich sag’s dir, Baby.« Sie hörte auf zu reiben, legte eine Hand auf Esthers Hintern und imitierte eine tiefe Männerstimme: »Ihr zaubert einfach immer so was Leckeres …«

Esther kicherte. »Ja, weil ihr außer Pasta, Eiern oder Käsebrot einfach nix auf die Kette kriegt.«

Selin zog den Löffel aus dem Risotto, leckte ihn ab und gab Esther einen schmatzenden Kuss. »Schmeckt!«

Sie hatten alle Hunger und tranken Wein und Bier zum Essen. Philipp, Knut und Manuel saßen mit nassen Haaren am Tisch. Das Seewasser roch leicht brackig auf der Haut. Das Schwimmen hatte ein angenehm entspanntes Körpergefühl hinterlassen.

Philipp faltete ein Salatblatt auf seine Gabel. »Morgen koch ich.«

Esther und Selin warfen sich einen Blick zu.

»Und ich spül nachher ab und räum die Küche auf«, sagte Knut und kratzte den letzten Rest Risotto aus der Schüssel.

Die Terrassentüren standen weit offen. Die kühle Abendluft wehte von draußen in den Raum. Philipp fröstelte und schlüpfte in den Pullover, den er sich über die Schultern gelegt hatte.

Manuel baute einen Joint und sie setzen sich alle auf die Terrasse. Während der Joint rumging, machten sie einen Plan für die nächsten zwei Tage. Esther sorgte dafür, dass die Koch- und Küchenzuständigkeit gerecht verteilt wurde, und schrieb die Namen auf einen Zettel. Danach besprachen sie das Lernprogramm: pro Tag drei Blöcke à zwei Stunden mit je einer Stunde Pause dazwischen.

Philipp inhalierte, hielt den Rauch in der Lunge und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihnen pulsierte in einem unwirklichen Blau.

Um Punkt zehn drehte Esther die Musik im Haus leise und deutete dabei Richtung Nachbargrundstück. Hanika sollte keinen Grund zur Beschwerde haben.

Im großen Schlafzimmer lag Knut auf einer Seite des breiten Doppelbetts. Etwas hatte ihn am Oberschenkel gestochen und er kratzte sich. Aus dem Bad hörte er Wasserrauschen.

Von nebenan drang Selins und Philipps angeheitertes Kichern durch die dünne Holzwand. Knuts Blick fiel auf den Bücherstapel auf dem Nachttisch neben ihm. Krimis und Sachbücher, »Vom Ich zum Wir«, »Die Krise des Begehrens«, »Männerliebe – Frauenliebe« … psychologische Ratgeber. Knut fragte sich, ob Esthers Mutter sie las oder ihr Vater.

Es war ein komisches Gefühl, in dem Bett zu liegen, in dem sonst Esthers Eltern schliefen. Lars Boehme und Annette Irmscher-Boehme. Beide arbeiteten als Mediengestalter und hatten eine Agentur, die ziemlich erfolgreich war. Im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern, die auf eine solide langweilige Art wertkonservativ waren, kamen ihm Esthers Eltern immer irre cool und lässig vor. Ihr Vater Lars spielte Basketball, war Gitarrist in einer Band gewesen und kannte sich voll gut mit Musik aus. Ihre Mutter Annette hatte in besetzten Häusern gewohnt und angeblich mal als Stripperin gearbeitet.

Esther kam aus dem Bad, wickelte sich aus dem Handtuch und schlüpfte unter die Decke. Sie küsste Knut mit ihrem Zahnpastamund und zupfte an seinem T-Shirt.

»Willst du das nicht ausziehen?«

Esther schlief gerne nackt. Knut zog das Shirt aus. Sie legte sich auf ihn. Er spürte, wie sie ihre Hüfte gegen seine presste. Zögernd legte er seine Hände auf ihren Rücken, der ganz warm und weich war. Er spürte ihre Hand an seinen Boxershorts und hielt sie fest.

»Ich kann hier nicht«, flüsterte er. »Die Wände sind so dünn.«

Esther rollte sich von ihm und starrte an die Decke.

»Tut mir leid …«, sagte Knut und streichelte über ihr Gesicht.

Esther drehte den Kopf zu ihm. »Willst du mich eigentlich noch? – Ich meine, so richtig?«

Knut richtete sich auf und sah sie an. »Natürlich.« Er bemühte sich so überzeugend wie nur möglich zu klingen.

»Ich frag mich, wie das werden soll, wenn ich in New York bin. Ein Jahr ist eine lange Zeit.«

Wieder das Thema. Knut hatte längst verstanden, dass Esther nach dem Abi keine Pause machen wollte. Sie hatte sich für einen Praktikumsplatz beworben bei den Vereinten Nationen in New York und es sah so aus, dass es klappte.

»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Knut und spürte, wie ihm heiß wurde. »Dass du unsere Beziehung aussetzen willst?« Ihm kam wieder der Gedanke, dass Esther in New York vielleicht einfach frei sein wollte, für Neues.

Esther drehte sich seufzend von ihm weg. »Ich will das jetzt nicht wieder alles durchkauen …«

»Ich auch nicht«, sagte Knut kalt. »Du hast deine Entscheidung ja auch längst getroffen.« Er tastete nach dem Schalter und knipste das Licht aus. Er lag mit offenen Augen da und starrte in die Dunkelheit.

Nach einer Weile drehte Esther sich wieder zu ihm und griff nach seiner Hand. »Ich wollte dich nicht verletzen.«

Knut hielt ihre Hand fest. »Schon gut.«

Esther schmiegte sich an ihn. »Kannst du jetzt schlafen?«

Knut atmete tief durch. »Bestimmt. – Du auch?«

Esther küsste ihn. »Ich muss immer noch an den Typen mit der Tasche denken …«

»Denk lieber an was Schönes.«

Esther gähnte. »Ja …« Sie griff nach ihren Ohrstöpseln.

Knut spürte, wie sie sich neben ihm entspannte. Ihre Atemzüge wurden länger. Anders als er konnte Esther immer ganz schnell einschlafen.

Knut zog vorsichtig seinen Arm unter ihrem Nacken hervor und drehte sich auf die Seite. Die Stelle an seinem Oberschenkel juckte wieder. Von irgendwo aus dem Haus meinte er ein Stöhnen zu hören. Es klang unheimlich. Mensch oder Tier?

Selin bewegte ihr Becken. Ihr Atem ging schnell. Sie mochte es, wenn sie Philipp dabei sehen konnte. Sein schweißglänzendes Gesicht und die Sehnen an seinem Hals. Ihre Fingerkuppen flatterten und sie warf den Kopf zurück. Wie Wellen rollte es durch ihren ganzen Körper. Philipp stöhnte und presste das Kissen in sein Gesicht. Selin ließ sich auf ihn sinken. Sie spürte, wie seine Brust unter ihr pumpte. Philipp streckte die Arme aus. Sie hob einen Zipfel des Kissens und lugte darunter.

»Bist du noch da?«, flüsterte sie und musste kichern.

Philipp schob das Kissen weg und grinste breit.

»Ja.« Er fuhr zärtlich mit den Fingern über ihren Hintern. »Du hast mich voll gefickt.«

»Na, hoffentlich.« Selin lief ein Schauer über den Rücken. Sie seufzte wohlig.

Philipps Mund lag dicht an ihrem Ohr. »Glaubst du, dass das Haltbarkeitsdatum bei uns auch schon am Ablaufen ist?«

»Wie kommst du darauf?« Selin richtete sich auf, um Philipps Gesicht sehen zu können. »Denkst du das?« Plötzlich fühlte sie sich unsicher.

Philipp schüttelte schnell den Kopf und zog sie wieder zu sich. »Ich mein nur … weil du das vorhin im Bus zu Manu gesagt hast …«

»Ja …«, sagte Selin. »Bei ihm und Leo hatte ich öfter so ein Gefühl … dass es einfach nicht passt.«

Sie dachte an Manuel, der jetzt alleine unten auf der Couch lag. »Meinst du, es ist sehr doof für Manu jetzt alleine da unten?«

Philipp zuckte seufzend mit den Achseln. »Er wird schon klarkommen.«

Es kam ihm so vor, dass die anderen ihn irgendwie vorsichtiger behandelten als sonst. Wie einen liebeskummerkranken Deppen, den man schonen musste. Ein bisschen stimmte es ja auch. Und es war tausendmal besser, hier auf der Couch zu liegen als alleine zu Hause in seinem Zimmer. Vorher beim Schwimmen im See war das schwarze Loch für einen Moment komplett weg gewesen. Vergiss Leonie. Irgendwann wird alles Geschichte sein. Neue Liebe, neues Glück. So ist das Leben: Manchmal ist man derjenige, der verlässt, manchmal wird man verlassen.

Wie der Typ, den sie an der Tanke stehen gelassen hatten. Irre komisch, wie der dem Bus hinterhergeglotzt hat. Die Karikatur aller Zurückgebliebenen. Und der Erinnerungsballast fliegt dann auch gleich aus dem Fenster.

Manuel nahm sein Handy, das er neben die Couch gelegt hatte. In der stillen Hoffnung, dass Leonie sich doch noch melden würde, um zu sagen, dass alles ein riesengroßer Fehler war. Es war kein Fehler. Das wusste Manuel jetzt.

Er öffnete die Apps und fing an zu löschen. Leonies E-Mails, Chats und Fotos. Weg damit. Ihre Art zu schreiben war eh immer viel zu trivial und phrasenhaft gewesen.

Als er fertig war, fühlte Manuel sich besser. Fast schon befreit. Er knipste das Licht aus, schloss die Augen und lauschte in die Nacht. Das Haus machte knackende Geräusche. Er döste weg … im Halbschlaf hörte er noch leise Schritte, dann das Rauschen der Toilettenspülung und das Klappen einer Tür.