21
Später kann sich Kanter nur noch schemenhaft erinnern, was passiert ist. Er weiß noch, wie Olivia auf einmal mitten im Satz abbricht und irritiert schaut. Dann einen Ausdruck entsetzten Verstehens im Gesicht hat, bevor sie das Bewusstsein verliert. Kanter muss all das ohnmächtig auf seinem Smartmind verfolgen, weil er im Safe House sitzt.
Er hört, wie in Olivias Krankenzimmer der Alarm der Überwachungsapparaturen einsetzt, hört, wie Pfleger ins Zimmer stürmen. Olivias Smartmind fliegt zur Seite, ihr grauenvoll stilles Gesicht fällt aus dem Bild, und eine Sekunde später sieht er nur noch das kalte Weiß der Krankenhausdecke. Im Hintergrund hört er Stimmen, hektische und gleichzeitig routinierte Betriebsamkeit, die doch zum Erfolg führen muss, bitte, dafür sind diese Leute doch ausgebildet. Er hört sie um Olivias Leben kämpfen, ist sich sicher, dass sie es schaffen werden, dass Olivia wieder gerettet werden wird, wie beim letzten Mal in ihrer Wohnung. Ja, alles wird gut werden, Kanter wird dieses Mal nicht allein gelassen werden wie damals, als Onkel Toni ihm erklärt hat, dass seine Eltern nicht mehr zurückkämen. All diese Gedanken schießen ihm durch den Kopf, sodass er lange den Ton nicht hört. Nicht hören will, bis er ihn nicht mehr ausblenden kann, auch weil die Rettungskräfte im Hintergrund verstummt sind, die hektische Betriebsamkeit einer erschütterten Stille gewichen ist, nur gestört von diesem einen Geräusch: dem lang gezogenen Piepen des Herzmonitors.
Jemand sagt: »Scheiße.«
Eine Frau fragt: »Was war da los? Sie war doch stabil.«
Sie bemerkt wohl, dass Olivias Smartmind noch in einem Videocall ist, denn Kanter sieht das mondförmige Gesicht einer Pflegerin auf seinem Display, als diese sich über die Kamera beugt. Sie schaut ihn an, geschockter davon, dass Kanter alles mitbekommen hat, als von der Tatsache, dass Olivia tot ist, dass sie dieses Mal wirklich, wirklich tot ist. Die Frau will etwas sagen, doch Kanter hört es nicht mehr, denn seiner Kehle entringt sich ein Schrei, der die Einsamkeit eines ganzen Lebens zusammenfasst. Er schleudert das Smartmind an die Wand. Danach wird alles dunkel .
Erst am Morgen erfährt auch Charlie von Olivias Tod. Auf dem Smartmind kann sie Kanter nicht erreichen. Sie eilt ins Safe House. Als sie die Tür öffnet, kann sie ihn hören. Er steht in der Küche und spricht mit jemandem. Sie geht in Richtung Küche, aber bleibt vor der angelehnten Tür stehen. Durch den Türspalt kann sie ihn sehen. Er steht mit dem Rücken zu ihr und spricht in sein Smartmind.
»Sie haben gewonnen.«
Die Person, mit der Kanter gerade spricht, antwortet, doch Charlie kann nicht verstehen, was sie sagt.
Dann wieder Kanter: »Ja, ist gut.«
Das Gespräch scheint beendet und Charlie tritt in die Küche.
»Wer war das?«
»Gabriele von Koblitz.«
Charlie starrt ihn an.
»Die Leiterin der SNS.«
»Ich weiß, wer das ist. Was habt ihr besprochen? Was soll das?«
»Sie hat mir angeboten, die Vorwürfe gegen mich fallenzulassen. Ich kann wieder in mein altes Leben zurück, wenn ich mich ab sofort aus allem raushalte.«
»Du kannst nicht …«
»Wir haben verloren, Charlie. Olivia ist tot.«
Charlie nickt und tritt an Kanter heran, nimmt seinen Arm. Er macht sich los.
»Olivia … Es ist alles sinnlos. Es gibt keinen Grund, weiter zu kämpfen.«
»Paul, ich verstehe dich. Ich kann es auch nicht glauben, dass Olivia …« Sie dreht sich weg. Lässt sich auf einen Küchenstuhl sinken. Die Ungeheuerlichkeit, dass Olivia wirklich tot sein soll, wird ihr erst jetzt wirklich klar. Sie reißt sich zusammen. »Aber trotzdem: Mein Team ist fast so weit, alles zu veröffentlichen. Wir lassen alles auffliegen. Die Öffentlichkeit muss davon erfahren. Und du bist ein wichtiger Zeuge für uns. Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In den letzten Tagen hat Charlies Team bei FAKE Media mit Hochdruck daran gearbeitet, die Erkenntnisse aus Olivias Recherchen und dem, was Kanter, Aliza und Charlie herausgefunden haben, zu sortieren und zu einer schlüssigen Story zu formen. »Wir haben noch kein komplettes Bild, aber es ist genug, um den Kanzler, Sunrise und die SNS gehörig unter Druck zu setzen. Und um die Stimmung in der Bevölkerung gegen die Volksabstimmung kippen zu lassen. Wenn du mitspielst.«
»Es tut mir leid, Charlie. Ich kann nicht mehr. Und es wird nichts bringen. Die sind stärker als wir.«
»Dann ist Olivia umsonst gestorben.«
»Natürlich ist sie das!« Kanter schreit. »Wie kann sie denn nicht umsonst gestorben sein? Sie ist tot, weil sie dachte, sie könnte sich mit den Mächtigen der Welt anlegen! Und weil wir dachten, dass wir das könnten. Olivia ist tot, weil wir uns gnadenlos überschätzt haben. Die sind mächtiger als wir. Es war Wahnsinn, so weit zu gehen, und wenn wir es darauf hätten beruhen lassen, würde sie vielleicht noch leben!«
Charlie schüttelt den Kopf. »Vielleicht, ja. Aber in einer Welt, die sie nicht als lebenswert empfunden hätte. Olivia hat an eine bessere Welt geglaubt. Und sie war bereit, dafür alles zu riskieren. Du hast recht, es kann sein, dass das alles umsonst war. Aber nur, wenn wir jetzt nicht weitermachen. Nur, wenn wir nicht dagegenhalten, werden sie gewinnen. Es braucht Menschen wie Olivia, die dagegenhalten. Und Menschen wie uns.«
»Mich nicht. Ich bin selbst einer von ihnen. Deshalb habe ich mich aus allem herausgehalten. Damit ich nicht noch mehr Schaden anrichte. Wenn ich dabei geblieben wäre, wäre Olivia vielleicht noch am Leben.« Kanter geht auf die Wohnungstür zu. Charlie folgt ihm. »Nein, Charlie, für mich ist das alles vorbei. Ich gehe zurück in mein altes Leben. Und wenn du schlau bist, machst du das auch.« Mit diesen Worten öffnet er die Wohnungstür. »Mach’s gut. Pass auf dich auf.«
»Paul!«
»Bitte.« Kanter schaut sie flehend an.
Sie lässt ihn gehen. Schaut ihm hinterher, wie dieser große, hagere Mann gebückt wie ein altes Männlein den Flur Richtung Fahrstuhl entlang schleicht. Dann schließt sie die Tür.
»Fuck!«
Als Kanter seinen Laden in der Fuldastraße erreicht, fällt ihm als Erstes auf, dass das Zelt gegenüber verschwunden ist. Nur ein gelbes Rechteck auf dem Rasen und die Leine, auf der die Frau ihre Wäsche aufgehängt hat, zeugen noch davon, dass dort monatelang eine Flüchtlingsfamilie gelebt hat.
Vor seinem Laden steht die alte Yilmaz. Sie hat ihn kommen sehen und wartet auf ihn. »Ach, da bist du ja. Wo bist du gewesen, armes Mann? Ich komme jeden Tag, um mein Geld zu holen, aber jeden Tag hängt hier Schild. Geschlossen. Hast du im Lotto gewonnen, brauchst nicht mehr arbeiten?«
»Bitte, Frau Yilmaz. Ich hatte ein paar schlimme Tage.«
Sie muss Kanter ansehen, dass er es ernst meint, denn der übliche flapsige Spruch bleibt aus.
»Was ist hier passiert? Wo ist die Familie von gegenüber?«
»Hast du nicht gehört?«
»Nein, ich … Ich war ein paar Tage verreist.«
»Schlimme Sache. Der Junge, der Sohn?«
»Was ist mit ihm?«
»Totgeschlagen haben sie ihn. Die Männer mit den schwarzen Jacken. Mit dem gelben Zeichen.«
»Die Freiheitliche Bewegung.«
Frau Yilmaz verzieht das Gesicht, wie es nur eine alte Dame kann, um ihre Verachtung auszudrücken.
»Ja, die. Haben Familie nie in Ruhe gelassen, du weißt das. Vorgestern Abend kamen viele, mehr als zehn. Waren betrunken. Junge wollte sein Mutter beschützen, da haben sie ihn geschlagen und getreten. Immer wieder. Ich habe geschrien, sie sollen aufhören, aber nichts. Wer hört auf alte Frau? Habe Polizei gerufen, aber kam nicht. Irgendwann hat sich der Junge nicht mehr bewegt. Männer sind weggelaufen. Etwas später kamen Krankenwagen und Polizei. Haben alle mitgenommen. Den Jungen haben sie in einen Sack gesteckt.«
Eine tiefe Verzweiflung überkommt Kanter. Diese Familie hat es aus ihrem kaputten Land nach Deutschland geschafft, hat hier auf der Straße gelebt. Der Junge hat seiner Mutter geholfen, in diesem fremden Land zu überleben. Und am Ende haben sie ihn totgeschlagen. Es hilft alles nichts. Diese Welt ist zum Untergang verdammt. Und Kanter will nicht mehr kämpfen. Er will nach oben in seine Wohnung gehen und sich hinlegen. Er ist so müde.
»Kommen Sie, Frau Yilmaz, ich gebe Ihnen Ihr Geld.« Er schließt die Tür des Ladens auf.
»Ist nicht wichtig …«
»Doch, doch, kommen Sie mit. Morgen habe ich sicher geschlossen.«
»Danke, Paul Kanter. Du bist ein guter Mann.«
Kanter liegt in seinem Wohnzimmer und starrt an die Decke. An Schlaf ist nicht zu denken. Er hat kein Licht angemacht. Von draußen scheint diffus das Licht der Straßenlaternen hinein, nur einmal unterbrochen von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos, die gespenstische Muster auf die Wand werfen. Die Wohnung ist durchsucht worden, als nach ihm gefahndet wurde; Bücher, Kleidung und alle möglichen Haushaltsgegenstände liegen um ihn herum verstreut auf dem Boden. Kanter ist es egal.
Die Worte der alten Yilmaz hallen noch lange in ihm nach. Ist er ein guter Mann? Wie kommt sie darauf? Als junger Mann hat er geraubt, geschlagen und sogar einen Menschen getötet. Hat Olivia nicht beschützen können, erst aus Eitelkeit, dann aus Egoismus, dann aus Selbstüberschätzung, alleine ein Komplott aufklären zu können. Er hat zu viel geschehen lassen. Oder selbst getan. Und am Ende hat es dazu geführt, dass Olivia gestorben ist. Dass sie sie umgebracht haben.
Kanter erinnert sich an das, was Frau Yilmaz vor einigen Wochen zu ihm gesagt hat: Man kann nicht beeinflussen, was andere tun. Aber die Verantwortung, wie man selbst damit umgeht, hat man immer. Was hätte er anderes tun können? Er hat ja versucht, Verantwortung zu übernehmen. Hat versucht herauszufinden, was hinter dem Angriff auf Olivia steckt. Und dabei auf voller Bahn versagt. Bei dem Gedanken, dass Olivia jetzt kalt und leblos in der Pathologie des Krankenhauses liegt, wird ihm schlecht. Olivia. Er erinnert sich an sie, an ihr Gesicht, die Wärme ihres Körpers, wenn sie zusammenlagen. Das vorletzte Mal, dass er diesen Körper gehalten hatte, war schon Teil der Katastrophe gewesen, als er sie blutend in ihrer Wohnung gefunden hatte. Und doch ist dieser Moment jetzt seine wertvollste Erinnerung. »Nichts ist, wie es scheint«, hatte sie damals gesagt. Von einem John gesprochen, der sich als John Travolta an ihrer Wand entpuppt hatte. Und von der Stimme. Welche Stimme? Das hatten sie nie lösen können, und Olivia hatte sich selbst nicht mehr erinnert.
Sein Smartmind meldet sich. Aliza. Kanter lässt es klingeln. Er hat ihrer Chefin doch gesagt, dass er aufgibt. Was wollen die denn noch von ihm?
Er schaltet sein Tablet ein. Scrollt durch die wenigen Fotos, die er von Olivia hat. Olivia auf einer Decke im Park. Olivia beim Eisessen, mit Schokoladenresten in den Mundwinkeln. Olivia konzentriert am Schreibtisch, ihr Gesicht blau schimmernd vom Licht des Bildschirms.
Dann wird es ihm zu viel. Zwängt es ihm den Brustkorb zusammen. Ein klagender Laut bricht aus ihm hervor. Er schaltet rüber zu den Nachrichten, um sich abzulenken. News aus aller Welt, Sport. Nichts über den Tod einer Klatschreporterin. Ein Bericht über die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Deutschen Einheit. Und kurz danach die Volksabstimmung über die neuen Überwachungs- und Terrorabwehrgesetze.
Wieder brummt sein Smartmind. Eine Nachricht von Aliza: »Ruf mich an. Es ist wichtig. Ich brauche Hilfe. Melde dich!«
Verdammt. Kann sie ihn nicht in Ruhe lassen? Kanter legt das Smartmind beiseite. Doch einen Moment später nimmt er es und wählt. Das letzte Mal, dass er einen Hilferuf ignoriert hat, hat Olivia das Leben gekostet. Eine weitere tote Frau könnte er sich nicht verzeihen.
»Paul, Gott sei Dank! Wo bist du?«
»Zu Hause. Es ist alles vorbei. Olivia ist tot. Und ihr seid daran schuld.«
»Ich weiß. Es tut mir so leid.« Sie macht eine Pause. »Hör zu, ich habe damit nichts zu tun. Die SNS steckt da mit drin. Zöllner hat gerade versucht, mich umzubringen. Er hat Olivia überfallen und dich in ihrer Wohnung bewusstlos geschlagen. Die wissen, dass ich dir geholfen habe, aus Moabit auszubrechen. Die stecken mit Engel unter einer Decke. Und mit sonst wer weiß wem. Was ist da los?«
»Ich habe keine Ahnung. Und es ist mir auch egal. Ich habe deiner Chefin gesagt, dass ich mich ab sofort aus der Sache raushalte.«
»Paul, hör mir zu: Du bist in Gefahr. Die lassen dich nicht in Ruhe. Du weißt zu viel. Und willst du wirklich, dass sie damit davonkommen?«
Kanter hört nur mit einem Ohr hin, sieht auf dem Tablet Kanzler Wischnewski im Interview: »… fordere ich hiermit jeden Deutschen, dem ein sicheres und blühendes Deutschland wichtig ist, dazu auf, seine Stimme für die Gesetzesänderungen abzugeben. Stimmen Sie bei der Volksabstimmung am 7. Oktober mit Ja!«
»Die Stimme«, sagt Kanter.
»Was? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Warte kurz …«
Was hat der Kanzler gerade in den Nachrichten gesagt? Seine Stimme für die Gesetzesänderung abgeben? Die Stimme. Die Stimme, von der Olivia gesprochen hat, in der Nacht, als sie überfallen wurde. Das hat er zumindest verstanden. Aber vielleicht hat sie ja gar nicht von einer Stimme gesprochen, sondern von … der Abstimmung. Sie war ja kaum noch bei Bewusstsein, als sie das sagte.
»Aliza, die Stimme.«
»Was?«
»Wir haben die ganze Zeit gerätselt, was Olivia mit der Stimme gemeint haben könnte.«
»Ja.«
»Sie hat nicht von der Stimme gesprochen. Sondern von der Abstimmung.«
»Welcher Abstimmung?«
»Der Volksabstimmung. Das ist es. Darum ging es!« Er überlegt kurz. Plötzlich macht alles Sinn. Es geht um die Volksabstimmung. Und Kanter weiß jetzt auch, was sie vorhaben. »Fuck!«
»Paul?«
Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Engel … der Sprengstoff … die Volksabstimmung … frühere Attentate, bei denen die Hintergründe merkwürdig aussahen … Die Leute, die von der Volksabstimmung profitieren, scheinen vor nichts zurückzuschrecken.
»Wir … wir müssen sie aufhalten«, sagt er mehr zu sich selbst als zu Aliza.
»Was? Was ist los?«
Aber hat er sich nicht eben noch geschworen, nichts mehr mit der Sache zu tun haben zu wollen? Egal, was er jetzt macht oder nicht, Olivia wird es nicht zurückholen. Andererseits … wofür hat sie gekämpft? Was würde sie jetzt tun? Wenn er jetzt nichts unternimmt, ist sie für nichts gestorben.
»Aliza, wir müssen uns treffen. Wo bist du?«
»Bei meinem Onkel in Neukölln.«
»Gut. Wir treffen uns dort, in einer Stunde. Schick mir die Adresse. Ich rufe Charlie an.« Er legt auf und wählt Charlies Anschluss. Sie meldet sich nach dem ersten Klingeln.
»Paul?«