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Bundeskanzler Johann Friedrich Wischnewski steht am Fenster seines Büros im Kanzleramt, rührt seinen Pfefferminztee um und schaut auf die dramatisch beleuchtete Kuppel des Reichstags. Er denkt über Krisen nach. Krisen sind fantastisch. Man kann sagen, dass Krisen für ihn das A und O gewesen sind, um zum ersten PAD-Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt zu werden.
Wann genau hat es angefangen? Vielleicht mit der Finanzkrise 2008. Die Finanzkrise, die Millionen Menschen, einfache Leute, ihre Ersparnisse kostete. Die dazu führte, dass die EU Milliarden in marode Banken und Mitgliedsländer steckte, damit sie nicht komplett zerbrach. Das machte den kleinen Mann damals wütend: Erst verzockten die Banken seine Ersparnisse, und dann wurden die Steuergelder, die er seit Jahren gezahlt hatte, dafür verwendet, ebendiese Banken zu retten. Die nur wenige Jahre danach wieder satte Gewinne einfuhren. Deren junge Angestellte am Wochenende mit dicken Autos aufs Land fuhren und den einfachen Mann auslachten, der in seinem verschuldeten Vorgarten saß. Damals gründete sich Wischnewskis Partei, die Patriotische Alternative Deutschlands, die PAD, als Anti-Euro-Partei, und nährte sich seitdem immer an den Sorgen des kleinen Mannes.
Ein großes Glück war dann die Flüchtlingskrise Mitte der Zehnerjahre, die dem kleinen Mann nach seinem Geld auch noch die Sicherheit nahm, sich im eigenen Land auszukennen. Auf einmal rannten hier eine Million Schwarzköpfe rum, in den Zentren deutscher Kleinstädte mit Fachwerkhäusern, die nach Mittelalter aussahen und die zuletzt einen Muslim gesehen hatten, als die Tataren eingefallen waren. Die dunklen Männer waren zwar meist harmlos, aber laut, wirkten fremd mit ihren Bärten, die genauso aussahen wie die der Terroristen in den RTL2-Dokus über Osama bin Laden. Der etablierten Politik, der Linken und der breiten Masse des liberalen Bürgertums in den Städten fiel nichts anderes ein, als »Refugees Welcome« zu lallen. »Wir schaffen das.« Na klar schafften sie das, mit monatlich siebentausend netto auf dem Konto und eins Komma zwei verwöhnten Kindern auf den Rücksitzen ihrer SUVs.
Das politische Engagement der Liberalen hatte sich lange darauf beschränkt, den kleinen Mann für seine Rechtschreibfehler in den sozialen Netzwerken zu veralbern. Ihn als dummen Nazi zu diffamieren, anstatt ihn als das zu sehen, was er war: ein Mensch voller Angst. Dessen Meinung zwar keinen interessierte, dessen Kaufkraft ein Witz war, aber dessen Wählerstimme in der Demokratie genauso viel zählte wie die aller anderen. Und der eines ganz sicher hatte: Zeit. Zeit, jede Woche auf die Straße zu gehen. Zeit, die Botschaften der PAD, der FB und aller anderen rechten Gruppen in den sozialen Netzwerken zu teilen. Die bürgerliche, liberale Mitte hatte keine Zeit. Sie war zu beschäftigt, an ihren Karrieren zu feilen, ihre Blagen zur musikalischen Früherziehung zu fahren, bio-vegan-low-carb zu kochen oder ihr Geld am Wochenende in Latte macchiato und Shopping-Trips nach London zu investieren.
Wischnewski lächelt. Wie dumm das Bildungsbürgertum, die Liberalen, die Mitte gewesen war. Die PAD und die anderen Akteure der neuen Rechten hatten einfach nur die Wut des kleinen Mannes, der Alten, der einfach gebildeten, einsamen Menschen aufgreifen und verstärken müssen: gegen den Euro, gegen Flüchtlinge, gegen Schwule, Feministinnen und alle anderen, die nicht so waren wie sie. Der Mensch brauchte einfache Antworten. Die PAD hatte sie ihnen gegeben. Als die liberalen Schwächlinge merkten, was passierte, war die Bewegung schon zu groß.
Klar, mit ein paar frustrierten Alten im entvölkerten Osten hätte die PAD keinen Blumentopf gewonnen. Aber in den Zwanzigerjahren hatten sie es geschafft, an gebildete, smarte junge Menschen heranzukommen. Die Gesinnungsmafia fraß ihre Kinder. Die Angst, ja keine Randgruppe zu diskriminieren, und der daraus resultierende politisch korrekte Eiertanz griffen derart um sich, dass irgendwie jeder am Ende das Gefühl hatte, auf Kosten anderer seine Privilegien auszunutzen. Und genau das war der Schlüssel gewesen: Junge Leute, die das Gefühl hatten, dass sie an allem schuld waren. Am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust, weil sie deutsch waren. Am Terrorismus, weil sie Teil der westlichen Welt waren, die die armen Länder ausgebeutet hatte. Am Klimawandel, weil sie übermäßig konsumierten. Am Tod ihrer Großeltern, weil sie auf ihre Partys nicht verzichten wollten und damit das Virus weitergetragen hatten. Am Leid der Tiere, weil sie Fleisch aßen. An der Vernichtung des Regenwalds, weil sie zu viel Tofu in sich hineinstopften. Am Leid der Frauen, weil sie Männer waren. Am Leid der Schwulen, weil sie hetero waren. Welcher Zwanzigjährige hörte sich das gerne an? Welcher Zwanzigjährige hatte schon den Weitblick, sich nicht einer Bewegung anzuschließen, die ihm versicherte, dass er doch jemand war? Nämlich ein stolzer, guter Deutscher, der nichts gegen Ausländer hatte, aber bitte nicht im eigenen Land? Es war lächerlich einfach gewesen, eine neue, rechte Jugendbewegung zu gründen. Es hatte gereicht, der ganzen Sache einen schicken Anstrich zu geben, einen unverdächtigen Namen, ein cooles Logo, um diese jungen Leute hinter der rechten Sache zu vereinen. Und Action brauchte es. Also hatte die neue »Freiheitliche Bewegung« Aktionen gestartet. Greenpeace für Rechte. Auch Wischnewski hatte das damals begeistert. Er war 2016 aufs Brandenburger Tor geklettert, hatte Flüchtlingsschiffe blockiert, Vorlesungen gestört, Memes gebastelt, YouTube-Videos geschnitten.
Der nächste Schritt war dann gewesen, in die Partei einzutreten. Das hatte auch geheißen, seine Kameraden bei der FB zu verlassen. Die PAD und die FB waren offiziell nicht miteinander vereinbar, das wollte die PAD so, um wenigstens den Schein zu wahren, nicht zu weit am rechten Rand zu fischen. Wischnewski war das recht, seine wilden Jahre waren eh vorbei. Die Netzwerke existierten ja weiterhin, nur dass für ihn die Action seitdem in Ausschüssen und Gremien weiterging und nicht bei den Aktionen der FB.
Die Partei hat jedenfalls vieles richtig gemacht in den letzten Jahren. Nach dem Blitzstart Ende der Zehnerjahre hat es einen kleinen Einbruch gegeben, die liberalen Gutmenschen haben sich noch einmal durchgesetzt und in verschiedenen bunten Koalitionen versucht, ihre Besitzstände zu wahren. Natürlich haben sie weiterhin die Sorgen der einfachen Leute ignoriert. Geholfen hat ihnen damals, dass die PAD in ersten Landesregierungen saß und sich zeigte, dass Opposition einfacher war, als selbst zu regieren. Doch die PAD war in der politischen Landschaft angekommen, war normal geworden, und in den frühen Dreißigern war es wieder aufwärtsgegangen. Weil es die Liberalen eben doch nicht kapiert hatten. Die etablierten Parteien bekamen nun endgültig Panik, dass der Zug abgefahren war. Nach und nach waren die Tabus gefallen: Da wurde erst in einem Kaff ein PAD-Bürgermeister toleriert, dann ließ man sich in einem Landtag von der PAD unterstützen, und irgendwann hatte die Macht so süß gelockt, dass eine erste echte Koalition mit der PAD zustande gekommen war.
Brillant war dann der Schachzug der PAD gewesen, den Kampf gegen den Klimawandel für sich zu reklamieren, als Kampf für die Zukunft des deutschen Volkes und seines Lebensraums. Nachdem sich gezeigt hatte, dass der Klimawandel nicht mehr zu leugnen war und die etablierten Parteien es nicht geschafft hatten, die Klimaziele zu erreichen. Vergessen war es, dass die PAD in den ersten Jahren zu den größten Leugnern der Klimakrise gezählt hatte. Jetzt präsentierten sie sich so, als hätten sie es schon immer anders gemeint, als hätten die etablierten Parteien, die Grünen voran, immer nur von der Umwelt geschwafelt, während sie gleichzeitig mit ihren vielen Flügen die Verursacher von mehr CO2 waren als der kleine Bauer in Brandenburg, dem sein Kohl vertrocknete. Die PAD war scheinbar weiter in die Mitte gerückt, sodass auch alternde Grünen-Wähler, denen die Umwelt am Herzen lag, die aber mit dem Gutmenschentum der Grünen nicht klarkamen, die PAD als Option sahen. Mit der Parole »Sozial. Ökologisch. Deutsch.« hatte die PAD dann 2037 die Wahlen gewonnen, siebenunddreißig Prozent. Und so wurde Johann Friedrich Wischnewski vor drei Jahren mit der CDU als Steigbügelhalter zum Kanzler gewählt.
Es klopft, und bevor Wischnewski »Herein« sagen kann, öffnet sich die Tür, und sein persönlicher Referent David Baader betritt das Büro.
»Wie lange willst du noch Kanzler sein?«, fragt er, durchschreitet eilig den Raum und lässt sich auf den lederbezogenen Besucherstuhl vor Wischnewskis Schreibtisch fallen.
»Wenn die Volksabstimmung nicht durchgeht, und es sieht nicht danach aus …«, er macht eine gewichtige Pause und wischt sich die dunkelblonde Haartolle, die ihm immer wieder ins Gesicht hängt, nach hinten, »dann kannst du die Wiederwahl nächstes Jahr auch abhaken, das sage ich dir. Beziehungsweise deine Parteifreunde …«, bei diesem Wort macht er mit den Fingern unsichtbare Anführungszeichen in der Luft, »… werden dafür sorgen, dass du die Wahl nicht verlieren kannst. Weil sie dann nämlich jemand anderen aufstellen. Engelbrinck wahrscheinlich. Oder sogar Matuschek.«
Wischnewski verzieht das Gesicht, als hätte ihm sein Referent in den Tee gespuckt. Er dreht sich zu Baader um. »Bist du nur gekommen, um mir die Stimmung zu versauen, oder hast du auch etwas Wichtiges zu sagen?« Er geht zu der Sitzecke, in der er vor zwei Monaten noch mit der US-Präsidentin gesessen hat, und schmiegt sich in das weiche Rindsleder-Polster des schwarzen Sofas. »Matuschek will niemals Kanzler werden. Das weiß ich.«
»Ach ja? Wenn es um die Zukunft der Partei geht und um die Zukunft des Landes, wird er sich sicher erweichen lassen. Ganz selbstlos.« Baader öffnet die Mappe, in der er sein Tablet herumträgt, und startet es. »Jedenfalls sind die Umfragewerte noch einmal abgerutscht. Stand heute Mittag würden nur noch gut einundfünfzig Prozent der Wahlberechtigten dem Reformpaket zustimmen. Das sind drei Prozentpunkte weniger als letzte Woche. Wenn das so weitergeht, wird es ganz schön eng. Wie sollen wir diesen Trend stoppen?«
Wischnewski wirft die Arme in die Luft und platzt heraus: »Was weiß denn ich? War die Volksabstimmung etwa meine Idee? Jetzt hängt meine Karriere daran. Ich habe es gleich gesagt, dass die Abstimmung zu früh kommt, dass die Zeit noch nicht reif ist.«
»Das ist jetzt ein bisschen spät. Und eine richtige Wahl hattest du ja nicht.«
»Ja, das weiß ich. Und es hätte ja auch klappen können. Was wollen die Menschen denn? Sicherheit, haben sie doch alle gerufen! Wenn die Idioten es nicht kapieren, dass wir dazu schärfere Gesetze und mehr Befugnisse brauchen, dann haben sie es vielleicht nicht anders verdient. Statt sich über die Zukunft unseres Landes, unserer Nation Gedanken zu machen, beschäftigen sie sich lieber damit, woher vor zehn Jahren vielleicht mal ein paar Euro zu viel Wahlkampfspenden kamen?«
»Willkommen an der Macht, Herr Bundeskanzler. Außerdem waren es doch einige Euro zu viel.«
Wischnewski zeigt mit dem Zeigefinger auf Baader. »Werd nicht frech, mein Freund. Du bist hier schneller raus, als du ›politische Karriere‹ sagen kannst.«
»Aber Johann.« Baaders Stimme hat alle jugendliche Freundlichkeit verloren. »Du willst doch sicher nicht, dass die Öffentlichkeit von deinem … wie soll ich es nennen … kleinen Interessenskonflikt erfährt. Übrigens, der großzügige Spender würde gerne wissen, wie die Dinge stehen.«
»Bist du wahnsinnig? Sprich nie wieder hier davon, hast du gehört? Willst du mich auch noch erpressen?«
Baader breitet beschwichtigend die Hände aus. »Ganz ruhig. Ich bin doch auf deiner Seite. Ich schlage vor, dass du mit ihm sprichst. Weston hat Vorschläge, wie wir die Abstimmung in den Griff bekommen können. Du triffst ihn morgen Abend beim Event des Zukunft e. V. Bleib bis dahin einfach ruhig. Wir bekommen das schon hin.«
Wischnewski nickt und schaut wieder auf den Reichstag, der völlig unbeeindruckt vor sich hin strahlt. »In Ordnung«, sagt er und starrt weiter aus dem Fenster.
Baader klappt leise sein Tablet zu und steht auf. »Bis später«, sagt er und verlässt das Büro.
Auch wenn Wischnewski an Baaders Kompetenz keine Zweifel hat, kann er den Mann nicht leiden. Irgendetwas stimmt nicht. Seine eben noch gute Stimmung ist jedenfalls verflogen.
Draußen nimmt Baader sein Smartmind ans Ohr, hört kurz zu und sagt dann: »Ja, wie erwartet. Er ist bereit, morgen Abend mit dir zu sprechen.«
Kanter betrachtet die Nacktkatze mit einer Mischung aus Grusel und Faszination. Das Vieh ist hässlich. Die Katze hat keine Haare, die Haut liegt in Falten auf dem schmalen Körper und ihre rosa-gräuliche Farbe erinnert ihn an Leberwurst. Irgendjemand hat diese Katze so gezüchtet und gedacht, dass das eine gute Idee wäre. Menschen kommen wirklich auf die dümmsten Gedanken. Das einzig Schöne an der Katze sind ihre Augen, die in einem hellen Blau schimmern. Sie schaut Kanter durchdringend an, als könnte sie ihm direkt in die Seele schauen.
Kanter muss niesen, und ihm fällt noch etwas ein, das ihm an der Katze gefällt: Sie hat keine Katzenhaare, gegen die er offenbar allergisch ist, was er erst weiß, seit er in diesem Katzencafé in Kreuzberg sitzt und auf die Empfangsdame von FAKE Media wartet. Charlie. Sie hat ihm geschrieben, dass sie sich hier treffen sollen, nachdem er sie über ihre Nummer auf der Visitenkarte kontaktiert hat.
Ein neues Smartmind zu besorgen, war gar nicht so einfach. Zwar gibt es überall Automaten, an denen man sich ein günstiges Wegwerf-Smartmind ziehen kann. Aber Kanter hatte seins ja zerstört und dementsprechend kein Gerät mehr, mit dem er hätte bezahlen können. Schließlich konnte er am Hauptbahnhof einen Jugendlichen überreden, ihm am Automaten ein neues Smartmind samt SIM-Karte zu ziehen und sich den Kaufbetrag, nachdem Kanter es mit seinem Sunrise-Konto verknüpft hatte, samt einer Prämie von zwanzig Eurocredits zurückzahlen zu lassen. Danach hat Kanter sich ein zweites Smartmind besorgt, um sein verbleibendes Vermögen auf ein »sauberes« Gerät mit einem neuen Sunrise-Konto zu übertragen, bevor die Behörden bemerkten, dass es von seinem normalen Konto einen Bezahlvorgang am Hauptbahnhof gegeben hat.
Kanters Recherche, in welchem Krankenhaus Olivia liegt, hat sich noch schwieriger gestaltet. Niemand wollte ihm telefonisch Auskunft geben, wenn er sich nicht als Angehöriger identifizieren konnte. Die Krankenhäuser persönlich abzuklappern und irgendwie zu versuchen, sich einzuschleichen, würde Tage dauern. Und das Risiko, entdeckt und verhaftet zu werden, ist viel zu hoch, da Olivia sicher unter Polizeischutz steht. Vielleicht weiß die geheimnisvolle Charlie ja, wo Olivia liegt. Wo bleibt sie eigentlich?
Kanter unterdrückt ein weiteres Niesen und zuckt empfindlich zurück, als ein haariges Exemplar ihm um die Beine streift. Warum zur Hölle ein Katzencafé? Will die Frau ihn verarschen? Er schaut auf die Uhr: knapp eine halbe Stunde über der verabredeten Zeit. Kanter ist selbst ein paar Minuten zu spät gekommen, doch keine Spur von Charlie. Er gibt ihr gedanklich noch fünf Minuten und betrachtet wieder die Nacktkatze, die ihn noch immer mit ihren blauen Augen anstarrt.
Sieben Minuten später will er gerade aufstehen und verschwinden, als sich Charlie neben ihn auf das mit Katzenhaaren übersäte Sofa wirft.
»Hi Paul. Hast du gut hergefunden?«
»Hi.« Paul niest. »Was soll das hier? Ein Katzencafé?«
»Bist du allergisch? Sorry, das wusste ich nicht.«
»Ich auch nicht, bis vor zwanzig Minuten.«
»Dieses Katzencafé hat sämtliche technische Geräte verboten, deshalb musstest du auch am Eingang dein Smartmind abgeben. Stell dir vor, den ganzen Tag Zwölfjährige um dich herum, die Selfies mit dir machen. Das hat die Viecher total neurotisch gemacht, da haben sie alle Smartminds verboten.«
»Würde uns Menschen vielleicht auch guttun«, sagt Kanter.
»Der Zug ist schon lange abgefahren, mein Lieber. Der Vorteil von diesem Café ist, dass uns keiner so leicht mit seinem Smartmind abhören kann.«
»Abhören? Warum sollte das jemand tun?«
»Warum sollte jemand bei Olivia einbrechen und sie abstechen?«
Sie nimmt eine Katze auf ihren Schoß und beginnt sie zu kraulen. Kanter rückt ein Stück von ihr ab.
»Ich bin ja nur die Frau am Empfang und habe keine Ahnung, aber vielleicht ist Olivia auf etwas gestoßen, das mehr Bedeutung hat als eine Homestory über einen Start-up-Star.«
»Wen meinst du?«
»Ranjeed Weston, CEO von Sunrise Europe . Deutschlands gefragtester Junggeselle. Über den hat Olivia an einem Porträt gearbeitet. Jung, gutaussehend, reich, ledig. Perfekter Typ für die Leserinnen von FAKE.«
»Und warum sollte da mehr dran sein?« Kanter unterdrückt ein weiteres Niesen.
»Du weißt ja sicher, dass er nicht nur ein reicher Junggeselle ist, sondern derzeit auch einigermaßen unter Druck steht, weil Sunrise enorm von einem positiven Ausgang der Volksabstimmung im Oktober profitieren würde. Und seiner persönlichen Laufbahn würde es sicher auch nicht schaden. Der CEO von Sunrise Global tritt in ein, zwei Jahren ab. Weston hat gute Chance auf die Nachfolge, wenn die Volksabstimmung durchgeht und er dem Laden Milliardenprofite verschafft. Wenn sie durchgeht, was derzeit gar nicht so selbstverständlich ist.«
»Ja, sicher«, sagt Kanter. Er hat keinen blassen Schimmer, wovon Charlie redet.
»Vielleicht ist Olivia bei ihren Recherchen ja auf Dinge gestoßen, die brenzliger sind als eine Homestory. So wie ich Olivia kenne, kann sie der Versuchung nicht widerstehen, genau nachzusehen, wenn sie das Gefühl hat, da ist was im Busch.«
»Hmm«, brummt Kanter.
»Ich habe ja keine Ahnung …«
»Das wirkt auf mich aber anders.«
Charlie ignoriert seinen Einwurf. »… aber wenn du wirklich herausfinden willst, was da los ist, kann ich dich mit jemandem in Kontakt bringen, der vielleicht mehr weiß.«
»Ja klar will ich das. Mit wem?«
»Die Person wird anonym bleiben und über dein Smartmind mit dir Kontakt aufnehmen.«
»Wenn du von nichts eine Ahnung hast, woher weißt du dann von dieser Person?«
»Ich weiß es einfach.« Charlie steht auf. »Apropos Smartmind: Das Ding, das du dir am Automaten gezogen hast, solltest du nicht mehr benutzen. Das ist offen wie ein Scheunentor. Lass es einfach hier.« Sie reicht ihm ein Smartmind, das größer und klobiger wirkt als die Geräte, die er kennt. »Nimm das hier. Meine Nummer ist eingespeichert. Es ist mit einer neuen Smart-ID für dich versehen, und ein bisschen Taschengeld habe ich dir auch draufgeladen.«
Kanter nimmt das Smartmind, schaut es irritiert an und steckt es dann ein.
»Hast du einen Ort, wo du dich verstecken kannst?«
»Nicht mehr. Mein letztes Versteck ist aufgeflogen. Danach war ich bei den Pennern am alten Estrel.«
»Okay. Fahr da wieder hin. Ich schaue, was ich für dich tun kann. Bis dahin bleib beim Estrel. Und achte darauf, dass dein Smartmind an ist und Empfang hat. Man wird sich bei dir melden. Merk dir das Passwort ›Warp Speed‹.«
»Warp Speed? Was …?«
»Merk es dir einfach.« Sie zwinkert ihm zu. »Tschüss, Paul.« Sie lässt die Katze, die sie noch immer auf dem Arm hat, fallen und verlässt das Café.
Eines ist klar: Charlie ist alles andere als eine ahnungslose Empfangsdame. Doch bevor Kanter sich diesem Gedanken weiter widmen kann, wird er erneut von einem Niesanfall durchgeschüttelt. Als sich der Anfall gelegt hat, steht er auf und sieht zu, dass er viel Platz zwischen sich und diese haarigen Monster gewinnt .
Kanter wacht auf, weil sich sein Rücken anfühlt, als hätte er ein paar Tage auf der Streckbank verbracht. Sein Gesicht ist eiskalt. Er braucht einen Moment, um sich zu erinnern, wo er ist: auf den Stufen des Estrel-Hotels, in einem Polarschlafsack, umringt von bärtigen, stinkenden Gestalten, die alle noch den Rausch vom Vortag ausschlafen.
Kanter zieht das Smartmind aus der Tasche und checkt die Uhrzeit. Kurz nach sieben. Er niest. Noch immer leidet er unter den Nachwirkungen des Treffens mit Charlie im Katzencafé. Und was ist dabei herausgekommen? Charlie hat gesagt, er soll warten, bis man mit ihm Kontakt aufnimmt. Warten. Die halbe Nacht hat er sich unruhig hin- und hergeworfen und ständig auf sein Smartmind geschaut, ob er vielleicht den Anruf verpasst hat. Irgendwann ist er dann eingeschlafen, immer wieder unterbrochen vom Grölen einer seiner Nachbarn oder von der Sorge, von einer Ratte angeknabbert zu werden.
Zwei Stunden später kauert Kanter auf seinem zusammengerollten Schlafsack, trinkt Kaffee und isst ein trockenes Croissant vom Vortag, das er sich bei einem Backshop an der Ecke Sonnenallee besorgt hat. Sein Smartmind vibriert. Ein Videoanruf. »Jean-Luc Picard ruft an«, steht auf dem Display, dazu ein Profilbild von Patrick Stewart, der jahrelang den Kapitän der Enterprise in Serien und Filmen gespielt hat.
»Was zur Hölle …?«, murmelt Kanter.
In ihrer Jugend haben Kanter und sein Kumpel Stefan sich die komplette Serie und alle Filme reingezogen – genauso wie etliche dicke Tüten, die den Spaß nur noch vergrößert haben. Kanter nimmt den Anruf an. Auf dem Bildschirm erscheint tatsächlich das Gesicht Jean-Luc Picards, der anscheinend gerade auf dem Kommandodeck seines Raumschiffs sitzt.
»Hallo?«
»Hallo, Paul. Wie geht es Ihnen?« Picard schaut ihn freundlich an.
»Äh …«
»Sie wundern sich, warum ich Sie anrufe, richtig?«
»Wer sind Sie? Wie geht das?«
»Ich verstehe Ihre Verwirrung. Wie Sie sich denken können, bin ich nicht der echte Captain Picard. Das macht eine Software.«
Kanter ist sprachlos.
»Unsere gemeinsame Freundin Charlie hat mir erzählt, was Sie besprochen haben, und dass ich Sie kontaktieren soll. Ein bisschen Vorsicht muss sein. Und da dachte ich, über einen Anruf von Jean-Luc Picard würden Sie sich vielleicht freuen.«
»Woher weißt du … äh, wissen Sie …?«
»Dass Sie ein großer Fan von Picard … von mir sind? Sie haben in Ihrer Jugend kaum etwas anderes gemacht, als Star Trek zu gucken. Das Internet vergisst nicht, Paul.« Im Hintergrund sieht Kanter, wie der blasse Androide namens Data auf einer Konsole herumtippt. »Aber genug geplaudert. Sie wollen wissen, worüber Olivia recherchiert hat.«
»Ja.«
»Gut. Doch bevor wir anfangen, erzählen Sie mir, wie Sie in die Sache hineingeraten sind. Wer sind Sie, was haben Sie mit Olivia zu tun und was wissen Sie über den Angriff auf sie? Sie waren es nicht, oder?«
»Ich? Nein! Aber ich habe sie gefunden.«
»Erzählen Sie.«
»Warum sollte ich das tun? Ich kenne Sie ja überhaupt nicht. Sie können ja sonst wer sein.«
»Das ist richtig. Vielleicht beruhigt Sie das Wort ›Warp Speed‹? Charlie schickt mich. Und wenn die Ihnen was Böses wollte, wäre das schon längst passiert. Vertrauen Sie uns, Kanter. Wir sind die einzigen Freunde, die Sie derzeit haben. Vertrauen Sie auf den Helden Ihrer Jugend. Würde Picard Ihnen schaden wollen?«
»Nein … wahrscheinlich nicht.«
»Na also. Dann schießen Sie mal los.«
Noch immer etwas widerwillig, beginnt Kanter zu erzählen, was in den letzten Tagen geschehen ist. Wie er zum Großmarkt gefahren ist und auf dem Rückweg Olivias Anruf erhalten hat. Wie er sich geweigert hat, sie zurückzurufen. Wie er abends ein schlechtes Gewissen gehabt hat, zu ihr gelaufen ist und sie in ihrer Wohnung gefunden hat. Von ihren kryptischen Worten, bevor sie das Bewusstsein verloren hat. Er erzählt, wie er sich nach dem Eintreffen der Sanitäter aus dem Staub gemacht hat, von dem Verhör durch die junge SNS-Agentin am nächsten Morgen und dem Besuch bei FAKE Media.
»Ich hatte die Hoffnung, dass Sie, äh, Captain, vielleicht wissen, woran Olivia gearbeitet hat. Charlie machte Andeutungen, dass es vielleicht etwas mit Sunrise und der Volksabstimmung zu tun haben könnte.«
Captain Picard lehnt sich auf seinem Stuhl nach vorne. »Wo soll ich anfangen … Was wissen Sie über Sunrise?«
»Nicht viel«, antwortet Kanter. »Sie produzieren alles Mögliche, Smartminds, Tablets, die Suchmaschine natürlich, mein neues Autodrive-System …«
»Genau«, unterbricht ihn Picard. »Und Drohnen, Satelliten, Minikameras, RFID-Implantate, Kühlschränke, Herz-Lungen-Maschinen und so weiter.« Er lehnt sich wieder zurück. »Aber wissen Sie, was Sunrise eigentlich produziert?«
»Was denn?«
»Daten. Alle Geräte und Dienste, von denen wir eben gesprochen haben, sammeln Daten über ihre Nutzung und über ihre Nutzer – uns. Ihr Fernseher misst Ihre Augenbewegungen und erfährt, welche Sendungen Ihnen besonders gut gefallen.«
»Ich habe keinen Fernseher.«
»Wo schauen Sie Basketball?«
»Auf meinem Tablet.«
»Sehen Sie? Das trackt Sie genauso wie ein Fernseher. Jedenfalls weiß Sunrise alles über Sie. Wohin Sie fahren, welche Sendungen Ihnen gefallen, wo und was Sie einkaufen, und, wenn Sie einen Carechip Ihrer Krankenkasse in Ihrem Körper haben, sogar wie es Ihnen geht. Und jetzt kommen wir zur Volksabstimmung in vier Wochen. Was wissen Sie darüber?«
Kanter denkt nach. »Na ja, nicht viel. Ich weiß nur, dass es um die innere Sicherheit geht. Ich glaube, das neue Gesetz erlaubt der Regierung, auf Daten zuzugreifen. Aber nur indirekt. Die Daten sind weiterhin sicher, heißt es.«
Picard verzieht das Gesicht. »Wenn es nur so wäre. Sichere Daten in den Händen der Regierung sind leider keine Selbstverständlichkeit. Das ist nur, was sie uns weismachen wollen. Hören Sie zu …« Dann erzählt ihm Captain Picard, der Held seiner Jugend, was seiner Meinung nach wirklich hinter der Volksabstimmung steckt. Das neue Gesetz, über das abgestimmt wird, ermächtigt die Bundesregierung, die Inhaber von Daten, also Anbieter wie Sunrise, dazu zu zwingen, diese im großen Stil herauszugeben. Und zwar nicht erst, wenn es um die Aufklärung von Straftaten geht, sondern schon um deren Vorbeugung. Dazu braucht es Algorithmen, die in der Lage sind, aus der unglaublichen Menge an Daten relevante Informationen zu generieren, die potenzielle Straftäter anhand von bestimmten Verhaltensmustern identifizieren.
»Natürlich soll es nicht darum gehen, Sie vom Falschparken oder Steuern hinterziehen abzuhalten. Die Regierung macht das natürlich nur im Namen des Kampfes gegen den Terror, ist ja klar.«
»Und was ist dann so falsch daran?«
»Denken Sie nach, Paul.« Picard schaut ihn entgeistert an. »Dieses Gesetz öffnet Tür und Tor für die totale Überwachung der Bevölkerung. Wer entscheidet, was eine Straftat ist? Klar, sie sagen, es ginge gegen den Terror, aber davon ist im Gesetz nicht die Rede. Was ist, wenn einer auf die Idee kommt, Menschen mit verdächtigen Verhaltensmustern schon aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie eine Straftat begangen haben? Wenn das Gesetz durchgeht, dann ist 1984 von George Orwell eine schöne Gutenachtgeschichte gegen das, was uns blüht.«
Er steht auf und tritt an die große Fensterfront, hinter der Kanter die unendlichen Weiten des Universums sehen kann.
»Und jetzt raten Sie mal, von welchem Unternehmen die Algorithmen entwickelt werden, mit denen die gesammelten Daten analysiert werden sollen.«
»Doch nicht Sunrise?«
»Doch, Sunrise. Das gleiche Unternehmen, das ›gezwungen‹ wird, unsere Daten herauszugeben, wird danach damit beauftragt, diese Daten auszuwerten und nach verdächtigen Mustern zu durchsuchen.«
»Ein Interessenkonflikt.«
»Genau. Und hier kommt Olivia ins Spiel. Sie war an der Story über Ranjeed Weston dran und ist darüber natürlich auch auf die Hintergründe der Volksabstimmung gestoßen. Ihr kam es komisch vor, dass die wichtige Aufgabe, die Algorithmen zu entwickeln, ausgerechnet an Sunrise vergeben wird. Sie hatte die Vermutung, dass es eine Verbindung zwischen Sunrise und der Regierung gibt, die über ein normales Public-Private-Partnership hinausgeht. Sie hat seit Monaten recherchiert, um alles über das neue Gesetz und die Abstimmung herauszufinden.«
»Und anscheinend ist sie dabei auf etwas gestoßen.« Kanter beugt sich nach vorn, legt seine Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und schaut zu Boden. »Ich dachte immer, Olivia würde nur über Sportler und Onlinestars berichten. Es hat mich immer gewundert, wie so eine kluge Frau sich mit solch einem Quatsch beschäftigen kann.« Er fährt sich durch die Haare. »Was ist FAKE Media wirklich? Das mit dem Klatschmagazin glaube ich nicht mehr.«
Picard schmunzelt. »Das müssen Sie nicht wissen. Sie haben recht, FAKE Media ist mehr als ein Klatschmagazin. Vielleicht werden Sie irgendwann mehr darüber erfahren.«
»Wissen Sie, wo Olivia liegt? Ich will sie sehen.«
»Ich weiß, wo sie liegt. Aber bevor ich Ihnen das sage, habe ich eine andere Aufgabe für Sie.« Plötzlich steht Picard nicht mehr auf dem Kommandodeck, sondern sitzt an der Bar der Enterprise, dem »Zehn vorne«, wie sich Kanter erinnert. Data serviert ihm gerade einen Drink.
»Haben Sie schon mal gekellnert?«, fragt Picard.
»Was?«
»Morgen Abend gibt es einen Empfang des Zukunft e. V. in der Berlin-Repräsentanz von Sunrise. Ranjeed Weston, der Europa-Chef von Sunrise, wird da sein, und auch Bundeskanzler Wischnewski. Es gibt ein feines Dinner und danach Gespräche im Hinterzimmer, bei denen es sicher interessant wäre zuzuhören. Und raten Sie mal, wer gerade einen Job bei der beauftragten Catering-Firma ergattert hat.«
Kanter starrt ihn entgeistert an.
»Genau, Sie«, sagt Picard. »Olivia hat nicht viel durchblicken lassen, aber wenn ich sie richtig einschätze, hält sie viel von Ihnen. Ich bin da skeptischer, aber wir haben nicht gerade viel Auswahl. Hängen Sie sich rein und finden Sie die Leute, die das gemacht haben.«
»Ich kann gar nicht kellnern …«
»Wo kommen Sie jetzt unter? Ich habe gehört, Ihr Hotel ist nicht die beste Adresse?«
»Im … im Estrel. Also, ich habe davor geschlafen, bei den Obdachlosen. Musste aus meiner Wohnung abhauen.«
»Ich habe eine Wohnung für Sie. Dort finden Sie auch angemessene Kleidung für Ihren Einsatz beim Empfang. Die Adresse und den Zugangscode schicke ich Ihnen auf Ihr Smartmind.«
Mit diesen Worten tippt Picard auf den Communicator auf seiner Uniform. Kanter kann nicht mehr fragen, wie er ihn erreichen kann. Die Verbindung ist unterbrochen.
Charlie sitzt noch eine ganze Weile in ihrem schweren Bürosessel. Sie muss über sich selbst lachen. Jean-Luc Picard. Was für eine bekloppte Idee. Aber bevor sie nicht weiß, wie sehr sie Kanter trauen kann, muss sie den Schein wahren, dass sie nur die Empfangstusse bei FAKE Media ist.
Um sie herum stehen ein halbes Dutzend Bildschirme. Auf dem Schreibtisch liegen Smartminds, Chipkarten, Kabel und alle möglichen anderen Gerätschaften, als hätte sie sich besondere Mühe gegeben, die übliche Hacker-Szenerie aus mittelmäßigen Netflix-Serien nachzuempfinden. Fehlt nur noch, dass Codezeilen in grüner Schrift über ihre schwarzen Bildschirme rauschen. Sie schaltet das Mikrofon und die Kameras ab, die ihre Stimme und Mimik in die des glatzköpfigen Kapitäns der Enterprise übertragen haben, steht auf und wirft sich auf ein abgewetztes Ledersofa, das an der gegenüberliegenden Wand des halbdunklen Kellerraums steht.