23
Ein paar Minuten lang schweigen alle, während der Wagen vom Autodrive gesteuert auf der Autobahn Richtung Berlin rast.
»Das war Mord, Mahmud«, unterbricht Kanter die Stille. »Mord an halben Kindern!« Er hat noch immer das Bild vor Augen, wie die Männer in sich zusammensacken.
»Kein großer Verlust für die Welt, Mann. Scheißnazis waren das. Die wollen haufenweise Menschen in die Luft jagen und es dann noch uns Kanaken in die Schuhe schieben.«
»Trotzdem, das war kaltblütiger Mord!«
»Das waren Zeugen. Was meinst du, wem man glaubt, wenn es um einen Angriff auf ein Camp der FB geht? Dass wir ein Komplott verhindert wollten, in das alle verwickelt sind, die in Deutschland was zu sagen haben? Das glaubt uns doch kein Mensch. Besser, niemand weiß, dass wir in dem Camp waren. Außerdem: Das waren keine Unschuldslämmer. Diese Hurensöhne haben eine terroristische Verschwörung geplant. Die wussten, was für sie auf dem Spiel steht.«
»Trotzdem, das war einfach …«
»Lass gut sein. Oder stehst du deinen guten deutschen Landsleuten näher als uns? Hast du Verständnis für die?«
»Du Wichser, die haben meine Freundin umgebracht.« Kanter stürzt vom Rücksitz nach vorne und schlägt nach Mahmud, erwischt ihn aber nur leicht am Kinn.
»Stopp! Jetzt reißt euch zusammen.« Aliza packt Kanter am Arm und hält ihn mit erstaunlicher Kraft zurück.
Alle schweigen und schauen Aliza an. »Es bringt nichts, wenn wir streiten. Onkel Mahmud, Paul, wir sind ein Team. Was passiert ist, ist passiert. Konzentriert euch auf das, was vor uns liegt. Wir haben nur einen Versuch. Es gib keine zweite Chance, das Ganze zu stoppen. Also beruhigen wir uns jetzt alle und besprechen, was wir machen.«
Die Männer nicken, auch wenn sich Mahmud und Kanter einen letzten bösen Blick zuwerfen.
»Was schlägst du vor?«, fragt Kanter.
»Das ganze Gelände rund ums Brandenburger Tor, die ganze Festmeile an der Straße des 17. Juni wird komplett abgesperrt und mit Zugangskontrollen versehen sein. Da können wir nicht einfach reinspazieren und freundlich anregen, alles zu evakuieren, weil wir geheime Informationen haben. Zumal Paul und ich mittlerweile von meinen Kollegen gesucht werden. Und ihr …«, sie blickt Mahmud und Ahmed an, »… an euch schreit alles ›arabischer Clan‹. Ihr werdet sofort verhaftet, wenn ihr anfangt, von Bomben zu faseln.«
»Aber was sollen wir dann machen?«, fragt Mahmud. »Gibt es in deinem Scheißladen niemanden, dem wir trauen können? Jemanden mit Ehre?«
»Sicher gibt es die. Aber ich bin noch nicht lange genug dabei, um zu wissen, wer das ist. Ich fürchte, von der SNS können wir nicht mit Unterstützung rechnen. Eher noch von der regulären Polizei. Aber darauf würde ich auch nicht wetten.«
Alle schweigen. Draußen rast die brandenburgische Landschaft an ihnen vorbei, doch keiner hat ein Auge für die Orangenhaine und Weinstöcke, die sich kilometerlang an der Autobahn entlangziehen. »Am wichtigsten ist doch, dass das Gebiet evakuiert wird, damit es keine große Menschenmenge gibt, in die Engel die Drohnen steuern kann«, fährt Aliza fort. »Engel zu finden und zu stoppen kommt erst danach.«
»Ich habe eine Idee«, sagt Kanter.
»Leg los«, sagt Mahmud.
Kanter erklärt seine Idee.
»Du weißt, was das für dich bedeutet, Paul?« Aliza schaut ihn ernst an. Kanter nickt grimmig.
»Klingt komplett wahnsinnig«, sagt Mahmud. »Aber wenn keinem etwas Besseres einfällt, machen wir das so, oder?«
Alle nicken.
»In zehn Minuten erreichen Sie Ihr Ziel«, meldet sich das Autodrive-System.
Kanter, Aliza, Mahmud und Fahrid sitzen in Mahmuds AMG und schauen auf sein
Smartmind. Spinner und Boris sind bis zu den Absperrungen am Großen Stern vorgefahren, während Mahmuds Wagen rund zwei Kilometer entfernt am Lützowplatz am Straßenrand parkt.
Spinner überträgt mit seinem Smartmind gerade einen Videostream vom Großen Stern. Alles ist voll mit regulärer Polizei und Spezialkräften der SNS. Vor der Einlasskontrolle stehen Einsatzkräfte in Zweiergruppen, deren schwarze Brustpanzer im Sonnenlicht matt schimmern wie Mahmuds AMG. Vor dem Bauch halten sie Maschinenpistolen. Tausende Menschen strömen in kleinen und großen Gruppen zu den Einlasskontrollen, um rechtzeitig zu den Feierlichkeiten möglichst weit nach vorne zum Brandenburger Tor zu kommen. Aus dem Hintergrund des Videostreams hört Kanter die Stimme des Autodrive-Systems aus dem anderen Auto: »Bitte fahren Sie weiter. Die Behörden haben das Parken und Halten im Eingangsbereich dieser Veranstaltung untersagt … Bitte fahren Sie weiter. Die Behörden …«
»Scheiße, alles voller Bullen«, sagt Mahmud.
Klar, es ist die größte Veranstaltung seit den Bomben vor acht Jahren, denkt Kanter. Die Feierlichkeiten sollen ein Neubeginn sein. Deutschland traut sich wieder auf die Straße. Der Bundeskanzler und alles, was Rang und Namen hat, ist anwesend. Da geht die SNS auf Nummer sicher.
Aliza schaut Kanter an. »Ziehen wir es durch?«
Kanter nickt. »Der Wagen ist gepanzert, ja?«
»Ja, Mann«, sagt Mahmud. »Mit ein paar von den Dingern könntest du ein kleines Land erobern.«
Er schaut wieder auf sein Smartmind, auf dem noch immer die Szenerie vor dem Hauptzugang des Festgeländes übertragen wird. Gerade schwenkt Spinner seine Kamera, und es rücken große Betonquader ins Bild, die das Gelände absperren.
»Wartet mal. Da ist alles abgesperrt mit diesen Betonblöcken. Ihr könnt da nicht reinfahren. Scheiße.«
»Wie bescheuert sind wir eigentlich?«, fragt Kanter. »War doch klar, dass hier alles mit Betonblöcken geschützt ist.«
»Ist nur Theater«, meldet sich Aliza.
»Was?«
»Die Leute fühlen sich dann sicherer. Aber die können ja wohl kaum den ganzen Tiergarten mit Betonblöcken ummauern.« Sie deutet die Straße entlang. »Wir fahren hier
hoch und dann rechts in die Tiergartenstraße. An den Rändern des Tiergartens stehen bei solchen Veranstaltungen normalerweise nur Bauzäune.« Sie hat »Sunrise Maps« auf ihrem Smartmind geöffnet und deutet auf eine Stelle in der Nähe der Luiseninsel, einer kleinen Insel in der Mitte des Parks. »Da fahren wir rein. Dann ein Stück durch den Park.« Sie zeichnet mit den Fingern den geplanten Weg auf einer Karte nach. »Hier diesen Weg entlang und dann auf der Höhe des Sowjetischen Ehrenmals auf die Straße des 17. Juni. Wir wollen ja sicherstellen, dass auch jeder was von uns mitbekommt.«
»Klingt gut«, sagt Kanter.
»Nichts klingt gut. Ihr werdet dabei draufgehen,« sagt Mahmud.
»Fällt dir was Besseres ein?« Einen Moment herrscht Stille. »Okay, dann los. Sag deinen Männern, sie sollen abhauen.«
Mahmud spricht in sein Smartmind. »Spinner, haut ab da und haltet euch in der Nähe, falls wir euch noch brauchen. Wir haben alles gesehen, was wir wissen müssen. Aliza und Paul gehen rein.«
»Alles klar«, tönt es aus dem Gerät.
Mahmud beendet den Call mit Spinner und steckt sein Smartmind ein. »Aliza, bist du dir sicher, dass du das machen willst?«
»Hundert Prozent. Wenn ich dabei bin, glaubt vielleicht noch irgendwer, dass wir die Guten sind.«
»Dann los. Fahrid?« Er nickt Fahrid zu, woraufhin beide aussteigen. Kanter und Aliza bleiben auf dem Rücksitz sitzen. Mahmud beugt sich noch einmal zum Wagen herunter, bevor er die Tür schließt. »Viel Glück. Ihr werdet es brauchen.«
»Danke«, sagen Kanter und Aliza unisono.
»Also los.« Aliza beugt sich nach vorne und gibt einige Befehle in das Autodrive-System von Mahmuds AMG ein.
Der Wagen setzt sich in Bewegung und reiht sich in den spärlichen Verkehr ein.
»Eine Sache hat mir keine Ruhe gelassen«, sagt Aliza.
»Was meinst du?«
»Warum hat sich Engel da hineinziehen lassen? Laut unseren Informationen und den Recherchen von Olivia hat er seit Jahren keine Aktionen mehr durchgeführt.«
»Keine Ahnung. War ihm im Ruhestand langweilig?«
»Nein. Ich glaube, es ist was anderes. Ich habe vor einigen Tagen VK belauscht, am
Telefon. Sie hat sich unglaublich aufgeregt, weil sich ein Häftling in einer Strafanstalt umgebracht hat. Saß dort wegen Totschlags. Ein unbedeutender Junkie, kleines Licht.«
»Was hat das mit der SNS zu tun?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Warum regt sich die Leiterin der SNS über den Selbstmord eines Junkies auf? Dann habe ich recherchiert. Nichts Besonderes herausgefunden.«
»Aha?«
»Bis auf eins. Die Bedeutung ist mir aber erst später klar geworden. Der Junge war der Sohn eines Pärchens, das Mitte der Zehnerjahre beim IS war. Eines deutschen Pärchens.«
»Und was …«
»Er war Engels Sohn.«
»Wie kommst du darauf?«
»Alles andere ergibt keinen Sinn. Warum sollte VK sich sonst für ihn interessieren? Sie hat entweder dafür gesorgt, dass er im Knast saß, oder die Gunst der Stunde genutzt, weil er sich selbst dorthin befördert hat. Sie hat Engel erpresst. Die Freiheit seines Sohnes gegen seine Teilnahme an der Verschwörung.«
»Ja, mag sein.« Kanter schaut aus dem Fenster des AMG, der mittlerweile langsam auf Parkwegen durch den Tiergarten schleicht. »Und er ist tot? Das bedeutet ja …«
»… dass VK kein Druckmittel mehr gegen Engel in der Hand hat.«
»Wenn wir es schaffen, an ihn heranzukommen, kann uns das helfen.«
»So ist es.« Sie schaut triumphierend.
»Dann hoffen wir nur, dass du recht hast, und der Junge wirklich Engels Sohn ist. Wie heißt er?«
»Jerome Loheit. Den Namen solltest du dir merken.«
Aliza holt ihr Smartmind hervor. »Ich habe den Bericht über ihn.« Auf dem Display erscheint das Foto eines jungen Mannes, der mit ein bisschen Fantasie tatsächlich Ähnlichkeit mit Engel aufweist. Neben dem Foto steht in großen roten Buchstaben: »VERSTORBEN«.
»Ich schicke dir den Bericht auf dein Smartmind.«
Augenzeugen werden später berichten, eine schwarze Limousine sei mit röhrendem Motor aus dem Park auf die Straße des 17. Juni geschossen wie ein Panther aus dem Dschungel. Sei direkt in die Menschenmenge gefahren, während ein arabisch aussehender Mann sich oben aus dem Schiebedach gelehnt, mit einer automatischen Waffe in die Menge geballert und »Allahu akbar« geschrien hätte.
In Wahrheit achtet die künstliche Intelligenz des Autodrive-Systems sehr genau darauf, keinem der Besucher zu nahe zu kommen, als der Wagen vom Parkweg hinaus auf die asphaltierte Straße rast, auch wenn es von Mahmuds Mann in der Autowerkstatt so manipuliert wurde, dass es die 380 PS des Motors voll ausreizen kann. Auch Kanter schießt sehr sorgfältig in die Luft, um niemanden zu gefährden. Wie ein Araber sieht er bei genauer Betrachtung auch nicht aus, aber das interessiert später keinen mehr. Der Mann hatte einen Bart.
Der Plan basiert auf zwei Ideen: Erstens würde die Menschenmenge auseinanderströmen, in die Büsche am Rande der Straße des 17. Juni flüchten und so den Weg freimachen, damit Kanter und Aliza so nahe wie möglich ans Brandenburger Tor kämen. Zweitens würden bei Polizei und SNS sofort alle Alarmglocken läuten. Terroranschlag! Das Festprogramm würde abgesagt, die Menschen evakuiert und somit der echte Anschlag keinen Sinn mehr machen.
Fast alles an diesem Plan gelingt. Noch während Aliza und Kanter die Straße des 17. Juni Richtung Brandenburger Tor hinunterrasen, die flüchtenden Besucher dank Autodrive wie Slalomstangen umfahrend, gehen die ersten Befehle über Funk an Polizei und SNS raus, das Gelände zu evakuieren und den Wagen zu stoppen, ohne das Leben unbeteiligter Bürger zu gefährden. Was so viel heißt wie: hektisch widersprüchliche Befehle in die Funkgeräte zu schreien, Stop-Sticks auf die Straße zu werfen, auf das Auto zu schießen und damit schnell wieder aufzuhören, weil der Wagen gepanzert ist und man außer einem betagten Zwergpinscher an der Leine einer älteren Dame nichts getroffen hat. Kurz gesagt: relativ nutzlos dabei zuzusehen, wie sich der AMG seinen Weg Richtung Brandenburger Tor bahnt, wo Bundeskanzler Wischnewski gerade das Podium besteigt, um eine Rede zu halten, die in die Geschichte eingehen soll, wenn es nach ihm geht.
Geht es aber nicht.
Es läuft nicht nur ein wenig anders, nicht-ganz-sein-Tag-anders, sondern katastrophal anders: Um 13:02 Uhr, als Bundeskanzler Johann Friedrich Wischnewski an das Rednerpult tritt, einen Schluck aus dem bereitstehenden Wasserglas nimmt, sein Tablet mit dem Manuskript vor sich hinlegt und tief durchatmet, um seine Rede zu beginnen, hört er aus der Ferne das Röhren eines kräftigen Automotors. Er sieht, dass ein paar hundert
Meter vor ihm etwas zu passieren scheint, da die Menschenmenge auseinander rennt und er ein ungleichmäßiges Schnarren hört, das er eine Sekunde später als Schüsse erkennt. Fast gleichzeitig senkt sich schnell und unbeachtet eine Secu-Drone vor dem Podium herab, wie sie über der Veranstaltung zu Dutzenden herumschweben. Als sie nur noch einen Meter vom Kanzler entfernt vor ihm in der Luft schwebt, wird sie nicht nur von ihm, sondern auch von den Sicherheitskräften bemerkt. Das ist jetzt doch etwas zu nah.
Wischnewski schaut kurz irritiert. Einen Augenblick später explodiert der an der Drohne befestigte Sprengsatz und reißt den Kanzler sowie seinen Referenten David Baader, der neben dem Podium steht, in Stücke.
So geht der erste Bundeskanzler der PAD, Johann Friedrich Wischnewski, zwar an diesem Tag in die Geschichte ein, allerdings nicht mit einer Jahrhundertrede, sondern indem sein Blut und andere flüssige Körperbestandteile langsam ins historische Pflaster vor dem Brandenburger Tor sickern.
Danach bricht die Hölle los. Die SNS-Kräfte, die direkt an der Bühne zum Schutz der Politprominenz abgestellt sind, werfen sich über ihre noch weitgehend intakten Schutzpersonen, halten Ausschau nach bärtigen Attentätern und brüllen in ihre Headsets.
»Scheiße, wir sind zu spät!« Noch immer rast der AMG auf der Festmeile Richtung Brandenburger Tor, vor dem nun eine dicke schwarze Rauchsäule aufsteigt. »Die Explosion war direkt vor der Bühne. Das muss eine von Engels Drohnen gewesen sein.«
»Siehst du noch mehr?«
Aliza sucht den Himmel ab. »Nein, nichts. Was hat Kevin gesagt? Wo kommen die Drohnen her?«
»Er hat nichts gesagt. Weißt du nicht, wo die herkommen?«
»Nur, dass sie in Türmen stationiert sind. Einer muss hier in der Nähe sein.«
Die Explosion hat die SNS-Kräfte und die Polizei von Mahmuds Wagen abgelenkt. In Panik geratene Besucher rennen wild durcheinander und strömen um den Wagen herum. Die Menschenmenge wird immer dichter und rennt dem Wagen entgegen, der nach und nach langsamer wird und schließlich stehen bleibt.
»Fahrt unterbrochen«, meldet sich das Autodrive, freundlich wie immer. »Personen im Umfeld des Wagens. Bitte warten. Fahrt unterbrochen. Personen im Umfeld …«
»Es werden immer mehr Menschen, wir kommen hier nicht weiter. Wir gehen raus und zu Fuß weiter. In der Panik bemerkt uns keiner.«
Kanter hat recht. Seit der Explosion haben auch die Schüsse auf den Wagen aufgehört.
»Okay, schnell.« Aliza öffnet ihre Tür, und beide schlüpfen geduckt aus dem Wagen. Keiner der panisch Flüchtenden schenkt ihnen Beachtung. »Wir müssen dicht zusammenbleiben.«
Kanter nickt und deutet mit einer Kopfbewegung Richtung Brandenburger Tor. »Da lang. Nimm meine Hand.«
Sie drängeln sich durch die Menschenmasse, die sich ihnen aus Richtung der Explosion entgegendrängt, kämpfen sich Meter um Meter nach vorne, werden fast umgerannt, bekommen Ellbogen ins Gesicht, treten auf Füße. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen sie den Platz vor dem Brandenburger Tor.
»Was nun?«, fragt Aliza, gegen den Lärm von Sirenen, Lautsprecherdurchsagen und panischen Schreien hinweg.
Kanter schaut suchend umher, doch in dem ganzen Chaos kann er nicht erkennen, wo sie Engel oder die manipulierten Drohnen finden könnten. Das Podium vor dem Brandenburger Tor ist rußgeschwärzt, und vorne kann Kanter Spuren von Blut sehen. Dutzende Sicherheitsleute in schwarzen Anzügen rennen umher, Politiker werden eilig in schwarze Vans und Limousinen geleitet. SNS-Agenten in Kampfmontur knien auf der Bühne und scannen das Gelände, suchen mit ihren Sturmgewehren den unsichtbaren Feind. Kanter kommt es vor, als müssten sie ihn jederzeit erkennen, als würde er nackt vor ihnen stehen, als würden sie jeden Moment auf ihn anlegen und ihn mit Kugeln durchsieben. Doch dann wird ihm klar, dass er aus ihrer Sicht nur Teil einer wuselnden Menschenmenge ist, dass man ihn und Aliza gar nicht als Einzelpersonen identifizieren kann.
»Schau, da!«, ruft Aliza. Sie zeigt nach rechts in den Himmel. Wie ein Schwarm wütender Raubvögel nähern sich schnell rund zwanzig Secu-Drones. Aliza rennt los, Kanter hinter sich herziehend. Die Menschenmenge wird weniger dicht, da sie sich jetzt mit ihr vom Ort der Explosion entfernen. Sie lassen die amerikanische Botschaft links liegen, laufen dem Drohnenschwarm entgegen.
»Der Turm. Da kommen die Drohnen raus.« Aliza zeigt auf einen grauen, unscheinbaren Turm am rechten Straßenrand. Er sieht fast wie eine Stele des gegenüberliegenden Holocaust-Denkmals aus, die sich verlaufen hat. »Kevin hat gesagt,
Engel müsse in der Nähe sein, um die Drohnen zu manipulieren.«
Sie erreichen den Turm und bleiben stehen. Kanter schaut sich um. Sein Blick schweift über das Stelenfeld des Holocaust-Denkmals.
»Ich weiß, wo er ist.«
»Wo?«
»Das Mahnmal. Stefan und ich haben früher dauernd hier abgehangen. Er muss hier sein.«
»Na super, dann können wir jetzt mit ihm Verstecken spielen?«
»Nein. Wir hatten eine bestimmte Stelle. Da muss er sein.«
»Wo?«
»Da hinten, auf der gegenüberliegenden Seite, links neben dem Eingang zum unterirdischen Besucherzentrum. Da haben wir uns früher immer getroffen, wenn wir Touristen abgezogen haben. Und Touristinnen angebaggert.« Kanter deutet auf das ferne Ende des Holocaust-Mahnmals. »Schnell, wir müssen uns beeilen. Er kann die anderen Sprengsätze jederzeit zünden.«
»Bist du sicher, dass er dort ist?«
»Nein … aber haben wir eine andere Idee?«
Aliza schüttelt den Kopf.
»Aliza, wir teilen uns auf. Ich versuche, Engel aufzuhalten. Du alarmierst die Polizei. Wenn wir Glück haben, sind die nicht so korrumpiert wie deine SNS-Kollegen. Falls ich es nicht schaffe, Engel zu stoppen, müsst ihr ihn aufhalten.«
Aliza reicht Kanter ihre P9. »Hier, nimm die, damit kennst du dich besser aus als mit dem Ding vorhin, oder?« Kanter nickt. Sie werfen sich einen ernsten Blick zu.
»Viel Glück«, sagen beide gleichzeitig.
Dann laufen sie in unterschiedliche Richtungen auseinander.
Kanter kämpft sich durch die Menschenmassen auf der Ebertstraße. Die Menge wirkt wie ein Organismus, gleicht einem wilden Tier, das vor einer Naturkatastrophe flieht. Ein Teenager mit Zahnspange und verheulten Augen rempelt ihn an, von einem Mann bekommt er den Ellbogen in die Seite. Schließlich erreicht er die andere Straßenseite und taucht in die Gänge des Holocaust-Denkmals ein. Die ersten Stelen sind nur hüfthoch, doch schnell überragen sie ihn, und er ist von dunklem Beton umgeben. Die Stelen sind gleichmäßig in Reihen angeordnet, sodass er den Gang vor sich komplett sehen kann, bis
hin zum Lichtschein am Ende des Denkmals. Normalerweise halten sich hier Hunderte Touristen auf, gehen durch die Gänge, machen Selfies, klettern auf die Stelen und rufen Namen, da sie sich im Gewirr der gewaltigen Betonquader verloren haben. Heute ist Kanter allein. Außer seinen Schritten hört er nichts.
Etwa in der Mitte des Denkmals verringert er sein Tempo, geht nur noch zügig Richtung Osten, darauf bedacht, Engel nicht zu warnen. Er entsichert die P9. Hält zwischendurch inne und horcht. Doch er hört nichts außer dem immer leiser werdenden Durcheinander aus Schreien, Sirenen und Fahrzeugen aus der Richtung des Brandenburger Tors.
Am Ende des Ganges angekommen, schleicht er sich vor bis zur letzten Stele, die ihn noch überragt. Schaut vorsichtig um die Ecke. Er sieht das Zugangshäuschen des Informationszentrums, das heute verlassen zwischen den letzten Stelen des Denkmals am Ostende liegt. Links davon hatten sie immer gesessen, vor einer halben Ewigkeit, auf einer der flachen Stelen neben dem Häuschen. Dort hat er Engel vermutet. Doch er sieht keine Menschenseele.
Er unterdrückt einen Fluch. Er ist sich so sicher gewesen! Aber warum eigentlich? Engel kann im Umkreis von ein paar hundert Metern überall sein. Kevin hat gesagt, dass sich Engel in der Nähe aufhalten muss, um die manipulierten Drohnen zu steuern. Aber warum sollte er in einem Anflug von Nostalgie ausgerechnet dort Platz nehmen, wo Kanter und er früher Spanierinnen mit Zahnspange angebaggert haben?
»Hallo, Paul«, sagt eine Stimme hinter ihm. Engel. »Nicht bewegen, sonst leg ich dich um. Ich komme jetzt langsam näher.«
Kanter hört Schritte und spürt dann, wie ihm die P9 abgenommen wird. Engel schiebt ihn ein Stück von sich weg.
»Dreh dich um.«
Kanter macht einen Schritt nach vorne und dreht sich um. Und da steht er: sein alter Freund Stefan Engel. Er ist älter geworden. Das helle, fast weißblonde Haar sieht zwar noch so aus wie früher, graue Haare würde man darin nicht erkennen, aber um Engels blaue Augen herum sieht Kanter feine Fältchen. Genau wie um den Mund, dessen ernster Ausdruck sich dauerhaft in Engels Gesicht geschnitten hat. Trotzdem hätte Kanter ihn sofort wiedererkannt, auch wenn er ihn nur aus der Ferne in der U-Bahn gesehen hätte. Er ist ein ganzes Stück kleiner als Kanter, etwas dicker als früher, aber immer noch das kompakte Kraftpaket, das ihm vor so vielen Jahren gezeigt hat, wie man sich in Neukölln durchsetzt. Er trägt einen dunkelgrauen Overall und schwarze Sicherheitsschuhe. In seiner
rechten Hand hält er seine Waffe. Kanters Glock steckt er in eine Tasche seines Overalls.
»Stefan.«
»Paul.«
»Was … was ist mit dir passiert? Warum … warum das alles?«
»Es ist mein Job.«
»Es ist dein Job, Hunderte unschuldige Menschen zu töten?«
»Ach komm, Paul. Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer. Und unschuldig? Wer ist in dieser Welt eigentlich unschuldig, außer vielleicht die Kinder?«
»Die du auch tötest.«
»Stimmt. Kinder werden Erwachsene.«
»Scheiße, du bist ein Terrorist. Du bringst Menschen um, weil man dich dafür bezahlt. Nicht einmal … für irgendeine Sache.« Als würde das einen Unterschied machen.
»Nenn mich, wie du willst.« Stefan macht eine entschuldigende Geste mit den Händen. »Ich sehe mich als Dienstleister. Dienstleister im Krieg, im Krieg der Ideologien des 21. Jahrhunderts. Eine Art Regisseur. Ich spiele Theater. Ich bin ein Marketing-Mann. Unsere Lehrer wollten doch, dass wir etwas aus uns machen. Nicht jeder erbt einen schönen Kiosk von seinem Onkel.« Er grinst. »Weißt du, früher sind im Krieg Millionen draufgegangen. Es ging darum, Menschen zu töten, Infrastruktur zu zerstören, Fabriken, Militäranlagen, Nachschub. Heute geht es darum, in die Köpfe der Leute zu kommen. Ich muss überhaupt nichts mehr zerstören. Es reicht, den Menschen das Gefühl zu geben, dass ihre Welt zusammenbrechen könnte. Da reichen Nadelstiche.«
»Nadelstiche? Du nennst es Nadelstiche, Hunderte Menschen umzubringen?«
»Im Großen und Ganzen schon. Wie viele Menschen bringen denn die Amis, Russen, Chinesen mit ihren Armeen um? Zigtausende, Hunderttausende, um euren Wohlstand zu wahren. Was macht denn die Lebensmittelindustrie? Die Pharmaindustrie? Die nehmen viel mehr Menschenleben in Kauf, stopfen die Leute mit ihrem Dreck voll, beuten ihre Arbeiter aus. Denen geht es erst recht nur um Profite. Dagegen sind meine Dienstleistungen doch Kinderkram.«
»Und das Leid, was du den Einzelnen zufügst? Ist dir das völlig egal?«
»Leben ist Leiden.«
»Du bist ein Monster geworden.«
»Ja, das ist einfach, nicht wahr? Ich bin das Monster. Vielleicht ist das die nützlichste
Funktion, die ich für die Menschen erfülle. Ihr könnt mich als Monster sehen und mich fürchten. Dann müsst ihr nicht so genau hinschauen, wie sehr ihr selbst das Monster seid. Auf den ersten Blick bin ich es. Ich töte Menschen mit meinen Händen. Verbreite Terror. Leid. Während die guten Bürger in ihren Büros sitzen, eins Komma zwei Kinder bekommen und zweimal im Jahr in den Urlaub fahren. Sie denken, dass sie anständige Leute sind. Sie gehen zum Yoga. Schlagen ihre Kinder nicht. Sie sind gute Menschen. Doch in Wahrheit sind sie genauso Mörder wie ich. Mit dem Unterschied: Ich sehe das Blut an meinen Händen. Ich töte bewusst. Und ich habe mich dazu entschieden. Weil es ja einer machen muss. Sie hingegen machen es, weil sie faul und feige sind.«
Engel breitet die Arme aus, sieht sich um.
»Was glaubst du, wo all der Wohlstand herkommt? Was glaubst du, was mit den Afrikanern passiert, die seit Jahrzehnten versuchen, nach Europa zu kommen? Werden die freundlich gebeten, zu Hause zu bleiben? Nein. Ihre Schiffe werden an Häfen ausgesperrt, und man lässt sie ertrinken. Wir erschießen sie an der Grenze, wir manipulieren ihre Machtkämpfe, wir beuten ihre Erde aus, wir laden unseren Müll bei ihnen ab und ruinieren ihre Wirtschaft. Warum? Die guten Menschen denken, so ist es halt, die haben halt Pech gehabt im Leben. Sie sind betroffen und spenden zu Weihnachten an Ärzte ohne Grenzen
. Wir helfen doch, sagen sie. Aber den Rest des Jahres, mein Lieber, besudeln sie sich genauso mit Blut wie ich. Nicht für eine gute Sache oder zum bloßen Überleben, sondern damit sie ihren Lebensstandard beibehalten können. Sie tragen billige Klamotten aus Bangladesch, kaufen Bananendosen und Förmchen für ihre selbstgemachten Bio-Burger, einmal im Jahr ein neues Smartmind, und machen sich nicht einmal Gedanken darüber, dass diese Dinge mit Blut erkauft werden. Sie fressen Fleisch, aber sie wollen keine Tiere sterben sehen.«
»Das ist nicht das Gleiche«, sagt Kanter lahm.
»Nein, es ist sauberer, bequemer und verlogener. Aber erzähl mir nicht, dass es irgendwie besser wäre. Menschen zu töten, ist nicht so schwer, Paul. Die meisten Leute denken, man muss dazu ein Monster sein. Sie machen mich zum Monster, weil sie dann glauben können, dass ich ganz anders bin als sie. Aber das ist nicht so. Am wichtigsten ist, dass dir die Menschen egal sind, die du tötest. Du musst sie nicht mal hassen. Und wenn die Leute ehrlich wären, würden sie zugeben, dass ihnen von den neun Milliarden Menschen auf der Welt die meisten scheißegal sind. Das sagt natürlich keiner. Aber was denken die Leute denn bei einem Flugzeugabsturz? Zum Glück saß ich nicht in dem Flieger. Frauen und Kinder ertrinken seit Jahrzehnten im Mittelmeer? Warum steigen sie auch in solche klapprigen Boote? Kein Mensch schert sich um andere Menschen, außer um sich selbst und
die paar Leute, die ihm wirklich etwas bedeuten.«
Engel schaut vorsichtig über seine Schulter, an der Kante einer Stele vorbei. Dann dreht er sich zurück zu Kanter.
»Menschen töten ist natürlich eine unschöne Sache. Deshalb funktioniert mein Geschäft auch so gut. Meine Auftraggeber scheren sich einen Dreck um die Opfer meiner Anschläge. Aber sie wollen es ungern selbst erledigen. Wer tötet denn ein Tier selbst, um es zu essen? Nein, das lassen sie schön den Metzger machen. Und nichts anderes mache ich: Ich bin im Prinzip ein Metzger. Ich erledige die blutige Drecksarbeit für ganz normale Menschen, die mit Mord ihrer Sache Nachdruck verleihen möchten.«
»Aber …«
Kanter will widersprechen, doch bevor ihm eine Erwiderung einfällt, hört er ein Pfeifen und einen Schlag. Aus der Stele neben Engels Kopf fliegen Betonsplitter. Engel taucht ab, kurz bevor weitere Schüsse in die Stele einschlagen. Gleichzeitig hören sie eine Stimme über ein Megafon.
»Legen Sie die Waffe nieder und ergeben Sie sich!«
Engel wechselt seine Waffe in die linke Hand, hält sie noch immer auf Kanter gerichtet, holt mit rechts ein kleines Tablet aus seiner Jacke und ruft: »Keinen Schritt näher! Hören Sie auf zu schießen! Ich habe eine Geisel bei mir und zwanzig mit Sprengstoff beladene Drohnen in der Luft.« Zu Kanter sagt er: »Weißt du, mir ist nicht jeder Mensch egal. Ich habe einen Sohn, hier, in Deutschland. Er sitzt im Knast. Habe ich vor ein paar Monaten erst erfahren. Eigentlich wollte ich nie wieder nach Deutschland kommen. Aber man hat mich erpresst. Die SNS und ihre gottlosen Komplizen. Um meinen Sohn zu retten, bin ich hier. Das müsstest du doch verstehen können, oder?«
»Einen Sohn? Wie heißt er?«
»Jerome.«
Also hatte Aliza recht. Jerome Loheit ist Engels Sohn.
»Ja, das kann ich verstehen. Aber …« Kanter zögert. »Er ist tot, Stefan.«
Kanter hat nicht damit gerechnet, dass er Engel damit aus der Fassung bringen würde. Es verschlägt ihm trotzdem kurz die Sprache, bevor er sich wieder fängt.
»Etwas Besseres fällt dir nicht ein?«
»Es ist wahr. Ich weiß von deinem Deal mit der SNS, mit von Koblitz. Sie hat dich verarscht. Dein Sohn saß wegen Mordverdachts im Knast, richtig? Von Koblitz hat das
veranlasst.«
»Nein, sie hat nur davon erfahren und mich informiert.«
»Das ist ihre Geschichte. Aber in Wahrheit hat sie alles inszeniert. Sie hat ihn festnehmen lassen, den Verdacht gegen ihn konstruiert. Um dich hierherzubringen, für diesen Job. Und jetzt ist er tot. War ein komplett fertiger Junkie, dein Sohn, hat sie dir das auch erzählt? Hat sich in seiner Zelle die Pulsadern aufgeschnitten. Wahrscheinlich weil er dachte, dass er da eh nie wieder rauskommt. Weil er niemanden hatte in dieser Welt.«
»Doch, er hatte mich!«, bricht es gequält aus Engel hervor. »Ich bin doch hier!«
»Das hat er wahrscheinlich nie erfahren.« Kanter rückt etwas näher an Engel heran.
»Legen Sie Ihre Waffe nieder und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, tönt es erneut blechern aus einiger Entfernung.
»Ich habe den Bericht auf meinem Smartmind, Stefan.« Er greift in seine Jackentasche.
»Keine Bewegung.«
Kanter ignoriert Engels Befehl und zieht langsam sein Smartmind aus seiner Tasche. Er öffnet den Bericht über Jerome Loheit, den Aliza ihm geschickt hat. Er enthält ein Foto von der Verhaftung des Mannes. Die Ähnlichkeit mit Engel ist unverkennbar, auch wenn seine Wangen hohl sind und seine Augen leer in die Kamera starren.
»Nein«, entfährt es Engel. Er schlägt Kanter das Smartmind aus der Hand und hält ihm seine Waffe an den Kopf. »Das ist eine Lüge. Du versuchst, mich so billig fertigzumachen? Ich bin Profi. Das funktioniert nicht!«
»Es ist wahr.«
Engel lässt von Kanter ab, dreht sich fast hilfesuchend hin und her, die Augen Richtung Himmel gerichtet. Dann rutscht er mit dem Rücken an einer Stele herab.
»Die haben dich verarscht. Willst du Hunderte Menschen töten für nichts? Willst du, dass die Frau, die deinen Sohn auf dem Gewissen hat, und ihre Hintermänner von deiner Arbeit profitieren? Ruf die Drohnen zurück, Stefan.«
Engel ist zusammengesackt, hält den Kopf zwischen den Knien, reagiert nicht.
»Hörst du? Ruf die Drohnen zurück.«
Engel richtet sich auf, tippt ein paarmal kraftlos auf das Tablet und sackt wieder in sich zusammen.
»Rückflug eingeleitet«, sagt das Tablet.
Engel richtet sich wieder auf: »Weißt du, eins will ich dir noch sagen …« Weiter kommt er nicht. Zwei Schüsse knacken aus der Ferne, dann schlagen zwei Projektile in Engels Brust ein. Mit einem dumpfen Seufzen sackt Engel in sich zusammen.
»Nein!«, ruft Kanter.
Er hechtet zu Engel, beugt sich zu seinem ehemals besten Freund hinunter, fühlt am Hals den Puls. Nichts. Er ist tot.
»Keine Bewegung!«, schreit eine Stimme hinter Kanter. »Hinknien, Hände über den Kopf!«
Kanter starrt weiter auf den regungslosen Körper seines alten Freundes. Er weiß, dass dieser Mann schon lange nicht mehr der Kumpel ist, der ihn damals in Neukölln das Überleben gelehrt hat. Und dennoch überkommt ihn eine tiefe Trauer; vielleicht nicht so sehr über den Tod Stefan Engels, sondern über den Tod ihrer Träume, über die Vergänglichkeit der Zeit, über die bösen Mächte, die nicht aus der Hölle kommen, sondern direkt aus den Menschen selbst: Gier, Neid, Angst. Er betrauert die menschliche Existenz.
Dann geht er in die Knie. Kurz darauf packen ihn behandschuhte Hände, zwingen ihn auf den Boden und fesseln seine Hände hinter seinem Rücken.
»Paul Kanter?«
Kanter reagiert nicht.
»Sie sind festgenommen wegen des dringenden Verdachts, gemeinschaftlich eine terroristische Verschwörung geplant und durchgeführt zu haben.«