Esther schreckte hoch. Ein dumpfes Wummern hatte sie geweckt. Sie nahm die Ohrstöpsel heraus und schaute sich blinzelnd um. Zwischen den Vorhängen drückte die Morgensonne einen flachen Lichtkeil ins Zimmer. Knut lag schlafend neben ihr. Erneut hörte sie das Wummern. Es kam von unten. Jemand hämmerte mit Nachdruck gegen die Tür. Esther sprang aus dem Bett und sah auf ihr Handy: kurz vor sieben. Wer war das? Hanika, der sich wieder von irgendwas gestört fühlte? Esther streifte schnell ihr T-Shirt über. Jetzt wurde auch Knut wach und hob verschlafen den Kopf. »Wassnlos?«, nuschelte er.
Wieder wummerte es gegen die Tür. »Da ist jemand.«
Esther schlüpfte in ihre Jeans und lief die Treppe runter. Unten saß Manuel schon wach auf der Couch. »Weißt du, wer das ist?«
»Keine Ahnung.« Esther ging zur Tür und öffnete sie.
Überrascht blieb sie stehen.
Vor der Tür stand der Anhalter.
»Hallo.«
Die junge Boehme, das Miststück. Kaum war sie da, ging es schon wieder los. Günther Hanika trat hinter den Zaun und schaute grimmig zum Nachbarhaus rüber. In der Nacht hatte er wieder einen Migräne-Schub gehabt. Trotz Schmerzmittel hatte er wach gelegen und war erst am frühen Morgen eingeschlafen – bis der Lärm ihn weckte. Hanika hasste allen von Menschen gemachten Lärm. Um ihm zu entgehen, war er von der Stadt aufs Land gezogen. Und über mehrere Jahre war Rehberg eine Oase der Ruhe für ihn gewesen. Bis die Boehmes das Grundstück neben seinem gekauft hatten.
Am Anfang hatten sie furchtbar nett getan, ihm Kuchen gebracht und auf gute Nachbarschaft gemacht. Ein Orchestermusiker, wie schön! Oboe? Ein wundervolles Instrument! Und später waren sie dann voller Mitgefühl gewesen. Wie schlimm es für Hanika sein müsse, nicht mehr spielen zu können. Fokale Dystonie … Migräne … wie bedauerlich.
Aber schon bei der Renovierung ging es los. Die schwarzarbeitenden Handwerker, die die Boehmes engagiert hatten, scherten sich nicht um Ruhezeiten. Dann wollte Boehme die Birke in Hanikas Garten beschneiden, weil sie das Grundstück angeblich zu sehr verschatte. Und schließlich behauptete seine Frau, dass in Hanikas Garten Ambrosia wüchse, gegen das sie hochgradig allergisch sei, und hatte ihm das Umweltamt auf den Hals gehetzt. Dazu kam der permanente Lärm, den die Boehmes veranstalteten, sobald sie auf dem Grundstück waren.
Hanika sah, wie Esther drüben in der Tür mit jemandem sprach. Einem jungen Mann. Schon gestern Nachmittag hatte er beobachtet, wie sie mit ihrer Clique angefahren kam und sich eingerichtet hatte. Es sah nach einem längeren Aufenthalt aus und Hanika hatte sich auf das Schlimmste eingestellt. Aber dass der Lärm jetzt schon morgens in aller Herrgottsfrühe losging, war sogar für die junge Boehme ungewöhnlich.
Telemann kam schwanzwedelnd angelaufen. Auf Hanikas Handzeichen hin machte der Bracken-Mischling sofort Platz. Hanika warf ihm ein getrocknetes Hühnerherz zu, das Telemann aus der Luft schnappte. Früher hatte die junge Boehme immer mit Telemann spielen wollen. Hanika kannte sie ja von klein auf. Unfreiwillig war er über die Jahre Zeuge gewesen, wie die verwöhnte Blage herangewachsen war. Wie sie mit Horden von schreienden Gleichaltrigen Kindergeburtstage, Halloween und Übernachtungspartys gefeiert hatte. Behütet von Weißwein trinkenden Eltern, die sich einen Dreck darum scherten, wenn ihre Brut durch seine Beete trampelte und sein Haus mit matschigen Pflaumen bewarf. Später wurden aus den pausbäckigen Quälgeistern kreischende und grell geschminkte Teenager, die hier ihre Drogen- und Partyexzesse feierten, in seine Hecke kotzten und ihm mit ihrer abscheulichen Musik die Nachtruhe raubten.
Das alles hatte Hanika ertragen. Nur einmal hatte er die Polizei gerufen, die sich zwei Stunden Zeit gelassen hatte, bis sie kam und tatenlos wieder gefahren war, weil sich die Halbwüchsigen drüben zwischenzeitlich selbst ins Koma gekifft und gesoffen hatten.
Hanika kniff die Augen zusammen. Der Schmerz in seinem Kopf fing erneut an zu pochen. Irgendwas kam ihm seltsam vor. Der junge Mann stand immer noch vor dem Haus und redete. Es wirkte nicht so, als gehöre er zu der Boehme-Clique. Hanika reckte den Hals. Was er sah, versprach interessant zu werden.
Manuel war Esther zur Tür gefolgt und schaute verwundert auf den Anhalter. Er hatte immer noch exakt die gleichen Sachen an wie gestern und grinste schief.
»Erkennt ihr mich wieder?«
»Was … was willst du hier?«, fragte Esther, halb verlegen, halb verärgert.
»Meine Tasche«, sagte der Anhalter und wiederholte dann noch mal, als hätte er sich unklar ausgedrückt: »Ich will meine Tasche.«
Esther warf einen schnellen Blick zu Manuel. »Die … haben wir nicht …«
»Aber sie war im Bus«, sagte der Anhalter.
Manuel fragte sich, woher der Anhalter ihre Adresse hatte. War er etwa die ganze Nacht gelaufen? Oder mit jemand anderem getrampt?
Esther wurde die Sache zunehmend peinlich.
»Ja«, sprang Manuel ihr bei, »aber da ist sie nicht mehr.«
»Wo ist sie dann?« Der Anhalter ließ nicht locker.
Hinter Esther und Manuel tauchte nun auch Knut auf.
»Ey«, sagte er, »du hast doch gehört, wir haben deine Tasche nicht …«
»Aber ich brauche sie«, sagte der Anhalter. »Sie gehört mir.«
Knut trat neben Esther und ging selbst auf Angriff. »Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist? Du kannst uns hier nicht einfach so überfallen!«
»Doch, das können wir.« Als hätten sie auf das Stichwort gewartet, traten wie aus dem Nichts zwei Männer von links und rechts neben den Anhalter. Sie mussten schon die ganze Zeit im Schatten der Hauswand neben der Tür gewartet haben.
»Wo ist die Tasche?«, sagte der eine und baute sich drohend vor Esther und Knut auf.
»Fehler, Fehler, Fehler«, rief Liam hinter ihm, wie jemand, der sich über eine gelungene Überraschung freut.
»Hey, was soll das?« Esthers Stimme klang schrill.
Manuel wusste nicht, was er tun oder sagen sollte.
Der Mann stand dicht vor ihnen. Er war Mitte zwanzig, höchstens. Hager. Sein Mund hatte etwas Spöttisches, die Augen waren wie Kieselsteine.
»Genug jetzt«, sagte er. »Mein Bruder will seine Tasche zurück. Also?«
Manuel versuchte zu beschwichtigen. »Ganz ruhig. Wir haben es doch schon gesagt, wir haben die Tasche nicht mehr.«
»Sie haben die Tasche nicht mehr«, echote der andere Mann. Er war groß und massig. Der Babyspeck in seinem Gesicht gab ihm etwas Rosiges. Er schaute zu dem Hageren und zog die Augenbrauen hoch. »Warum denn nicht?«
»Ja, genau. Warum nicht?« Der Bruder des Anhalters machte einen weiteren Schritt vor.
»Stopp!«, protestierte Knut. »Schön draußen bleiben!«
Er versuchte die Tür zuzudrücken, aber der Rosige hielt dagegen und stellte seinen Fuß dazwischen. Er trug Zehenschuhe und der Fuß sah aus wie der eines riesigen Frosches.
»Stopp!«, imitierte er Knut und drängte ihn weiter zurück.
»Das ist Hausfriedensbruch! Raus hier, oder ich rufe die Polizei!«
Manuel konnte jetzt die Panik in Esthers Stimme hören.
Der Hagere drehte sich zu dem Anhalter um, der die ganze Zeit vor der Tür stehen geblieben war. »Liam, hast du gehört? Die wollen die Polizei rufen.«
Der Anhalter nickte langsam. Er sah so aus, als würde die ganze Situation ihn überfordern. »Ich will aber meine Tasche.«
»Aber die geben sie uns nicht«, sagte der Hagere. »Was sollen wir machen?«
Inzwischen waren auch Selin und Philipp von dem Lärm geweckt worden und runtergekommen. Sie schauten irritiert auf die Männer im Flur. Manuel versuchte Boden gutzumachen und wandte sich erneut an den Hageren. »Wir haben die Tasche wirklich nicht. Aber wir können sie holen.«
Der Rosige schaute den Hageren an und lächelte zufrieden. »Na, bitte, Henk. Sie können die Tasche holen.«
Der, den sie Henk nannten, hatte Esther und Knut einfach beiseitegeschoben und war an ihnen vorbei ins Haus gegangen. Sein Kumpel mit dem Babyface und der Anhalter kamen hinterher. Philipp hatte überlegt, ob er sie daran hindern sollte. Schließlich war er mit den anderen in der Überzahl.
Und auch Esther protestierte: »Hey. Niemand hat gesagt, dass ihr reinkommen sollt.«
Aber es klang lahm.
Henk drängte sie ins Wohnzimmer. Sein Kumpel hatte einen langen Schraubenschlüssel aus seinem Hosenbund gezogen.
»Können wir jetzt vielleicht mal vernünftig miteinander reden«, hörte Philipp sich selbst sagen.
Manuel hielt das ebenfalls für das Beste. »Wir haben ja gesagt, wir holen die Tasche.«
»Dann lasst mal hören, wie und wo ihr das machen wollt«, sagte Henk. »Nett habt ihr es hier.« Er schaute sich im Wohnzimmer um.
Die Anwesenheit der drei im Haus fühlte sich wie eine Verletzung an. Der Anhalter glotzte Selin an, die nur das T-Shirt trug, in dem sie geschlafen hatte. Liam. Der Name passte irgendwie gar nicht richtig zu ihm. Babyface ließ sich auf die Couch fallen, auf der noch das Bettzeug von Manuel lag.
Knut räusperte sich. »Wir müssten mit dem Bus fahren. Die Tasche … sie liegt an der Straße.«
»An der Straße …« Henk ging weiter durch den Raum. Er betrachtete die Lehrbücher, die auf dem Tisch lagen, und blätterte in dem Collegeblock daneben. Er überflog ein paar Seiten, die Esther mit ihrer geschwungenen Handschrift gefüllt hatte, klappte den Block wieder zu und wandte sich um.
»Ihr habt die Tasche also einfach aus dem Auto geschmissen.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Wir dachten, es ist nichts Wichtiges drin«, sagte Esther schnell. »Und wir wollten sie ja auch nicht einfach behalten.«
»Lernt man so was in Ethik?« Henk deutete auf den Collegeblock und schaute sie spöttisch an.
»Wir holen das Ding jetzt und fertig, okay?« Selins Stimme klang gereizt. Aber Philipp kannte sie gut genug, um die Angst hinter der Aggression zu hören. Je mehr Angst Selin hatte, umso härter trat sie auf. Das hatte er selbst oft genug erfahren.
»Ich will meine Tasche zurück.« Liam wiederholte den Satz, als sei er darauf hängen geblieben. »Sie gehört mir. Da waren meine Sachen drin.«
»Schon gut. Du kriegst sie ja wieder.« Henk schaute auffordernd in die Runde.
Knut hob die Hand. »Ich fahr und hol sie.«
Philipp nickte. »Ich komm mit.«
Henk lächelte zufrieden. »Sehr gut. Arne begleitet euch.«
»Jau.« Das Babyface sprang von der Couch hoch und klatschte den Schraubenschlüssel in seine flache Hand.
Liam trat neben seinen Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der verzog das Gesicht. »Liam, du Schweinchen!« Henk schob Liam von sich weg. »Ähm, wo ist denn hier die Toilette? Mein Bruder muss mal.«
Alle schauten zu Esther. Sie deutete unwillig in die Richtung.
»Da hinten. Erste Tür links.«
»Und ’n Kaffee wär jetzt nicht verkehrt«, sagte Henk. »Schwarz mit Zucker.«
Esther war ihr Unwille anzusehen.
Aber Manuel sprang in die Bresche. »Okay«, sagte er, als sei nichts dabei. »Ich wollte eh gerade welchen machen.« Er verschwand in der Küche.
Arne folgte ihnen zum Bus. Den Schraubenschlüssel locker in der Hand wie einen Drumstick. Knut entsperrte die Zentralverriegelung und ging zum Tor, um es zu öffnen. Philipp wollte auf der Beifahrerseite einsteigen, aber Arne schüttelte den Kopf: »Blacky sitzt hinten.«
Philipp zog die Augenbrauen zusammen, aber Knut signalisierte ihm mit einem Blick ruhig zu bleiben. Er setzte sich hinters Steuer und wartete, bis Philipp hinten eingestiegen war und Arne sich auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte.
»Alles klar?«
»Auf gehts!« Arne schaltete das Radio ein und lehnte sich zurück.
Knut startete den Bus, setzte zurück und fuhr die Dorfstraße runter. Er überlegte, wie sie am besten vorgehen sollten. Die sicherste Variante war, bis zur Tankstelle zurückzufahren und dort zu wenden, um die Strecke dann auf der richtigen Seite abzufahren. Bis zur Tanke war es eine gute halbe Stunde. Von dem Moment, wo sie dort losgefahren waren, bis zu dem Moment, wo Manuel die Tasche aus dem Fenster geworfen hatte, konnten es höchstens zehn Minuten gewesen sein. Also müssten sie die Tasche in spätestens vierzig Minuten haben. Wenn nicht jemand anders sie schon vor ihnen gefunden hatte.
Neben ihm drehte Arne das Radio lauter und legte die Füße aufs Armaturenbrett. Knut sah, wie sich die Zehen in den Gummiausstülpungen im Takt bewegten.
Er suchte Philipps Blick im Rückspiegel. Als ihre Augen sich trafen, hatten sie den gleichen Gedanken.
Was lief hier eigentlich gerade?! – Selin verstand nicht, warum sie sich das alles bieten ließen. Scheiß auf die Tasche! Die Typen drangen hier einfach ein. Das ging gar nicht! Sie wandte sich zur Treppe, aber Henk trat ihr schnell in den Weg. »Hey, wo willst du hin?«
»Dahin.« Selin drängte sich an ihm vorbei, wobei sie ihn leicht anrempelte. »Kannst du nicht aufpassen?«, zischte sie. Die Berührung fühlte sich unangenehm an.
Henk hob theatralisch die Hände. »Oh, Achtung, bissig.«
Selin zeigte ihm den Mittelfinger.
Sie spürte, wie sein Blick ihr folgte, bis sie oben war. Im Zimmer holte sie ihre Sachen, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich ab. Als sie ihr T-Shirt auszog, roch sie den scharfen Schweißgeruch unter ihren Achseln. Sie wusch sich, trug Deo auf und schlüpfte in Pulli und Jeans. Ihr Gesicht im Spiegel sah müde aus. Selin überlegte kurz, ob sie sich schminken sollte. Sie entschied sich dagegen und nahm stattdessen die Nagelfeile aus ihrem Kulturbeutel. Sie war aus Metall, spitz und ungefähr so lang wie eine Hand. Selin schob sie in ihre linke Socke.
Als sie wieder runterkam, trug Manuel gerade das Tablett mit Kaffee ins Wohnzimmer. Er verteilte die Tassen. Der Kaffee war heiß und bitter. Selin trank schnell und schenkte sich nach.
Henk wollte wissen, was sie hier eigentlich genau machten. Esther erklärte knapp, dass sie sich zusammen auf das Abi vorbereiteten. Prüfungsfach Ethik.
»Verstehe.« Henk deutete auf den Collegeblock und die Bücher. »Also ist das hier so ’ne Art Strebertreffen.«
Obwohl er den Kaffee bestellt hatte, rührte er seine Tasse nicht an. Genauso wenig wie Liam.
»Na ja, geht so …« Manuel grinste schief.
Danach herrschte wieder angespanntes Schweigen. Henk stand einfach nur da. Liam bohrte selbstvergessen mit dem kleinen Finger im Ohr.
Selin sah auf die Uhr an der Wand. Ein geometrisches Designobjekt, wo sich statt Zeigern farbige Dreiecke unmerklich gegeneinander verschoben. Knut und Philipp waren schon eine gute halbe Stunde weg. Schwer zu schätzen, wie lange sie brauchen würden, um die Tasche zu finden. Hoffentlich fanden sie sie auch wirklich. Liam zog den Finger aus dem Ohr und betrachtete ihn. Selin spürte einen Würgereiz im Hals.
»Die Uhr tickt«, sagte Henk. Er stand vor der Uhr an der Wand und betrachtete sie. »Man hört es aber kaum.«
Erneutes Schweigen. Henk drehte sich um.
»Mein Bruder hatte vorhin die Idee, dass wir ein Spiel spielen könnten, um uns die Zeit zu vertreiben.«
»Ja!« Liam wischte seinen kleinen Finger am Sofa ab.
»Eine Runde Topfschlagen etwa?« Manuel versuchte es erneut auf die launige Art.
»Wahrheit oder Pflicht«, rief Liam und wiederholte es gleich noch mal. »Wahrheit oder Pflicht!«
»Vergiss es,« wehrte Selin ab. »Kein Bock auf eure Spielchen.«
»Ich finde ›Wahrheit oder Pflicht‹ gut.« Henk schaute in die Runde. »Und wenn, dann machen alle mit.« Es klang wie eine Drohung, auch wenn er dabei lächelte.
»Bitte, muss das jetzt sein?«, sagte Esther.
»Ich fang an«, sagte Henk, »und wähle Wahrheit.«
»Wahrheit, geil!« Liam lachte und bekam vor Aufregung rote Backen wie ein Kind. Er zeigte auf Selin. »Und sie muss fragen.«
Selin schüttelte den Kopf. »Hörst du schlecht?«, sagte sie und betonte jede Silbe. »Ich hab gesagt, ich will nicht.«
Sie will nicht«, sagte Liam und schaute fragend zu Henk.
Selin hatte eine klare Haltung. Und Esther bewunderte sie dafür, auch wenn sie daran zweifelte, ob es klug war, diesen Typen so zu begegnen.
Wieder war es Manuel, der einsprang. »Dann frag ich«, sagte er schnell und wandte sich Henk zu. »Also … Was ist das Peinlichste, das dir je passiert ist?«
»Puh …« Henk faltete die Hände vor den Lippen »Das Peinlichste, was mir je passiert ist …« Er schaute nachdenklich hoch zur Decke. Es sah fast aus, als würde er beten. Dann sagte er mit ausdrucksloser Miene: »Dass ich Mitleid mit dem Alten hatte.«
»Ja.« Liams Mund verzog sich zu einem Strich. »Du hast ihn fast totgeprügelt.«
»Aber eben nur fast.« Henk lachte und wuschelte Liam durchs Haar.
War das jetzt ein Witz? Esther lächelte gezwungen und tauschte einen Blick mit Selin, die keine Regung zeigte. Manuel dagegen lachte übertrieben laut auf, als wolle er damit klarmachen, dass er verstanden habe: Krasser Humor!
Henk ließ die Arme baumeln, als würde er sich locker machen. »Okay, jetzt seid ihr dran, mit der Pflicht.« Er tänzelte kurz auf der Stelle. »Ich finde, ihr solltet was für meinen Bruder machen. Zur Entschädigung. Er darf sich was wünschen. Und ihr müsst es erfüllen. Was meinst du, Liam?«
»Ja, das ist gut!« Liam war schon eifrig am Überlegen. »Ich wünsch mir …« Seine Finger zappelten durch die Luft. »… eine Massage! Von der da.«
Er zeigte auf Selin.
»Niemals«, sagte Selin.
»Hey.« Henk hob mahnend den Zeigefinger. »Pflicht ist Pflicht.«
Er wandte sich wieder an Liam. »Was für ’ne Massage solls denn sein? Nacken, Rücken, Schulter, Fuß … – oder was anderes?«
Esther ging es nun auch zu weit.
»Das ist jetzt nicht mehr lustig.«
Selin schüttelte grimmig den Kopf. »Sucht euch jemand anderes für eure perversen Spielchen.«
Das Klatschen klang wie eine Explosion und der Schlag ließ Selin taumeln. Esther schaute entsetzt. Henk hatte Selin unvermittelt eine Ohrfeige verpasst. Selin, die sich gefangen hatte, stand einfach nur da. Wie in Trance berührte sie die Stelle, wo Henks Hand ihr Gesicht getroffen hatte.
»Hast du sie noch alle?!«, schrie Esther und fürchtete im gleichen Moment, dass Henk sie als Nächstes schlagen würde.
Aber Henk blieb ruhig.
»Sie hat meinen Bruder beleidigt«, sagte er und sah gleichmütig auf seine Hand. »Pervers ist ein schlimmes Wort.«
Selins Reaktion platzte zeitverzögert aus ihr heraus. »Du krankes Arschloch!«, schrie sie, stürzte sich auf Henk und traf ihn mit der Faust an der Brust. Doch die Attacke schien Henk nicht im Geringsten zu erschüttern. Er stieß Selin einfach weg wie ein lästiges Hindernis, sodass sie rückwärtstaumelte.
»Beruhig dich«, wies er sie scharf zurecht. »Und gib meinem Bruder endlich die verdammte Massage.«
»Hey, Leute! Keine Gewalt.« Manuel versuchte wieder zu deeskalieren.
Aber Selin, die außer sich war, wollte nicht klein beigeben. Sie bückte sich und nestelte an ihrer Socke. Esther hörte, wie sie »Ich bring dich um« zischte, und fasste sie am Arm, um sie zu beruhigen. Schwer atmend richtete sich Selin auf.
Manuel stellte sich schnell zwischen sie und Henk.
»Pflicht ist Pflicht. Ich kann das ja machen. Is ja nix dabei …« Er drehte sich zu Liam. »Also, was für eine Massage willst du?«
Liam schaute unschlüssig zwischen seinem Bruder und Manuel hin und her.
Manuel kannte diese Art von Typen. Im Gegensatz zu den anderen war er nicht bei den Besserverdienenden aufgewachsen, sondern in einem sogenannten Problemviertel. Eine Batterie Sozialbauten mit farblich aufgehübschten Fassaden, wo die Aufzüge meist kaputt waren und die Leute den Müll aus den Fenstern warfen. Etwas Besseres konnte seine Mutter sich nicht leisten – alleinerziehend mit drei Kindern. Geld war immer ein Thema gewesen. Wer was hatte und wer nicht. Auch unter den Kids. Auf der Grundschule gab es eine Gruppe von älteren Jungs, die die Kleineren regelmäßig schikanierten und abzogen. Manuel hatte immer panische Angst vor ihnen gehabt. Um ins Schussfeld zu geraten, reichte es irgendwie »schwul« auszusehen oder einfach nur falsch zu gucken. Und wenn sie einen auf dem Kieker hatten, durfte man sie auf keinen Fall noch zusätzlich provozieren, sonst hatte man endgültig verloren und war das bevorzugte Opfer.
Aber genau das hatte Selin gerade getan. Logisch, dass der Typ ihr eine geballert hatte. Jetzt galt es zu verhindern, dass das Ganze völlig aus dem Ruder lief. Und, ja, dafür war Manuel bereit, dem kleinen Arschloch weiß Gott was zu massieren.
»Rücken«, sagte Liam nach einem Moment des Zögerns und von Henk kam kein Widerspruch. Umständlich zog Liam sein T-Shirt über den Kopf. Vorsichtig legte Manuel seine Hände auf Liams Schultern und fing an sie zu kneten.
Esther, Selin und Henk sahen schweigend zu. Manuel hätte erwartet, dass er den fremden Körper abstoßend fand, aber Liams Haut war erstaunlich weich und glatt, fast makellos. Nur vorne auf der Brust hatte er eine kleine vorstehende Narbe, knapp unter dem Schlüsselbein.
Je länger Manuel an Liam herumdrückte, umso mehr schien der es zu genießen. Er lächelte versonnen und seufzte immer wieder wohlig.
Manuel hoffte, dass Knut und Phil die verfickte Tasche schnell finden würden, damit der ganze Spuk dann hoffentlich ein Ende hätte.
Als Esther von draußen das Motorgeräusch hörte, schaute sie erleichtert auf. Endlich! Durchs Fenster sah sie, wie der Bus durch das Tor auf das Gelände rollte. Liam zog sein T-Shirt wieder an. Esther folgte Henk zur Tür.
Philipp saß hinter dem Steuer. Er und Arne stiegen aus. An Philipps Gesicht sah Esther sofort, dass etwas passiert war. Arne öffnete die Schiebetür und Knut kletterte umständlich aus dem Bus. Er musste sich auf Philipp stützen und zog sein linkes Bein nach. Nun bemerkte Esther auch, dass der linke Scheinwerfer des Busses zersplittert war.
»Habt ihr meine Tasche?«, rief Liam, der jetzt auch in der Tür stand.
Arne schüttelte den Kopf. »Nee, nicht gefunden.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Esther und schaute besorgt auf Knuts Bein.
Aber Knut schüttelte nur den Kopf und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihr vorbei ins Haus.
»Frag jetzt besser nicht«, zischte Philipp ihr zu.
»Und meine Sachen …?« Liam stand mit hängenden Schultern da.
Arne zuckte mit den Achseln. »Nix zu machen.«
»Nicht gut.« Henk runzelte die Stirn. »Deine Tabletten.«
»Und Papas Würfel«, klagte Liam. »Der ist jetzt auch weg.«
Zurück im Haus ging Arne in die Küche und bediente sich an den Vorräten. Während Liam verloren im Raum stand, postierte Henk sich in der Tür und behielt alles im Auge. Knut hatte sich auf die Couch gelegt. Um ihn herum standen Philipp, Selin und Manuel. Esther kam mit den Kühlpäckchen, die sie aus dem Eisfach geholt hatte. Knut hatte die Hose ausgezogen und das Bein hochgelegt. Das Knie war blutig und geschwollen. Aus den wenigen bruchstückhaften Sätzen, die er und Philipp von sich gaben, konnten Esther und die anderen sich zusammenreimen, was passiert war. Nachdem sie an der Tankstelle gewendet hatten, war Knut die Strecke mit Arne auf dem Beifahrersitz abgefahren, während Philipp draußen am Straßenrand entlanglief und alles absuchte. An der Abzweigung nach Rehberg wollte Knut abbrechen. Aber Arne beharrte darauf, dass sie weitersuchten. Sein erster Schlag mit dem Schraubenschlüssel traf den Scheinwerfer, der zweite Knuts Knie.
»Er hat behauptet, es sei ein Versehen gewesen«, sagte Philipp.
»Aber es sah nicht so aus«, sagte Knut gepresst. »Und fühlte sich auch nicht so an.«
»Das ist ganz klar Terror, was die hier machen!« Selin sah zu Henk, der sich in der Küche zu schaffen machte.
Esther nickte. »Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch – ich ruf jetzt die Polizei!«
»Nach der Aktion mit der Tasche stehen wir selbst auch nicht so gut da«, sagte Manuel zögernd.
»’ne Tasche voll Müll – deswegen willst du denen jetzt komplett in den Arsch kriechen?« Selin verzog verächtlich das Gesicht.
»Leute …«, sagte Knut mahnend.
Henk kam zu ihnen. Er hatte sich ein Glas mit Essiggurken aus dem Kühlschrank geholt.
»Wir haben jetzt ein Problem«, sagte er. »Ein ethisches. Aber das ist ja genau euer Ding.« Er fischte eine Gurke aus dem Glas und biss hinein. »Mit der Rückgabe des Diebesgutes wäre der Fall erledigt gewesen. Aber jetzt ist wieder alles offen.« Die Gurke machte ein lautes Geräusch, als Henk sie zerkaute.
Knut stützte sich auf und sah Henk wütend an. »Was genau wollt ihr eigentlich von uns?«
»Lemmis Sachen, was sonst«, sagte Henk und fingerte die nächste Gurke aus dem Glas. »Aber da die ja nicht mehr aufzufinden sind, solltet ihr vielleicht über eine andere Lösung nachdenken. Ihr habt fünfzehn Minuten.« Er deutete mit dem Gurkenstummel auf die Uhr an der Wand. Auf dem Weg zur Küche blieb er noch mal stehen. »Habt ihr eigentlich auch irgendwo Mayo – oder ist hier alles vegan?«
»Nee, Mayonnaise ist keine da.« Esther empfand fast so etwas wie Genugtuung darüber. Irgendwie kam ihr das alles immer noch völlig unwirklich vor. Der Typ war einfach so in ihr Haus eingedrungen und fragte nach Mayonnaise, als sei er hier zum Brunchen eingeladen. Komplett irre. Ein Albtraum, aus dem man jeden Moment aufzuwachen hofft – aber es passiert einfach nicht.
»Ich denke, die wollen Kohle«, sagte Manuel leise.
Ja, dachte Esther, am leichtesten und schnellsten ließ sich das Problem wohl mit Geld aus der Welt schaffen. Auch wenn es richtiger wäre, die Polizei zu rufen. Aber bis die kam, konnte noch viel passieren.
Esther zog ihr Portemonnaie aus der Tasche. »Dann geben wir ihnen eben was. So viel kann das Zeug ja nicht wert gewesen sein.« Sie nahm zwanzig Euro aus dem Portemonnaie. »Was habt ihr noch?«
»Wollt ihr die Arschlöcher jetzt auch noch belohnen!?« Selin stellte sich quer. »Keinen Cent geb ich denen!«
»Wenn sie danach endlich abhauen«, seufzte Philipp und legte einen Zwanziger dazu.
Knut legte noch mal zwanzig drauf. »Auch wenns wehtut: Ich hab keinen Bock, noch einen in die Fresse zu kriegen.«
Manuel steuerte weitere zwanzig Euro bei. »Damit sind die echt gut bedient.«
»Das ist, als würden wir einen Vergewaltiger dafür bezahlen, dass er uns in Ruhe lässt«, empörte sich Selin weiter.
»Ja, genau«, sagte Manuel genervt.
»Der Vergleich hinkt außerdem«, bemerkte Philipp. »Wir haben die ja gewissermaßen als Erstes geschädigt.«
»Du meinst wegen der Tasche?!« Selin sah Philipp an. »Und die ganzen Scheißsprüche von dem?!«
Esther nahm das Geld und stand auf. »Wir wollen doch einfach nur, dass jetzt Schluss ist. Damit wir endlich anfangen können zu lernen.« Sie blickte auffordernd in die Runde. Sie wollte nicht alleine gehen. Philipp stand ebenfalls auf.
Henk lehnte in der Küchentür und kaute ein dick mit Butter bestrichenes Brot. Auf dem Tresen standen überall geöffneten Dosen und Gläser. Liam und Arne hatten die Vorräte weiter geplündert.
Esther hielt Henk die Scheine hin. »Achtzig Euro. Das müsste ja wohl reichen.«
Henk sah auf das Geld und zog die Augenbrauen hoch, als hätte er nicht mit so viel gerechnet. »Ooookay.« Er nahm die Scheine. »Das ist auf jeden Fall eine gewisse Entschädigung für den Verlust.«
Esther spürte, dass ihre Hände feucht waren. »Das heißt, wir sind quitt?«
Henk wedelte mit den Scheinen in Liams Richtung. »80 Euro. Was denkst du, Lemmi? Sind wir quitt?«
Liam ließ das Brot sinken, das er sich gemacht hatte. Sein Mund war mit Schokocreme verschmiert: »Eigentlich müssten wir noch Papa fragen …«
»Vergiss Papa«, sagte Henk abschätzig und steckte die Scheine ein.
Esther atmete auf. Er nahm das Angebot also an. Sie gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst fest klingen zu lassen: »Dann würde ich euch jetzt bitten zu gehen.«
»Klar«, sagte Henk. »Wir essen nur noch schnell fertig.«
Sie gingen wirklich. Knut hatte es bis zum Schluss nicht für möglich gehalten. Aber als sie das Haus verließen und durch das Tor an der Einfahrt verschwanden, spürte er eine unbändige Erleichterung.
Sie alle warteten noch ein paar Minuten, um sicherzugehen, dass die drei auch wirklich nicht wiederkamen. Dann entlud sich die Anspannung.
»Was für eine krass kranke Psychoscheiße war das denn?!«, platzte es aus Manuel heraus.
»Oh, Mann, ich dachte wirklich, die bringen uns um«, sagte Esther, die immer noch ganz blass war.
»Nicht nur du.« Philipp schaute zu Knut. »Wir müssen die auf jeden Fall anzeigen. Das war kein Versehen. Der hat absichtlich zugeschlagen.«
»Ich glaub, es ist zum Glück nur eine Prellung.« Knut humpelte vorsichtig ein paar Schritte hin und her. »Was für Arschlöcher …«
»Irgendwann fliegt ihnen der Karma-Bumerang voll in die Fresse«, sagte Manuel. »Darauf können wir wetten. Oder wir sorgen selbst dafür.«
»Kommt jetzt bisschen spät, der Kampfgeist«, sagte Selin, die sich bis dahin zurückgehalten hatte.
»Manchmal ist es klüger, den Feind zu umarmen, statt stur Kontra zu geben«, gab Manuel zurück.
»Wir waren in der Überzahl.«
»Schon«, sagte Esther schnell. »Aber du hast es ja gesehen: Die waren absolut unberechenbar. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass die noch weiter gewalttätig werden.« Ihre Lippen bildeten eine dünne Linie. Knut kannte den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Jetzt, wo der äußere Konflikt vorbei war, stresste sie der innere Konflikt in der Gruppe umso mehr und sie wollte ihn beenden.
»So unberechenbar waren die nun auch wieder nicht.« Selin konnte es nicht lassen. »Die Kohle haben sie schließlich genommen.«
»Zum Glück war von dir ja nix dabei«, sagte Manuel spitz.
»Können wir jetzt erst mal was essen?«, unterbrach Philipp beschwichtigend. »Und dann besprechen wir in Ruhe, wie es weitergeht …«
Schlagartig merkte Knut jetzt auch, wie hungrig er war. Es war weit nach Mittag und sie hatten seit gestern Abend nichts Richtiges mehr zu sich genommen.
Die Aussicht auf Essen verband alle und ließ sie den Streit vergessen. Sie räumten auf und beseitigten die Spuren. Sie packten die Vorräte wieder in die Schränke. Knut hatte seine Hose wieder angezogen. Er humpelte zwischen den anderen hin und her und half, so gut er konnte. Die angebrochenen Packungen und das geöffnete Glas mit den Essiggurken flogen in einen großen Müllsack, den Selin gleich in die Mülltonne draußen stopfte.
Manuel und Philipp trugen den großen Gartentisch vor das Haus in die Sonne und deckten ihn. Kaffee, Tee, Brot, Hummus, gegrilltes Gemüse, Obst … Esther hatte Blumen aus dem Garten geholt.
Knut sah auf den festlich gedeckten Tisch. Die Zweige des Apfelbaums warfen flirrende Schatten. Ein perfektes Sommerbild – nichts daran erinnerte an das, was geschehen war. Und für einen Moment hoffte Knut, dass sie wieder ganz unbeschwert wären und einfach noch mal von vorne anfangen könnten.
Wie können Menschen nur so krank drauf sein«, sagte Manuel zum wiederholten Mal. »Gruselig.« Er zündete den Joint an, den er gebaut hatte, und inhalierte.
Esther kratzte mit einem Löffel den Schaum aus ihrer Kaffeetasse. »Am schlimmsten war das Gefühl, so machtlos zu sein.«
»Ich dachte immer, ich bin Pazifist«, sagte Knut. »Aber eben hätt ich mir ’ne Knarre gewünscht.«
Manuel kontrollierte die Glut. »Ich seh’s richtig vor mir, wie du damit in Aktion getreten wärst …« Er machte mit der Hand eine Pistolen-Geste.
Esther kicherte albern. Manuel reichte den Joint weiter. Selin nahm ihn und füllte ihre Lungen mit Rauch. Jetzt, nachdem sie sich satt gegessen hatten, war die Stimmung gelöst und fast schon übertrieben heiter. Wie nach einer fiebrigen Krankheit. Als wollten sie sich gegenseitig darin bestärken, dass sie alles unbeschadet überstanden hatten.
Unwillkürlich fasste Selin sich wieder an die Wange. Sie meinte immer noch den scharfen Schmerz zu spüren. Als hätte Henks Hand sich auf ihrer Haut eingebrannt.
Knut, der sonst nie kiffte, nahm den Joint. Er hatte das Bein mit dem geschwollenen Knie hochgelegt und saß zurückgelehnt in seinem Stuhl.
»Es gibt da doch diese Geschichte von Brecht«, sagte er. »Wo Herr Keuner sich öffentlich gegen die Gewalt ausspricht, bis sie plötzlich höchstpersönlich hinter ihm auftaucht … die Gewalt …«
»Und dann knickt er ein und spricht sich für sie aus.« Esther kannte den Text. »Hatten wir in Deutsch. Neunte Klasse.«
»Ja.« Knut reichte den Joint an Esther weiter. »Die Frage ist eben, wie kann man Widerstand leisten, ohne dabei selbst draufzugehen?«
Philipp pickte mit dem Finger einen Brotkrümel vom Tisch. »Erst mal muss man überleben, um überhaupt weiter Widerstand leisten zu können.«
»Genau«, sagte Knut. »Weil das eigene Rückgrat eben nicht stark genug ist, um der Gewalt standhalten zu können.«
»Heldentod war schon immer ein bescheuertes Konzept«, sagte Manuel.
Selin fand das zu einfach und Manuels lässiger Tonfall ärgerte sie. »Wenn wir denen von Anfang an geschlossen entgegengetreten wären, wäre das Ganze sicher anders gelaufen.«
»Sie haben uns über die Tasche gekriegt.« Esther machte runde Lippen und blies einen perfekten Rauchkringel in die Luft. »Das war unser Schwachpunkt.«
Philipp wischte die restlichen Brotkrümel vom Tisch. »Wir waren moralisch in der Defensive …«
»Und was lernen wir daraus?«, trumpfte Manuel auf. »Scheiß auf die Moral.«
»Nee«, sagte Selin. »Die Lehre ist, dass du für deine eigene Moral auch kämpfen musst. Und zwar von Anfang an.«
»Im Nachhinein sagt sich das immer leicht«, entgegnete Manuel.
Selin sah ihn herausfordernd an. »Im Nachhinein waren ja auch alle immer gegen Hitler …«
»Oho. Da machst du jetzt aber ein großes Fass auf«, sagte Knut.
»Ein ganz, ganz großes«, echote Manuel und streckte fordernd die Hand nach dem Joint aus. »Also wenn Henk jetzt Hitler war, wer waren dann wir?«
Wer waren dann wir?« – Philipp sah nachdenklich in die Runde. Natürlich würde keiner von ihnen sich freiwillig als Mitläufer bezeichnen. Aber wenn es hart auf hart kam, waren die meisten wahrscheinlich genau das. Bis auf Selin vielleicht.
Ehrlicherweise musste man sagen, dass sie bisher einfach Glück gehabt hatten. Glück, in einem Land und einer Gesellschaft zu leben, wo die Probe aufs Exempel einem normalerweise erspart blieb. Philipp hatte sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn er nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen wäre, sondern in Nigeria bei der Familie seines Vaters. Vielleicht wäre es da auf andere Art auch besser gewesen. Keine weiße Mehrheitsgesellschaft, Schwarz zu sein war einfach normal und wenn ihm dort einer kein Abi zugetraut hätte, wäre es einfach nur eine blöde Bemerkung gewesen und nicht noch eine rassistische Erfahrung mehr in einer lebenslangen Kette der Diskriminierungen.
»Vielleicht hat Kreilich das Ganze ja heimlich inszeniert, um uns zu testen«, scherzte Esther und legte ihre Hand auf Knuts Bein.
»Ja, wie in diesem alten Film …« Knut sah fragend zu Philipp.
»Du meinst The Game mit Michael Douglas.« Philipp kannte den Film und hatte ihn Knut empfohlen.
»Genau.« Knut nahm Esthers Hand von seinem Knie. »Der erlebt da auch die krassesten Sachen und am Ende war alles gefakt.«
Philipp nickte. »Kreilich würde bestimmt sagen, dass es auf jeden Fall eine interessante Grenzerfahrung war.«
Manuel imitierte Kreilichs vernuschelte Sprechweise. »Grenzen zu transzendieren ist die vornehmste Aufgabe der Philosophie.«
Alle mussten lachen, auch Selin. Es hallte zwischen den Hauswänden. Philipp sah, wie Esthers Blick zum Nachbargrundstück rüberging. Er schaute auf die mannshohe Hecke. Dahinter war alles ruhig. Dieser Hanika hatte sich die ganze Zeit noch nicht blicken lassen.
»Also, was jetzt?«, wollte Selin wissen. »Machen wir nun endlich eine Anzeige oder nicht?«
»Gibts hier überhaupt irgendwo eine Polizeiwache?«, fragte Manuel.
»Man kann das online machen«, sagte Esther und stand auf, um ihr Notebook zu holen.
Telemann schaute zu ihm hoch und spitzte erwartungsvoll die Ohren. Günther Hanika stand hinter der Hecke und lauschte. Die drei jungen Männer waren wieder gegangen. Aber ruhiger war es dadurch nicht geworden. Im Gegenteil. Die junge Boehme hatte sich mit ihrer Clique jetzt vor dem Haus breitgemacht. Als müsse sie alle Welt teilhaben lassen an ihrem Leben. Die Stimmen und das Lachen klangen schrill in seinen Ohren. Man schien sich über irgendwas aufzuregen. Hanika verstand nur einzelne Worte. Es hatte wohl mit dem Besuch zu tun.
Hanika hatte sich selbst auch gefragt, wer diese drei jungen Männer waren und was sie mit den anderen zu tun hatten. Von der äußeren Erscheinung und ihrem Auftreten hatten sie nicht so richtig dazu gepasst. Nicht in diese bildungsbürgerliche Wohlstandsblase. Aus ihnen sprach etwas Direktes, eine andere Energie und Aggressivität. Hanika erinnerte sich an eine Studie, die er gelesen hatte. Die gefährlichste Bevölkerungsgruppe waren Männer im Alter zwischen 15 und 25. Sowohl was die Fremd- als auch die Eigengefährdung anging.
Telemann trabte weiter. Hanika folgte ihm ums Haus herum in den hinteren Teil des Gartens. Die Stimmen waren hier nur noch gedämpft zu hören. Die Blätter der Birke leuchteten im Sonnenlicht. Der Baum spendete angenehm Schatten. Telemann lief am südlichen Zaun hin und her und schlug an. Er schien etwas zu wittern.
»Aus, Telemann.«
Hanika schaute auf das Feld und den Wald, die gleich hinter der Grundstücksgrenze begannen. Ihm war, als bewegte sich etwas durch die hoch stehende Gerste.
Oft kam Rotwild bis dicht an den Zaun heran.
Die Anzeige war kein großes Ding. Esther hatte auf ihrem Notebook die Internetseite der Polizei geöffnet. Manuel verfolgte, wie sie sich durch die Eingabemasken klickte: Datum, Uhrzeit, Anschrift.
»Angaben zum Sachverhalt …«, las sie vor.
»Also: Was genau die Tat ist?«, fragte Philipp.
»Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Körperverletzung«, zählte Knut auf.
»Und Nötigung«, fügte Selin hinzu.
»Ja, aber ich muss hier auch den Tathergang genau beschreiben«, sagte Esther.
Knut überlegte kurz. »Schreib einfach: Die drei Täter verschafften sich gewaltsam Zugang ins Haus. Sie bedrohten und misshandelten die Anwesenden …«
Esthers Fingernägel klackerten über die Tastatur. »Und das mit der Tasche?«
»Lass erst mal weg«, riet Manuel.
Esther zögerte. »Sicher?«
Manuel nickte. Wieso sollten sie sich selbst belasten? »Das können wir dann immer noch erzählen, wenn die nachfragen.«
»Falls überhaupt irgendwas passiert«, bemerkte Philipp skeptisch. »Für die Bullen ist das wahrscheinlich eh nur Kleinkram.«
»Würde mich jetzt auch wundern, wenn die was machen«, sagte Selin. »Das geht denen am Arsch vorbei.«
»Unterschätzt das mal nicht«, sagte Knut. »Die müssen jede Anzeige bearbeiten. Und Körperverletzung ist ein ernstes Delikt.«
Esther klickte weiter. Bei den Angaben zu den Tätern konnten sie nur die Vornamen und äußeren Beschreibungen von Henk, Liam und Arne eingeben.
»Und was soll ich bei ›Anzeigender‹ und ›Geschädigter‹ schreiben?«
»Steht da wirklich ›Geschädigter‹?« Selin verzog das Gesicht. »Von Gendern haben die wohl noch nie was gehört.«
»Darum gehts doch jetzt nicht.« Selin und ihre permanente Empörung gingen Manuel zunehmend auf den Wecker.
»Doch genau darum gehts. Um Gewalt und Unterdrückung, die Männer ausüben, egal ob sprachlich oder physisch.«
Ja, klar. Die Männer waren schuld und die Aggressoren und Unterdrücker. Manuel konnte es nicht mehr hören. Als ob Frauen nicht auch scheiße sein konnten. Besonders auf diese betont unaggressive Art, die in Wahrheit voll aggro war. So wie Leonie ihn abserviert hatte … einfach so … weil sie frei sein wollte … »Du, ich weiß, dass dich das jetzt verletzen wird, aber wir können so nicht weitermachen« … wahrscheinlich hatte sie einfach einen anderen … Einen Moment spürte Manuel, wie die ohnmächtige Wut auf Leonie sich mit dem Ärger über Selin mischte und alles andere in den Hintergrund drängte.
Manuel hörte, wie Knut sagte: »Schreib am besten alle unsere Namen.«
»Find ich auch am besten«, stimmte Philipp zu.
Esther tippte die Namen ein und hielt dann den Zeigefinger über die Eingabetaste.
»Ich drücke jetzt auf ›Absenden‹, okay?« Sie sah fragend in die Runde.
»Ja, mach.« Knut stand auf. »Hau es raus.«
Esther drückte die Taste.
Manuel hatte sich innerlich wieder beruhigt. Er schaute auf den sich füllenden Ladebalken auf dem Bildschirm. Ein Fenster poppte auf.
Esther las murmelnd. »Vorgangsnummer … Angaben zum Opferschutz …« Der Rechner pingte. Esther wechselte das Fenster.
»Bestätigungsmail ist auch schon da.«
Sie klappte das Notebook zu und atmete erleichtert auf. »Also, das hätten wir.«
Knut, der hinter sie getreten war, massierte ihr die Schultern. »Danke. Und damit wir jetzt nicht völlig schräg draufkommen, sollten wir jetzt erst mal alle in den See springen.«
»Guter Plan! Und danach fangen wir dann an zu lernen.« Philipp stand ebenfalls auf und schaute Manuel und Selin auffordernd an. »Was ist mit euch?«
»Klaro.« Manuel erhob sich und lächelte. »Dafür sind wir schließlich hier.«
Das kalte Wasser war wie ein reinigendes Bad. Knut stand hüfttief im See und kühlte sein Bein. Philipp und Manuel kraulten weit raus. Obwohl Selin Philipp schon hundertmal gebeten hatte, das nicht zu tun. Sie selbst schwamm immer nur am Ufer entlang. Sie bekam schon Panik, wenn sie den Grund nicht mehr unter ihren Füßen spüren konnte. Sie wusste, dass auch gute Schwimmer in offenen Gewässern ertrinken konnten. Aber als Philipp zurückkam, lachte er nur, schüttelte die nassen Haare und gab ihr einen Kuss. »Glaub mir, das ist nicht halb so gefährlich, wie einen Anhalter mitzunehmen.«
Danach lagen sie auf der kleinen Wiese am Ufer. Esther hatte ihren Kopf auf Knuts Bauch. »Geht das so mit deinem Bein?« Knut brummte bejahend. Seine Finger spielten mit den Bändchen ihres Bikini-Oberteils. Die Sonne stach. Selin spürte, wie ihr der Schweiß unter den Achseln lief. Manuel baute noch einen Joint und alle rauchten. Selin hielt den Rauch so lange sie konnte in den Lungen und hoffte, dass das Gras sie entspannte.
Sie wusste auch nicht, was an Manuel genau sie eigentlich immer so auf die Palme brachte. Sie empfand ihn als egoistischen Blender und es wunderte sie überhaupt nicht, dass Leonie ihn verlassen hatte. Vielleicht wäre die Situation anders, wenn sie auch mit dabei gewesen wäre. Selin fand, dass Philipp, Knut und Manuel zusammen oft so ein Jungs-Ding am Laufen hatten. Sie kannten sich alle schon seit der Grundschule. Esther und Selin wiederum waren seit der siebten Klasse beste Freundinnen. Irgendwann hatte das dann mit Esther und Knut angefangen und darüber hatte Selin schließlich Philipp kennengelernt, Knuts besten Freund.
Selin dachte wieder an den Nazi-Vergleich. Natürlich mussten sie alle sich fragen, wie sie sich damals verhalten hätten. Und allein das, was sie gerade erlebt hatten, reichte, um das Beste und Schlechteste in den Menschen sichtbar zu machen.
Philipp richtete sich auf. »Mir ist schon wieder voll heiß. Wie wärs mit einer Runde Wasserrodeo?«
Manuel sprang begeistert auf und machte eine Faust: »Schnick, schnack, schnuck! – Wer gewinnt, darf aussuchen, mit wem!«
An normalen Tagen wäre Selin die Erste, die dabei gewesen wäre. Sie liebte Wettkampfspiele und Wasserrodeo ganz besonders. Aber jetzt war ihr nicht danach. Knut schied mit seinem Bein sowieso aus. Und auch Esther schüttelte den Kopf. »Nee, Leute. Ich würd jetzt wirklich lieber anfangen zu lernen.«
Auf dem Weg zurück zum Haus merkte Esther erleichtert, wie sie langsam wieder normal denken konnte. Knuts Vorschlag war gut gewesen. Der See hatte ihren Kopf geklärt. Esther hatte ihre Sandalen in den Händen und fühlte die warme Erde des Feldwegs unter ihren nackten Füßen. Sie drehte sich um und lief rückwärts vor der Gruppe her.
»Mir fällt gerade ein: Wir haben auch noch Eis im Gefrierfach! Zum Glück haben die das nicht entdeckt. Mango und Himbeere.«
»Oh, ja«, Knut lächelte. »Jetzt ’ne Kugel Mango. Und danach dann Platons Politeia.«
Sie hatten das Grundstück erreicht. Philipp schwang sich lässig über den Zaun neben dem Tor. Selin, Knut, Philipp und Manuel hängten ihre nassen Sachen zum Trocknen in den Apfelbaum.
Esther ging ins Haus. Durch den Luftzug blähte sich der Vorhang vor der Terrassentür im Wohnzimmer. Bevor sie losgegangen waren, hatte Esther alle Fenster gekippt. Nicht die geringste Geruchsspur von den Eindringlingen sollte hier drinbleiben. Esther schaute in den rückseitigen Garten. Über den Stauden schwirrten Bienen und Hummeln. Im Licht der hochstehenden Sonne wirkte das Grün fast übernatürlich grell. Auf Hanikas Grundstück war alles ruhig.
Esther ging ins Bad und holte ihre Bürste. Sie zog sie durch ihre nassen Haare und wandte sich Richtung Küche, um das Eis zu holen. Als sie den Raum betrat, blieb sie überrascht stehen.
Auf der Anrichte gleich neben der Tür stand ein großes Glas Mayonnaise.
»Wir waren einkaufen.«
Esther kannte die Stimme.
In der Ecke saß Henk mit Liam und Arne am Küchentisch und lächelte.
Seine Hände lagen auf einem Gewehr.