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Der Anblick der vorbeifliegenden Möwe, die Aliza durch die breite Fensterfront sieht, ist ihr so vertraut, dass sie erst gar nicht merkt, dass er sie überraschen sollte. Sie sitzt jetzt in Berlin, nicht in Hamburg. Aliza dachte eigentlich, dass sie sich von dem vertrauten morgendlichen Geschrei der Vögel verabschieden musste, als sie Hamburg verlassen hat, aber offenbar gibt es auch in Berlin Möwen. Doch sonst ist alles anders. Statt mit Michael in der kleinen, feinen Dachgeschosswohnung in Hamburg-Ottensen wohnt sie jetzt wieder allein in einer ebenso kleinen, aber deutlich weniger feinen Erdgeschosswohnung im Wedding. Doch die Wohnung gehört ihr, nur ihr, und es ist gut, noch einmal neu anzufangen.
Die Fensterfront, durch die sie die Möwe ihre weiten Bahnen ziehen sieht, gehört zum Büro ihrer neuen Chefin, Gabriele von Koblitz. Die Leiterin der Sonderstelle Nationale Sicherheit
ist gerade damit beschäftigt, Fischfutter in ein großes Aquarium zu bröseln, das auf einem Sideboard steht. Die Fische drängen sich an die Oberfläche, um ihren Anteil zu ergattern. Als von Koblitz damit fertig ist, schließt sie eine Klappe am Deckel des Aquariums, stellt die Futterdose in das Sideboard und dreht sich zu Aliza, die auf dem Besucherstuhl vor dem schmucklosen Schreibtisch sitzt. Sie sagt nichts, mustert sie nur. Aliza weiß, was ihre neue Chefin sieht: eine junge Frau, klein, schlank, durchtrainiert, ohne aufgepumpt zu wirken. Ganz klar arabischer Herkunft, nach Alizas Geschmack manchmal zu klar, mit dunklen Augen, weichen Gesichtszügen, die fast wie mit Photoshop bearbeitet aussehen, mit hohen Wangenknochen und einer kräftigen, runden Nase, einem dunklen, ins oliv tendierenden Hautton und schwarzem Haar.
Von Koblitz geht hinter ihren Schreibtisch und setzt sich auf ihren ledernen Bürosessel. »So, Frau Ehlers, herzlich willkommen bei der SNS.«
»Danke.«
Von Koblitz schaut auf das Tablet, das vor ihr liegt.
»Ihre Akte ist ja sehr eindrucksvoll für so eine junge Frau. Ausbildung bei der Berliner Polizei. Wechsel nach Hamburg und Ausbildung für den gehobenen Dienst. Dann
zwei Jahre Cyberkriminalität bei der Kripo.« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Und dann gleich in die Mordkommission? Respekt.«
»Danke.«
»Warum sind Sie jetzt zurück nach Berlin gekommen? Mordkommission mit sechsundzwanzig, das gibt man doch nicht einfach so auf.«
»Meine Familie hat mir gefehlt. Meine Eltern leben hier, betreiben hier ein Restaurant, und ich wollte lieber wieder in ihrer Nähe sein, jetzt, wo sie auch langsam älter werden.«
»Und näher bei Ihrem Onkel wollten Sie auch sein?«
»Bei meinem Onkel?« Aliza tut erstaunt, doch sie hat damit gerechnet. Natürlich weiß von Koblitz von ihrem Onkel.
»Mahmud Al-Farsi. Oberhaupt des Al-Farsi-Clans. Drogen, Schutzgeld, Erpressung, Einbrüche … Nicht gerade ein guter Kontakt für eine Polizeibeamtin.«
»Ich habe keinen Kontakt zu meinem Onkel«, sagt Aliza schnell. »Ich bin damals extra nach Hamburg gegangen, um weiter weg von ihm zu sein.« Das ist die Wahrheit.
»Warum dann jetzt der Sinneswandel?«
»Ich wollte zur SNS. Ich wollte schon zu Beginn meiner Laufbahn zur SNS. Ich bin Deutsche, bin hier aufgewachsen. Meine Familie verdankt diesem Land so viel. Ich möchte helfen, es zu beschützen.«
»Dazu werden Sie hier einige Gelegenheit bekommen.« Von Koblitz schaut weiter skeptisch und setzt dann ein Lächeln auf, das so freundlich wirkt wie das eines Falken, der eine Maus anlächelt. »Na ja, wir freuen uns jedenfalls sehr, dass Sie bei uns sind. Sie arbeiten im Team von Oskar Zöllner, einem meiner besten Leute. Wenn wir hier fertig sind, stelle ich Sie vor.« Sie blickt auf ihr Tablet und schaut Aliza dann streng in die Augen. »Wichtig sind für mich drei Dinge.« Sie macht eine bedeutungsschwere Pause. »Erstens: Wir sind ein Team. Gegenseitige Unterstützung und unbedingte Loyalität gegenüber den Kollegen ist unser wichtigstes Gut und hat Vorrang vor allem anderen. Zweitens: Wir sind hier nicht zum Spaß. Die Lage ist ernst, da draußen herrscht Krieg, und Deutschland braucht den Schutz durch unbestechliche Beamte gegen die inneren und äußeren Kräfte des islamistischen Terrors.« Sie zögert kurz. »Und natürlich aller anderen Spielarten des Terrorismus. Wir sind da ganz unvoreingenommen.« Erneut schaut sie auf ihr Tablet. »Und drittens: Wir fangen hier alle bei null an. Nur Leistung zählt. Glauben Sie nicht, nur weil Sie in Hamburg zu den Besten gezählt haben, weil Sie eine hübsche junge Frau sind und auch noch diesen exotischen Hintergrund haben, hätten Sie hier
irgendwelche Ansprüche. Harte Arbeit ist das Einzige, was für mich zählt. Verstehen wir uns?«
Aliza denkt, sie hört nicht richtig. »Aber natürlich, Frau Direktorin, das ist doch selbstverständlich«, presst sie hervor. Nicht gleich Ärger am ersten Tag. »Ich freue mich über die Chance, hier bei der SNS meinen Teil beizutragen.«
»Sehr gut.« Von Koblitz schaltet das Tablet aus. Sie steht auf, geht um den Schreibtisch herum und reicht Aliza die Hand. »Wo wir gerade von harter Arbeit sprechen: Wir haben die Abhörprotokolle der letzten vier Wochen aus der Al-Rahma-Moschee in der Perleberger Straße in Moabit, die durchgesehen werden müssen. Wenn in drei Wochen das neue Gesetz durchgeht, können das Bots für uns erledigen. Aber bis dahin muss ein Mensch ran. Ist nicht die spannendste Tätigkeit, aber es geht ja um die Sache, richtig?« Sie hält einen Moment inne und schaut Aliza scharf an. »Sie haben doch keine Probleme damit, gegen Ihre eigenen Leute zu ermitteln, oder?«
Aliza schluckt eine bissige Bemerkung hinunter. »Das sind nicht meine Leute«, antwortet sie ruhig. »Natürlich habe ich damit kein Problem.«
»Gut. Dann stelle ich Ihnen jetzt noch Zöllner vor. Er wird Sie dann auch zu Ihrem Arbeitsplatz bringen, Ihre Accounts einrichten lassen und so weiter. Willkommen bei der Sonderstelle Nationale Sicherheit, Frau Ehlers.«
»Danke.« Sie ist sich nicht sicher, wie willkommen sie wirklich ist.
Aliza sitzt in ihrem neuen Büro. Neu für sie, denn neu ist hier nichts. Das Büro befindet sich im obersten Stockwerk einer ehemaligen Polizeiwache in der Straße Alt-Moabit, direkt neben dem Bundesinnenministerium. Ihr Büro ist klein, ein Schuhkarton, aber mit direktem Blick auf die Spree und den danebenliegenden Hauptbahnhof, dessen auch Jahre nach dem Anschlag noch immer eingerüsteter Bau die Aussicht etwas trübt. Der Raum beherbergt zwei gegenüberliegende Schreibtische in tristem Bürograu, auf denen jeweils zwei große Computerdisplays, eine Tastatur und eine Maus stehen. Von ihrem Platz aus schaut Aliza auf eine Wand, an der ein Kalender aus Papier und ein weiteres Flachdisplay von sicher eineinhalb Metern Durchmesser hängen. Auf dem Display laufen Meldungen der Bots von SNS, Polizei und BND durch. Die Luft ist schal und riecht nach den ozonhaltigen Ausdünstungen der Technik. In der Mitte der beiden Tische steht eine Topfpflanze, die sich bemüht, unter solch tristen Bedingungen am Leben zu bleiben.
Aliza hat dicke Kopfhörer auf den Ohren. Seit drei Stunden hört sie die
Aufzeichnungen der Abhöraktion der Moschee in der Perleberger Straße, die ihre neuen Kollegen gewonnen haben. Beziehungsweise, die ein Lauschbot gewonnen hat, der mit den Smartminds und Rechnern der Besucher und Mitarbeiter der Moschee verbunden ist. Sie hört die Aufnahmen mit doppelter Geschwindigkeit, was anfangs noch lustig klang, Aliza mittlerweile aber gehörig auf die Nerven geht. Als wäre Micky Maus zum Islam konvertiert und würde Goofy und Pluto Vorträge über ein gottgefälliges Leben halten. Bisher ist ihr nichts Verbotenes untergekommen, nur theologische Vorträge, Flüche auf Ungläubige und Kochrezepte. Gerade quält sie sich durch eine Passage, in welcher der Imam den Gläubigen erklärt, wie sie die sogenannten »Ungläubigen« zu begrüßen hätten: »Das Urteil über Du’a haben wir schon durch Richtlinien #7 und #8 erfahren. Und das Urteil über Salaam sagen ist, dass es nicht erlaubt ist, den Ungläubigen ohne Grund von sich aus Salaam zu sagen, denn darin liegt ihre Ehrung. Außerdem ist der Salaam eine Du’a des Friedens, welche auch die Du’a für Vergebung beinhaltet.«
Davon abgesehen, dass sie nur die Hälfte versteht, hält Aliza das alles für großen Käse – wie sie es schon als Kind im muslimischen Religionsunterricht für Käse gehalten hat. Warum sollte ein Prophet vor ein paar hundert Jahren erklärt haben, wie gottgläubige Menschen heute andere zu grüßen haben? Das hatte der Mann damals sicher nicht so gemeint. Diese historischen Texte waren doch vor allem eines: historisch. Wenn gute, barmherzige Menschen wie Mohammed oder Jesus heute leben würden, würden sie sicher andere Maßregeln aufstellen als vor tausend oder zweitausend Jahren. Meine Güte. Get a life. Aber nur, weil Aliza diese Männer, die sich Grußregeln aus dem Mittelalter reinziehen, für beschränkt hält, macht sie das noch nicht zu Terroristen. Schon gar nicht, wenn sie so süß quietschen wie Micky Maus.
Plötzlich wacht Aliza aus ihrer Lethargie auf. Sie hört, wie sich aus der Ferne zwei männliche Stimmen der Stelle nähern, wo das Gerät stehen muss, das der Lauschbot angezapft hat. »… kann doch nicht so weitergehen, wallah. Wir müssen was machen gegen die ungläubigen Schweine. Für die sind wir doch sowieso alle Terroristen. Dann geben wir ihnen, was sie von uns denken, inschallah!«
Eine zweite Stimme brummt unwillig und mault dann: »Halt die Klappe, Hassan. Du weißt nicht, wovon du redest!«
Aliza stoppt die Audiodatei, springt ein Stück zurück und hört sich die Stelle noch einmal in normaler Geschwindigkeit an. Das klingt doch schon eher nach einer angekündigten Straftat. Aliza glaubt zwar nicht, dass mehr dahinter steckt als halbstarkes Gerede, doch vorsichtshalber markiert sie die Stelle in der Aufzeichnung und legt eine Signatur der Stimme des Sprechers an. Sie nennt den Eintrag »Hassan«. Das System wird
automatisch weitere Audio-Signaturen aus der Vergangenheit und in der Zukunft mit dieser abgleichen und Aliza informieren, wenn es weitere Treffer gibt.
Sie lässt die Aufzeichnung weiterlaufen.
Die erste Stimme, die offenbar dem angesprochenen Hassan gehört, hebt zu einer Antwort an – Aliza kann deutlich hören, wie er einatmet –, besinnt sich dann aber eines Besseren und schweigt. Nach einigen Minuten, in denen man nur Schritte und das Rascheln langer Gewänder hört, wenden sich die Gespräche wieder religiösen Fragen zu. Aliza seufzt enttäuscht und stellt wieder auf doppelte Geschwindigkeit.
Irgendwann hört sie durch die Kopfhörer und die piepsenden Stimmen hindurch gedämpft, wie jemand sie anspricht: »Na, liebe Kollegin, wie gefällt es Ihnen bei uns?«
Aliza stoppt die Aufzeichnung, nimmt die Kopfhörer vom Kopf und sieht Oskar Zöllner. Ihr neuer Vorgesetzter ist der typische Kampfbulle, wie direkt aus der Einsatzhundertschaft gecastet. Gute eins achtzig groß, breite Schultern, fit wie ein Turnschuh. Die dunkelblonden Haare trägt er militärisch kurz. Seine kleinen Augen stehen eng zusammen, und Aliza meint, den Hauch eines Silberblicks erkennen zu können. Er legt offensichtlich Wert auf seine Kleidung, ohne diese Wertschätzung geschmackvoll ausdrücken zu können: die Jeans von Tommy Hilfiger, darüber ein weißes T-Shirt und eine hellblaue Sweatjacke von Camp David, auf der groß »Crew Blue« und »Sail The Ocean« steht.
Zöllner hat die Arme verschränkt und lehnt so schief im Türrahmen, dass er umzufallen droht. »Schon eingelebt?«
»Ja, danke, gefällt mir gut. Freue mich echt, hier zu sein.«
»Sind Sie weitergekommen mit den Daten?« Er schwingt sich in die Vertikale, tritt an ihren Schreibtisch, setzt sich halb auf die Kante des Tisches und beugt sich verschwörerisch zu ihr herunter. Er hat mittags Döner gegessen.
»Na ja«, sagt Aliza. »Das meiste ist belangloses Zeug. Religiöse Debatten, Predigten und so weiter. Ich glaube nicht, dass die Anschläge planen.«
»Die Aufnahmen wurden auch schon mal analysiert, wenn ich mich recht erinnere. Das macht VK mit jedem am Anfang.«
»Wer?«
»VK. Steht für ›von Koblitz‹, ist aber einfacher auszusprechen. Aber lassen Sie sie das nicht hören, steht sie nicht so drauf.« Zöllner grinst und präsentiert den Rest eines Salatblatts auf einem Schneidezahn. »Na ja, das haben wir jedenfalls alle zu spüren
bekommen hier. Erst mal ’ne blöde Aufgabe zum Flügel stutzen. Ist nicht persönlich.«
Aliza probiert ein Lächeln. »Ach, das ist kein Problem. Irgendwer muss das ja machen, und so kann ich mich erst einmal mit der allgemeinen Lage vertraut machen.«
»Gute Einstellung«, sagt Zöllner, wobei er das »gute« theatralisch in die Länge zieht. »Aber Sie müssen echt nicht so tun, als würde Ihnen das Spaß machen.« Er grinst wieder und streckt die Brust raus.
»Nein, ist schon okay.«
»Aber klar.« Er schweigt und schaut sie herausfordernd an. »Was meinen Sie, haben Sie später Lust auf ein Feierabendbier mit Ihrem neuen Lieblingskollegen?«
Sie versucht, bedauernd zu schauen. »Sorry, ich trinke kein Bier.«
»Ah klar, keinen Alkohol, ja?« Er nickt wissend. Gibt den Kosmopoliten. »Dann eben auf einen Tee oder ein Mineralwasser?«
»Danke, das ist nett, aber ich habe heute Abend leider schon etwas vor«, sagt Aliza und schaut ihn mit großen Augen an.
Wie bestellt, klingelt in diesem Moment Alizas Smartmind. Sie schaut auf das Display und denkt: Dich schickt der Himmel! »Das ist meine Mutter, sicher wegen heute Abend. Sorry, heute geht wirklich nicht«, sagt sie und schenkt ihm ein strahlendes Lächeln, garniert mit einem koketten Augenaufschlag.
»Alles gut, dann ein andermal, ne?«, presst Zöllner hervor und richtet sich von Alizas Schreibtisch auf. »Die Pflicht ruft ja auch, ich bin dann mal weg. Wenn was ist, einfach bei mir melden, ja?«
»Ja, danke, bis später«, antwortet Aliza und drückt auf das Smartmind, um den Anruf ihrer Mutter entgegenzunehmen. Sie schaut noch kurz Zöllner nach, verdreht die Augen und nimmt das Smartmind zum Ohr: »Hallo, Mama!«