13
Der Polizist vor Olivias Zimmer auf der Intensivstation der Charité mustert Kanter misstrauisch und prüft auf seinem Diensttablet mehrmals dessen falschen Namen, seinen Irisscan und seine Smart-ID. Doch Picard hat ganze Arbeit geleistet. Kanter heißt jetzt Pascal Kuszlow, hat einen täglich dichter werdenden Bart und einen glatt rasierten Schädel. Mehrere kleine Schnitte, die er sich beim Rasieren seines Kopfes zugezogen hat, hat er mit einer schlichten, schwarzen Wollmütze verborgen. Ihm schlägt das Herz bis zum Hals. Der Blumenstrauß in seiner Hand zittert.
Doch der Polizist bemerkt nichts und lässt Olivias »Cousin« schließlich passieren. »Dauert ja ganz schön lange, bis sich hier mal die Familie der armen Frau blicken lässt«, sagt er noch.
»War auf Geschäftsreise«, murmelt Kanter und betritt den Raum.
Als er an Olivias Bett tritt, kann er nicht glauben, was er sieht. Sie ist in ein künstliches Koma versetzt worden und liegt unbewegt da. Um ihre Stirn ist ein dicker weißer Verband gewickelt worden, aus dem ihre dunklen Haare oben herausquellen, als wäre ihr Friseur besoffen gewesen. Oder sehr teuer. Offenbar hat sie auch einen Schlag auf den Kopf bekommen. Das war ihm am Abend des Angriffs nicht aufgefallen. Sie ist noch blasser als sonst. Normalerweise verleiht ihr ihre Blässe etwas Edles, Vornehmes. Jetzt sieht sie einfach nur schwach und verletzlich aus. In ihrem rechten Arm steckt eine Nadel. Aus einem Tropf läuft eine klare Flüssigkeit langsam in ihren Körper. Er legt seine Hand auf ihre. Was ist passiert?, denkt Kanter. Wem oder was bist du auf die Schliche gekommen? Was ist anders, als es scheint? Olivia hört ihn nicht. Sie gibt keine Antwort. Mehrere Minuten sitzt er da, streicht ihr über die Hand, richtet die Bettdecke.
Die Tür des Zimmers öffnet sich. Kanter sitzt mit dem Rücken zur Tür und dreht den Kopf, doch bevor er sehen kann, wer es ist, hat sich die Tür bereits wieder geschlossen. Er meint, aus dem Augenwinkel einen weißen Kittel erkannt zu haben. Wahrscheinlich ein Arzt auf Visite, der den Besuch nicht stören will. Es ist Zeit, dass er verschwindet, bevor man ihm komische Fragen stellt.
Kanter öffnet die Tür und stolpert fast über einen Körper. Der Polizist, der eben noch auf dem Stuhl neben der Tür gesessen hat, liegt bewusstlos und gefesselt auf dem Gang. Sein Brustkorb bewegt sich, er lebt also. Ihm zu helfen wäre keine gute Idee, mit falscher Identität und von der Polizei gesucht. Kanter steigt über den Mann, geht eilig den Flur herunter und betritt das Treppenhaus. Den Fahrstuhl zu nehmen, wäre zu riskant. Wer weiß, wer unten am Fahrstuhl steht.
Was ist hier los? Hat das mit der Person im weißen Kittel zu tun, die er aus dem Augenwinkel gesehen hat – ein Arzt? Oder war das der Mann, der den Polizisten ausgeschaltet hat, als Arzt verkleidet? Egal. Wenn es irgendwo Kameras in diesem Krankenhaus gibt, wird Kanter darauf zu sehen sein. Zwar verkleidet, aber er ist der Hauptverdächtige im Fall Olivia, und da wird man genauer hinsehen. Sein Besuch bei ihr wird als ein zweiter Versuch interpretiert werden, ihr etwas anzutun. Dabei war er vermutlich schon zum zweiten Mal glücklicherweise genau im richtigen Moment bei ihr, um genau das zu verhindern.
Unten im Erdgeschoss angekommen, lugt er vorsichtig durch die kleine Scheibe in der Tür zum Treppenhaus ins Foyer. Außer einem dicken, rotgesichtigen Pfleger am Empfang und einem in einer Sitzecke vor sich hin dösenden Patienten im braunen Bademantel ist es leer. Er öffnet ruhig die Tür und geht rasch, aber nicht hektisch Richtung Ausgang. Ganz ruhig.
»He, Sie!«
Kanter zuckt zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Er bleibt stehen und dreht sich um. Hinter dem Empfangstresen steht der Pfleger, der jetzt auf Kanters Schuhe deutet.
»Ihr Schnürsenkel ist offen. Nicht, dass Sie hinfallen.«
Kanter ist immer noch wie erstarrt. Erst nach ein paar Sekunden wird ihm klar, was der Mann sagt. »Oh, danke.« Er bückt sich und bindet sich den Schuh neu, bemüht, dabei entspannt auszusehen und das Zittern seiner Finger zu verbergen. Er richtet sich auf. »Danke noch mal.«
»Keine Ursache. Wir wollen Sie ja nicht gleich hierbehalten müssen.« Der Pfleger lacht.
Kanter zwingt sich ebenfalls zu einem Lachen und macht dann, dass er wegkommt. Vor der Tür des Krankenhauses bleibt er stehen und denkt nach.
Nichts ist, wie es scheint.
Das waren Olivias letzte Worte, bevor sie das Bewusstsein verlor. Olivia war genauso unaufrichtig über ihr Leben wie Kanter. Er versucht, sich zu erinnern, ob er früher darauf hätte kommen können, dass hinter ihrer Klatsch-Journalisten-Fassade mehr steckt. Ruft sich ihre Wohnung ins Gedächtnis. Fotos an der Wand: Olivia auf Social-Media-Galas, Video-Awards, eSports-Weltmeisterschaften. Warum hätte er glauben sollen, dass das alles nur Fassade war? Die Leute haben nun mal Jobs, auch wenn diese auf den ersten Blick vielleicht nicht zu ihnen passen. Das trifft ja auch auf Kanter zu. Und dann ist da noch die Frage, was der oder die Einbrecher bei Olivia gesucht haben. Sind sie gekommen, um Olivia aus dem Weg zu räumen, oder haben sie nach etwas in der Wohnung gesucht? Kanter erinnert sich an das Chaos im Wohnzimmer. Er hat es auf den Kampf zwischen Olivia und ihren Angreifern zurückgeführt. Aber was, wenn die Einbrecher etwas gesucht haben? Hinweise auf Olivias Recherchen zum Beispiel? Kanter muss noch einmal in die Wohnung, um sich umzusehen. Das ist vielleicht seine einzige Chance herauszufinden, was hinter dem Angriff auf Olivia steckt.
Hundert Meter weiter sieht er eines der blauen Bocars stehen. Er läuft zu dem Wagen und setzt sich auf den Rücksitz. »Fuldastraße 47, Neukölln.«
»Fuldastraße 47 in 12045 Berlin. Die Fahrt beginnt«, sagt das Auto.
Zöllner eilt durch den hell erleuchteten Gang der Intensivstation. Verdammt! Schon wieder kommt ihm jemand in die Quere, bevor er sich um die Journalistin kümmern kann. Dieses Mal war es wirklich knapp.
Zwanzig Minuten zuvor ist Oskar Zöllner in der Charité angekommen und hat sich aus einem leeren Schwesternzimmer einen weißen Arztkittel besorgt, an dem sogar ein Namensschild hängt. Dr. Alexandra Berg hieß er jetzt. Er konnte nur hoffen, dass niemand genauer hinsah. Aber wer achtete schon darauf, was auf Namensschildern stand. Hauptsache, man trug eins.
Zuerst lief alles glatt. Vor dem Zimmer saß ein Streifenpolizist, der jedoch erst vor ihm, dem Halbgott in Weiß, in Ehrfurcht erstarrte und dann langsam in sich zusammensank, als Zöllner ihm mit einem Würgegriff die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrach. Mit Kabelbindern fesselte er dem Beamten Arme und Beine. Sicher ist sicher. Er wollte ungern dabei überrascht werden, wie er Olivia Kusmin mit einem Kissen erstickte. Mord nach Hausfrauenart. Doch als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, saß jemand an ihrem Bett. Zum Glück mit dem Rücken zu ihm, sodass Zöllner die Tür schnell wieder schließen konnte. Darauf warten, dass der Mann das Zimmer verließ, konnte er nicht, da dieser natürlich sofort den bewusstlosen Polizisten entdeckt und Alarm geschlagen hätte.
Also hat er gesehen, dass er wegkam. Im Treppenhaus zieht er den Kittel aus, verlässt das Gebäude durch einen Versorgungseingang und feuert das weiße Ding auf dem Hof des Krankenhauses in einen Müllcontainer. Verdammte Scheiße noch mal. Nicht nur, dass es jetzt richtig Ärger mit VK geben wird, es steigt auch die Gefahr, dass es Zöllner richtig an den Kragen geht. Noch halten sie die Schlampe im künstlichen Koma, aber das kann jederzeit zu Ende sein und die Frau erinnert sich, wer sie in ihrer Wohnung überfallen hat.
Zöllner will den Hof des Krankenhauses gerade Richtung Straße verlassen, als ein Mann an ihm vorbeieilt. Groß, schlank, dunkle Kleidung, Wollmütze. War das nicht Kanter? Der Mann, den er auf den Fahndungsfotos gesehen hat? Der nach dem Angriff auf Kusmin an ihm vorbeigelaufen ist? Na klar, der hat die Alte besucht. Sich in die Höhle des Löwen begeben, um noch einmal seine Herzensdame zu sehen, die als Gemüse in der Intensivstation vor sich hin gammelt. Das ist die Chance! Wenn er Kanter schnappt, ist er aus dem Schneider. Zöllner eilt vom Hof auf die Straße, nur um Kanter in eines dieser neuen selbstfahrenden Taxis steigen zu sehen. Er rennt zu seinem Wagen, springt hinein und folgt dem blauen Bocar.
Aliza geht den Flur entlang zu VKs Büro. Sie ist angespannt. Seit der Pleite beim Empfang, als ihr Paul Kanter entwischt ist, hat sie wieder nichts anderes gemacht, als in ihrem grauen Büro zu sitzen und die Audiofiles aus der Moschee abzuhören. Jetzt ist sie endlich fertig. Viel hat sie nicht, wenn man mal von den Äußerungen eines »Hassans« absieht, der den Ungläubigen zeigen will, wo Allahs Hammer hängt. Einen schönen Bericht hat sie dennoch geschrieben. »Ohne Bericht keine Arbeit«, hat ihr Ausbilder im ersten Jahr immer gesagt. Immer schön ausführlich schreiben und in herrlichstem Beamtendeutsch. »Das beeindruckt die Vorgesetzten, Ehlers.« Wenigstens kann sie VK zeigen, dass sie fleißig ist, dass sie sich reinhängt. Und wer weiß, wenn ihre Chefin gut drauf ist, ergibt sich vielleicht eine Gelegenheit, noch einmal auf den Fall Kusmin zu sprechen zu kommen. Auch wenn das karrieretechnisch vermutlich eher Selbstmord wäre.
Als Aliza bei VKs Vorzimmer ankommt, steht die Tür offen, doch das Zimmer ist leer. Keine Spur von VKs Assistentin Zabel. Die Zwischentür zum Büro von Alizas Chefin ist geschlossen. Doch sie ist da – durch die Tür hört Aliza die markante Stimme von Koblitz’, die gerade jemanden zusammenstaucht.
Aliza zögert kurz. Sie würde natürlich nie auf die Idee kommen, ihre Vorgesetzte zu belauschen. Sie will ja nur ihren Bericht abgeben und VK darum bitten, ihr weitere Ermittlungen gegen Kanter zu erlauben. Andererseits … Andererseits wäre es doch nicht uninteressant zu wissen, warum VK so ausflippt.
Leise schließt Aliza die Tür des Vorzimmers, tritt an die Tür zu VKs Büro und legt ihr rechtes Ohr gegen das kühle, dunkle Nussholz.
VKs Stimme ist gedämpft, aber gut zu verstehen. »Sind Sie sicher, dass es der richtige Mann ist?« Eine kurze Pause. »Ja, Jerome Loheit. Ich buchstabiere: J-E-R-O-M-E … Nein, das ist der Vorname. Nachname L-O-H-E-I-T.« Jerome Loheit.
Aliza hat keine Ahnung, wer das ist, aber tippt den Namen trotzdem in ihr Smartmind. Sie kann hören, wie VK sich im Raum bewegt, da sich die Lautstärke ihrer Stimme immer wieder verändert.
Anscheinend bestätigt die Person am anderen Ende der Leitung, dass sie über denselben Mann reden, denn VK schreit erneut: »Verdammte Scheiße noch mal, wie konnte das passieren? Ich habe Sie persönlich für die Sicherheit des Häftlings verantwortlich gemacht. Sie … Sie sind erledigt!« Wieder eine Pause, dann fährt von Koblitz ruhig fort: »Okay, jetzt passen Sie mal gut auf. Wenn Sie noch irgendwie die kümmerlichen Reste Ihrer Karriere retten wollen, wenn Sie wenigstens noch die Jahre bis zur Rente im Archiv absitzen wollen, dann machen Sie genau, was ich sage. Niemand darf vom Ableben des Häftlings erfahren … Richtig … Dann halten Sie sie hin. Sagen Sie, der Häftling ist nicht vernehmungsfähig, krank, von Außerirdischen entführt, was auch immer, lassen Sie sich etwas einfallen. Niemand darf erfahren, dass Jerome Loheit nicht mehr lebt. Haben Sie mich verstanden? … Gut. Auf Wiederhören.«
Aliza hört, wie VK etwas durchs Büro wirft.
»Verdammt noch mal!«, schallt es durch die Tür. Dann wütende Schritte. Aliza tritt schnell von der Tür weg, hechtet zum Eingang des Vorzimmers und dreht sich so, als hätte sie es eben erst betreten. Gerade noch rechtzeitig, bevor VKs Tür auffliegt und die SNS-Leiterin aus ihrem Büro stürmt.
»Was machen Sie hier?«, blafft sie Aliza an.
»Ich … ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich die Berichte aus der Perleberger fertig habe.«
»Warum mir? Bin ich Ihr Kindermädchen? Gehen Sie zu Zöllner.«
Aliza atmet innerlich auf. VK hat nicht gemerkt, dass Aliza gelauscht hat. »Ich wollte noch etwas anderes mit Ihnen besprechen. Gestern, auf dem Empfang, der Mann, der gelauscht hat?«
»Und der Ihnen entwischt ist? Was ist mit ihm?«
»Ich habe ihn erkannt, glaube ich. Es war Paul Kanter, der Kioskbetreiber, der mutmaßlich mit Olivia Kusmin liiert war.«
»Der Journalistin?«
»Genau.«
»Sie ›glauben‹«, VK betont das Wort mit einem ironischen Singsang, »es war der Mann, der ›mutmaßlich‹ mit der Journalistin liiert war? Das klingt mir reichlich unsicher.« Sie schaut Aliza streng an. »Ich sage es Ihnen zum letzten Mal: Sie haben mit dem Fall nichts zu tun. Lassen Sie die Finger davon und machen Sie Ihre Arbeit. Ich habe keine Zeit, mich um die detektivischen Gefühlsregungen jedes Mitarbeiters zu kümmern. Langsam kann ich das nicht mehr nur als übersteigerten Ehrgeiz einer neuen Mitarbeiterin sehen. Ich verstehe ja, dass Sie mit Ihrem … Ihrem kulturellen Hintergrund besonders motiviert sind zu zeigen, dass Sie keine von denen sind. Ist klar. Aber wenn ich noch einmal davon höre, dass Sie in diesem Fall ermitteln, gibt es Konsequenzen, Ehlers. Haben Sie mich verstanden?«
Aliza verschluckt eine pampige Bemerkung und sagt stattdessen: »Ja, Frau von Koblitz. Tut mir leid.«
»Schon gut. Und jetzt raus hier, ich habe zu tun.«
Aliza nickt mit gesenktem Kopf, dreht sich dann um und verlässt das Vorzimmer.
Auf dem Weg zurück in ihr Büro fahren ihre Gedanken Karussell. Warum mauert VK so, wenn es um den Kusmin-Fall geht? Wer ist Jerome Loheit? Und warum regt sein Tod VK so auf?
Was ist hier los?
Das Tabbouleh schmeckt hervorragend, auch wenn Aliza nachher eine halbe Stunde vor dem Spiegel zubringen wird, um die Reste der Petersilie aus ihren Zahnzwischenräumen zu fummeln. Sie spült mit einem Schluck selbst gemachtem Ayran nach. Mindestens genauso köstlich. Kein Wunder, das Rezept ist von ihrer Mutter. Aliza sitzt in der Neuköllner Filiale der Falafel-Kette ihrer Eltern, direkt am Rathaus Neukölln.
Durch die Scheibe des Ladens sieht sie den täglichen Wahnsinn, der sich hier abspielt. Richtung Hermannplatz staut sich der Verkehr über die ganze Kreuzung, weil in zweiter Reihe ein aufgemotzter Audi A12 steht, dessen Halter sich durch die geöffnete Scheibe ganz in Ruhe Neuigkeiten mit einem Bekannten zuschreit, der auf der anderen Straßenseite vor den Arkaden steht. Dazu die Bürgersteige voll mit Menschen, die in oder aus dem U-Bahnhof strömen. Und zuletzt das Gesocks, das hier den ganzen Tag rumhängt, Drogen verkauft, mit den Kumpels dumme Sprüche reißt oder die Passanten um Eurocredits und Essensmarken anbettelt.
Die Recherche nach Jerome Loheit, dem mysteriösen Toten, über den VK sich so aufgeregt hat, war eine Sackgasse. Aliza ärgert sich, dass sie es dafür riskiert hat, Ärger zu bekommen. Vielleicht hat sie ja Glück, und keiner merkt es.
Jerome Loheit, zweiundzwanzig Jahre alt. Typische Verliererkarriere. Mutter deutsch, alleinerziehend in Köln, Vater unbekannt. Als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten, Marihuana, Diebstähle und Einbrüche, härtere Drogen, Schule geschmissen, obdachlos. Verschiedene Vorstrafen wegen Drogen oder damit verbundenen Straftaten. Beschaffungskriminalität, nichts Besonderes. Warum interessiert sich VK für so ein kleines Licht?
Vielleicht weil er wegen Totschlags im Knast gesessen hat? Eigentlich passt das nicht zu seiner Karriere, aber Aliza hat schon schlimmere Abstürze gesehen. Loheit hat einen seiner Meth-Kumpel im Park geschubst. Vielleicht ein Streit darum, wer als Erster an die Pfeife darf. Der Kumpel fällt unglücklich, bricht sich das Genick an einer Parkbank. Totschlag. So steht es jedenfalls im Bericht.
Aliza schiebt die letzten Reste ihres Salats auf die Gabel. Das Einzige, was sonst an Loheit auffällt, ist, dass seine Eltern sich in Syrien kennengelernt haben. Beim IS. Vater unbekannt und vermutlich in den letzten Kämpfen 2018 ums Leben gekommen. Die Mutter kam alleine mit dem Kleinkind zurück, Ende 2019. War danach auf einer Gefährder-Liste, wurde wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, ist danach nie wieder polizeilich aufgefallen. Vor drei Jahren gestorben, Schlaganfall. Ein IS-Kind also, für das sich VK interessiert. Aliza kann sich keine Verbindung zum Kusmin-Fall vorstellen, aber die Sache ist kurios genug, um sie sich zu merken.
Sie trinkt den Rest ihres Ayrans aus und steht auf, um zu bezahlen. Nabil, der junge Syrer an der Kasse, winkt nur ab und sagt: »Lass mal. Deine Mutter bringt mich um, wenn ich von dir Geld nehme.«
»Außer Trinkgeld vermutlich?«
»Trinkgeld ist okay.« Nabil grinst und hält ihr sein Smartmind entgegen.
Aliza öffnet eine App auf ihrem Smartmind, wählt einen Betrag und hält es gegen Nabils Smartmind. Es macht kurz »Ping«.
»Danke.«
»Danke dir, war hervorragend.«
Draußen bleibt sie kurz stehen. Es schüttet wie aus Kübeln. Sie klappt ihre Kapuze hoch und drängt sich eng an die Hauswand. Sie hat eine Idee, von der sie sofort weiß, dass sie ihr nicht folgen sollte …
Keine fünf Minuten zu Fuß von hier liegt die Wohnung von Olivia Kusmin. Was, wenn sie noch einmal nachschaut, ob sie bei der ersten Untersuchung etwas übersehen hat? Sie ist sich nach wie vor sicher, dass mehr hinter dem Angriff auf die Journalistin steckt, als jeder denkt. Oder sagt.
Scheiß drauf. VK wird nichts davon erfahren. Und wenn, dann gibt es eben »Konsequenzen«. Aliza dreht sich nach rechts und geht die Straße hinunter.
Es regnet in Strömen, als das Bocar vor Olivias Haus hält. Kanter bestätigt die Bezahlung per Smartmind und bleibt noch eine Minute sitzen, um das Haus und die Straße zu beobachten. Das Bocar wiederholt immer wieder den Satz: »Vielen Dank für Ihre Zahlung. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Bitte steigen Sie aus.« Kanter ignoriert das Geleier und beobachtet weiterhin die Straße.
Wegen des starken Regens ist keine Menschenseele unterwegs. Doch dann geht das Licht im Treppenhaus an. Wenig später öffnet sich die Haustür, und eine Frau hastet mit zwei in bunte Regenmäntel gekleideten Kindern aus dem Haus zu einem auf der anderen Straßenseite geparkten Wagen.
Kanter ergreift die Chance, steigt aus und rennt zur Eingangstür des Wohnhauses. Er erreicht die Tür, bevor sie ins Schloss fallen kann, und klemmt seinen Fuß dazwischen. Er schaut zurück; die Frau hat ihn nicht bemerkt. Er betritt das Treppenhaus und steigt die wenigen Stufen ins Halbparterre hoch, wo Olivias Wohnung liegt. Über dem Schloss ihrer Wohnungstür klebt ein Siegel der Polizei mit einem aufgedruckten Bundesadler und der Aufschrift »Polizeilich versiegelt. Kein Zutritt!«.
Der Türspion der gegenüberliegenden Wohnung scheint Kanter misstrauisch anzuschauen. Er kratzt das Siegel von Olivias Tür ab und betrachtet das Schloss. Zum Glück hat Olivia eine sparsame Hausverwaltung, die noch keine moderne Schließanlage eingebaut hat, für die man ein Informatikstudium braucht, um sie zu knacken. Wenn er jetzt sein altes Set dabei hätte … Moment. Hat er das nicht eingesteckt, als er aus seiner Wohnung abgehauen ist? Kanter greift in die Innentasche seiner Jacke. Mit einem Grinsen holt er die schwarze Mappe hervor und öffnete sie. Innen liegen verschiedene Haken und Spanner. Mal sehen, ob er noch weiß, wie es geht. Er wählt einen mittelgroßen Haken, nimmt den Spanner in die andere Hand und führt den Haken vorsichtig in das Schloss ein. Es ist mindestens zwanzig Jahre her, dass er das zuletzt gemacht hat, und so fühlt es sich auch an. Er bohrt und stochert in dem Schloss herum, doch ohne Erfolg. Er flucht.
Plötzlich hört er, wie sich in dem Schloss der gegenüberliegenden Wohnungstür der Schlüssel dreht. Er erstarrt. In einer Sekunde wird die Tür aufgehen, und er steht mit heruntergelassenen Hosen vor den Nachbarn. Die Tür öffnet sich einen Spalt, und er hört, wie eine weibliche, ältere Stimme sagt: »… machst du dir nachher warm, ja, Schatz?«
Eine weitere Stimme murmelt Unverständliches aus dem Hintergrund. Kanter ergreift die Chance, klaubt sein Werkzeug zusammen und hechtet, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe ins nächste Stockwerk hoch. Er hört die Tür aufgehen, gerade als er auf der halben Treppe um die Ecke biegt, vor Blicken verborgen.
»Hallo? Ist da jemand?«, ruft die Stimme der Nachbarin.
Kanter hält die Luft an und verharrt regungslos auf der Treppe. Hoffentlich kommt jetzt niemand von oben.
»Hallo?«, sagt die Frau erneut. Und einige Sekunden später, offenbar wieder an die Person in der Wohnung gewandt: »Nichts, Schatz, habe mich verhört. Bis nachher!« Die Wohnungstür fällt zu, und Kanter hört Schritte die Treppe zur Haustür hinuntersteigen. Er atmet auf, als er die Haustür sich öffnen und schließen hört, wartet kurz und geht dann wieder die Treppe hinunter.
»Wer sind Sie und was machen Sie hier?«
Kanter fährt zusammen. Olivias Nachbarin steht am Ende der Treppe vor der Haustür und schaut ihn angriffslustig an. Sie trägt einen altmodischen dunkelgrünen Hut mit einer Kunstblume an der Krempe und einen dunkelbraunen Mantel, unter dem sich die füllige Gestalt einer rüstigen, etwa siebzigjährigen Frau abzeichnet. In der Hand hält sie einen Regenschirm, nicht am Griff, sondern ein paar Zentimeter weiter oben, wie ein Skinhead, der bereit wäre, mit seinem Baseballschläger zuzuschlagen.
»Ich … äh …«, stottert Kanter. »Ich bin vom Kiosk an der Ecke. Onkel Toni’s. Ich wollte Frau Kusmin etwas vorbeibringen, das sie bei mir bestellt hat. Aber sie ist wohl nicht zu Hause?«
»Nein, sie ist nicht zu Hause. Die arme Frau liegt im Krankenhaus.«
»Warum das denn?« Kanter versucht, überrascht zu tun.
»Eine ganz schreckliche Sache.« Die Frau hat ihre erste Angriffslust überwunden und entdeckt ihre Freude am Tratsch. »Ein Überfall. Die Polizei war hier, und ein Krankenwagen. Jemand hat sie in ihrer Wohnung angegriffen. Sie war schwer verletzt, hat sich gar nicht geregt, das arme Püppchen, als sie sie aus der Wohnung getragen haben. Meine Güte …« Sie schaut besorgt und gleichzeitig fasziniert, dass so etwas in ihrer Nachbarschaft passiert ist. »Und Sie, was wollten Sie der Frau Kusmin denn bringen?«
»Ich fürchte, das ist privat, Frau …?«
»Kowalke. Ruth Kowalke.«
»Frau Kowalke, ja. Tut mir leid, aber ich bin mir sicher, Frau Kusmin würde es nicht wollen, dass ich Ihnen das verrate.« Um dem großen Geheimnis mehr Gewicht zu verschaffen, schüttelt er seinen Rucksack leicht. Es klimpert.
»Na ja. Auch gut.« Frau Kowalke ist sichtlich enttäuscht. »Dann müssen Sie wohl ein andermal wiederkommen, wenn Frau Kusmin wieder aus dem Krankenhaus zurück ist. Falls das jemals der Fall ist. Das arme Ding. Kommen Sie mit raus?« Die Frage duldet kein Nein, und Kanter fällt keine gute Begründung ein, warum er alleine noch im Haus bleiben sollte.
»Ja, sicher, danke trotzdem für Ihre Bemühungen.« Er geht rasch die Treppe hinunter, überholt die Dame und öffnet ihr die Tür. »Bitte sehr, gnädige Frau«, sagt er übertrieben unterwürfig und deutet einen Diener an.
Frau Kowalke kichert und tritt durch die Tür. »Danke, sehr freundlich.« Kanter folgt ihr. Hinter ihnen fällt die Tür mit einem hohlen Klacken zu.
»Haben Sie einen guten Tag«, sagt Kanter.
»Danke, Sie auch«, antwortet die Frau und geht nach rechts die Straße entlang.
Kanter geht in die andere Richtung, dreht sich nach ein paar Schritten um und sieht die Frau hinter der nächsten Ecke verschwinden. Er eilt zurück zu Olivias Haus und drückt gegen die Tür. Mit einem satten Schmatzen öffnet sie sich. Das Türschloss hat einen kleinen Schnapper, den er bei seiner galanten Geste der Dame gegenüber unbemerkt umgelegt hat. Er legt den Hebel wieder zurück und hastet die Stufen zu Olivias Wohnung hoch. Zweiter Versuch. Jetzt muss es klappen, und zwar schnell, bevor er einer weiteren tratschsüchtigen Nachbarin begegnet. Der ersten ist er mehr mit Glück als Verstand entgangen. Das will er kein zweites Mal riskieren.
Entspann dich, Paul, sagt er zu sich selbst und packt ein zweites Mal sein Dietrichset aus. Du hast das früher im Schlaf gemacht. Das verlernt man nicht.
Und er hat recht.
Nachdem er einmal richtig durchgeatmet hat und seine Hände sich beruhigt haben, ist alles wie früher. In weniger als einer halben Minute hat er das Schloss geknackt. Gut, damals wäre das schneller gegangen, aber was soll’s. Drin ist drin. Er betritt Olivias Wohnung. Er lässt die Lichter aus, um zu vermeiden, dass die Kowalke oder eine andere neugierige Nachbarin misstrauisch wird.
Wo soll er anfangen?
Und wonach sucht er eigentlich?
Kanter beginnt mit dem Offensichtlichen. Er geht von Raum zu Raum und durchsucht alle Schränke, Kommoden und Kisten, die er finden kann. Er schaut in den Kühlschrank, in die Küchenschränke, in den Backofen und in die Vorratskammer. Er durchwühlt Olivias Kleiderschränke, in denen ihr Duft hängt, als würde sie jeden Moment in der Tür stehen. Er durchsucht die Schubfächer des Aktenschranks, der neben dem großen Esstisch im Wohnbereich steht. Dieser dient ihr auch als Schreibtisch, doch auch darauf findet Kanter nichts, was ihn weiterbringt, nur ein paar Papiere von Versicherungen, Hausverwaltung, Kapitalanlagen. Die Dokumente, die an dem Abend auf dem Tisch gelegen haben, als Kanter Olivia gefunden hat, sind verschwunden. Auch ihr Smartmind und ihr Tablet sind nicht zu finden. Sicher von der Polizei beschlagnahmt. Vielleicht war das auch schon alles. Plötzlich kommt ihm sein Vorhaben dumm vor. Es gibt hier nichts zu finden. Wenn Olivia irgendwo noch Informationen verborgen hat, dann in irgendeinem Cloud-Speicher, verschlüsselt, versteckt und für einen digitalen Analphabeten wie Kanter nicht zu finden.
Er ruft sich noch einmal in Erinnerung, was Olivia gesagt hat, als sie blutend in seinen Armen lag. »Nichts ist, wie es scheint.« Damit hat sie ihn auf FAKE Media aufmerksam gemacht. Oder hat sie womöglich etwas ganz anderes gemeint? Sie hat einen »John« erwähnt. Damit hat er sich noch gar nicht beschäftigt. Wer ist John? Ein Komplize? Oder jemand, über den sie recherchiert hat, und vor dem Kanter auf der Hut sein soll? Er setzt sich auf das Sofa und schaut sich im Raum um. Da ist der große Bildschirm direkt ihm gegenüber, auf dem sie vor einigen Wochen Pulp Fiction geschaut haben, den Tarantino-Klassiker aus dem letzten Jahrtausend. Olivias Lieblingsfilm, was man auch an dem großen Poster erkennen kann, das neben dem Fernseher an der Wand hängt. Samuel L. Jacksons und John Travoltas beste Rollen.
John Travolta. John . »Nichts ist, wie es scheint.« Kanter springt von der Couch auf. Er tritt an das Poster und betrachtet es genauer. Es befindet sich in einem Bilderrahmen, der das Plakat edel wirken lässt. Das Poster ist groß, sicher einen Meter fünfzig mal einen Meter. Er wackelt am Rahmen, hebt das Bild an und schaut dahinter an die Wand. Nichts zu sehen. Er hebt das Bild von der Wand, lehnt es vorsichtig an und schaut auf die Stelle, wo es gehangen hat. Er holt tief Luft. Tatsächlich! In die Wand ist eine Klappe eingelassen, vielleicht so groß wie ein DIN-A4-Blatt, mit einem kleinen, schwarz schimmernden Touchpad in der Mitte. Über der Klappe klebt ein Klebeband mit dem Bundesadler. Amtliches Siegel. Gefunden hat die Polizei den Safe also. Fragt sich nur, ob die Bullen das Ding aufbekommen haben oder nicht.
Kanter tippt auf das Touchpad, und es erwacht zum Leben: »Bitte geben Sie Ihr Passwort ein«, steht in grüner Schrift auf dem schwarzen Display. Kanter überlegt kurz und tippt dann »john« in das entsprechende Feld. Die Schrift wackelt kurz, dann erscheint eine Meldung in roter Schrift: »Falsche Eingabe. Zwei Versuche verbleibend, danach Sperrung für vierundzwanzig Stunden.« Er denkt nach, zögert und tippt dann »pulpfiction« in das Feld. Wieder wackelt es. Scheiße. Nur noch ein Versuch. Kanter fängt an zu schwitzen. Er ist so nah, hat den Tresor gefunden und soll jetzt am Passwort scheitern? Denk nach, Mann. Konzentrier dich. Er erinnert sich an den Abend, als sie den Film zusammen geschaut haben. Sie haben gelacht, waren sich näher gekommen, haben etliche Teile verpasst, weil sie mit Besserem beschäftigt waren. In der Szene auf dem Poster hat Olivia am lautesten gelacht, konnte das Bibelzitat von Samuel L. Jackson aufs Wort genau mitsprechen, mit tief verstellter Stimme: »Der Pfad der Gerechten ist auf beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen …« Kanter ist sich sicher, dass das Passwort damit zu tun hat. Doch was? Er starrt weiter auf das Poster, geht den Film in Gedanken durch.
Dann schießt es ihm durch den Kopf.
Ja klar! Worüber haben sie am meisten gelacht, was haben sie noch Tage danach immer wieder zitiert, haben sie sogar einmal im Restaurant in der Sonnenallee bestellt? Er springt auf, tritt an das Touchpad und tippt »royalmitkaese« in das Bedienfeld. Er zögert kurz – was, wenn er falsch liegt? –, dann tippt er auf »Bestätigen«. Nichts passiert. Fuck.
Plötzlich hört er ein Klacken, und die Klappe öffnet sich einen Spalt. »Yes!«, zischt er und öffnet sie ganz.
Im Tresor liegen eine geschlossene Aktenmappe, ein paar Schachteln, mehrere Speichersticks. An der Innenwand ist mit Klebeband ein Zettel befestigt, auf den eine Kinderhand mit Buntstiften ein Haus gemalt hat, neben dem eine Frau steht. Das soll sicher Olivia sein. Kanter greift nach der Aktenmappe, als er hinter sich ein Geräusch hört. Er will sich umdrehen, verharrt jedoch in der Bewegung, als er den kühlen, harten Lauf einer Waffe an seinem Hinterkopf spürt.
»Nicht umdrehen«, sagt eine ruhige, gedämpft klingende Männerstimme. »Langsam vom Tresor zurücktreten.«
Kanter tut, wie ihm befohlen wird, und macht zwei vorsichtige Schritte rückwärts vom Tresor weg. Er hört ein Rascheln und spürt dann einen harten Schlag auf die Schläfe. Dann nichts mehr.