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Warum sie ihn nicht auch gleich aus dem Weg geräumt haben, als sie die Chance dazu hatten? Als sie Kanter ohne Weiteres als Mitverschwörer Engels mit dem finalen Rettungsschuss hätten erledigen können? Das ist Charlie zu verdanken. Noch während Kanter zusammen mit den Al-Farsis in Brandenburg das Camp der FB ausgehoben hat, hat sie zusammen mit ihrem Team das ganze Komplott auf allen Kanälen veröffentlicht. #einheitsgate bricht online alle Rekorde. Natürlich dementieren alle Beteiligten sofort, PAD, SNS, FB, Sunrise. Die Feierlichkeiten werden erst wie geplant durchgeführt. Doch der Zweifel ist gesät. Die Öffentlichkeit hat ein Auge auf die Sache, und als das Chaos am Brandenburger Tor losbricht, ist Charlie mit einer Kamera-Drohne selbst dabei, folgt Kanter und Aliza und beginnt, live zu streamen, als Kanter und Engel im Stelenfeld des Holocaust-Denkmals aufeinandertreffen.
In den Kommentarspalten überschlagen sich die Meinungen und Theorien, haben beide Seiten ihre Trolle, die versuchen, die Diskussion zu ihren Gunsten zu manipulieren. Die eine Seite hält beide Männer für Terroristen, die sich uneinig über den weiteren Fortgang geworden sind. Die andere Seite, die der Darstellung FAKE Medias glaubt, nennt Kanter einen Helden, der versucht, den Attentäter zu stoppen und Hunderte Menschenleben zu retten. Jemand bei der SNS ist schlau genug, die Gunst der Stunde zu nutzen und Engel auszuschalten, aber der Verlockung nicht nachzugeben, dasselbe mit Kanter zu machen. Zu viele haben live mitbekommen, dass er versucht hat, Engel aufzuhalten. Das rettet ihm das Leben. Doch es schützt ihn nicht davor, als Komplize Engels verhaftet zu werden.
Seitdem hat Charlie nichts mehr von ihm gesehen oder gehört. Sie sitzt im Safe House, umgeben von Dutzenden leeren Dosen Energydrink, verstreuten Schachteln veganem Fast Food und einem Heer an digitalen Geräten. Seit sechzig Stunden streamt sie fast nonstop, zusammen mit ihrem Team bei FAKE Media. Sie merken, wie die Stimmung kippt. Anfangs hatten sie einen Großteil der Öffentlichkeit auf ihrer Seite, hatte ihre Argumentation verfangen, dass es einfach zu viele Zufälle, zu viele Zusammenhänge zwischen dem Terror in Deutschland und den Kräften gab, die den Terror angeblich bekämpfen sollten. Immer, wenn auf deutschem Boden in den letzten Jahren ein Anschlag verübt wurde, haben die Behörden neue Befugnisse bekommen. Der Anschlag vor acht Jahren auf den Hauptbahnhof hat zur Gründung der SNS geführt. Schon damals hat es Theorien gegeben, dass dieser Anschlag keinen islamistischen Hintergrund hatte. Auch wenn man, oder gerade weil man alle Mitglieder der islamistischen Terrorzelle keine drei Tage danach bei der Festnahme erschossen hat. Das passierte einfach zu oft nach terroristischen Anschlägen.
Jetzt veröffentlicht Charlies Team alles, was es weiß. Über die Kontakte von Gabriele von Koblitz zu Stefan Engel. Über deren Versuch, Engel mit seinem Sohn als Druckmittel zur Ausführung des Anschlags zu bringen. Über die Verstrickungen von PAD und Sunrise, von SNS und FB. Das Video, das Spinner im Camp der FB aufgenommen hat, mit dem SNS-Mann Oskar Zöllner als Verbündeten der FB, hat eingeschlagen wie eine Bombe. Charlie zeichnet das komplette Bild der Verschwörung, die zum Ziel hat, die Demokratie in Deutschland, wieder einmal, abzuschaffen und ein autoritäres Regime einzuführen, mit dem rechten Vordenker der letzten Jahrzehnte, Cord Matuschek, als Bundeskanzler.
In den ersten Stunden nach den Ereignissen am Brandenburger Tor jedenfalls haben Charlie und ihr Team die Mehrheit auf ihrer Seite gehabt. Die Umfragewerte für die Volksabstimmung sind weiter zurückgegangen.
Der Tod des ersten PAD-Bundeskanzlers Johann Friedrich Wischnewski gibt viele Rätsel auf. Die staatstreuen Medien, Sunrise, die PAD stellen es als fehlgeleitete Drohne der Terroristen dar, die eigentlich in der Menschenmenge vor der Bühne explodieren sollte. Filmaufnahmen der Explosion verschwinden oder werden »aus Gründen der Pietät« zurückgehalten. Charlies Drohne hat die Explosion zwar aufgezeichnet, aber die Aufnahmen sind nicht eindeutig, zu weit weg, unscharf. Nur einige Augenzeugen berichten später, die Drohne habe sich sehr zielstrebig Richtung Podium herabgesenkt. Der kurzfristig als neuer Bundeskanzler eingesetzte Vizekanzler Cord Matuschek, der nach eigenem Bekunden »alles dafür geben würde, dieses Amt heute nicht annehmen zu müssen«, stellt in einem Interview am Tag nach dem Attentat die Frage, warum, wenn es nach den Unterstützern der Theorie einer Verschwörung von SNS, PAD et cetera gehen würde, diese dann ihren eigenen Kanzler umbringen würde? Auf die Nachfrage hin, wie lange er Kanzler sein wolle und ob und wann es Neuwahlen gäbe, antwortet er mit schwerem Blick: »In diesen traurigen Zeiten können und wollen wir nicht über solch zweitrangige Dinge wie meine politische Zukunft sprechen.«
Natürlich hat FAKE Media darauf hingewiesen, dass erst vor einem Jahr die Nachfolgeregelung der Kanzlerschaft zugunsten des Vizekanzlers geändert worden war. Charlie hatte sich damals gewundert, warum die vorherige Regelung, die seit der Gründung der Bundesrepublik funktioniert hatte, geändert wurde. Jetzt ergab alles Sinn. Matuschek und seine Komplizen hatten frühzeitig die Option vorbereitet, Wischnewski zu ersetzen, wenn es nötig oder nützlich wäre. Vielleicht war jetzt einfach die Zeit gekommen. Oder Wischnewski hatte einmal in seinem Leben Rückgrat bewiesen und sich der Verschwörung widersetzt. Wahrscheinlich würden sie es nie erfahren.
Drei Tage nach den Ereignissen am Brandenburger Tor wird Charlie frühmorgens aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Ihre Tablets, Smartminds und ihr Hauptrechner explodieren fast vor neuen Benachrichtigungen. Sarah, eine Mitarbeiterin ihres Redaktionsteams, schreibt ihr auf vier Kanälen, sie solle sofort Sunrise News checken. Da steht es in großen Lettern: »ISLAMISTISCHE TERRORZELLE VOM 3. OKTOBER GEFASST«. Und in der Unterzeile: »Alle Terroristen bei der Festnahme erschossen.«
»Fuck!«
Sie haben es wieder getan. Charlie überfliegt den Beitrag, obwohl sie es sich schon denken kann. Die fleißigen Ermittlungsbehörden haben die »Drahtzieher« des Anschlags vom 3. Oktober, bei dem Bundeskanzler Wischnewski und sieben weitere Menschen ums Leben kamen, gefasst. Die vier Täter widersetzten sich mit Waffengewalt gegen die Festnahme und wurden von einem SEK der SNS erschossen. Die Männer im Alter zwischen neunzehn und einundvierzig Jahren hätten sich in einer Moschee in der Perleberger Straße in Berlin-Moabit radikalisiert und von dort mit Unterstützung eines professionellen Terroristen-Duos den Anschlag geplant.
Charlie ist nicht überrascht. Es ist die gleiche Masche wie damals beim Hauptbahnhof. Man findet ein paar radikale Muslime. Entweder man unterstützt sie über Strohleute bei der Planung eines Anschlags und lässt sie dann hochgehen. Oder man schiebt ihnen, wie dieses Mal, einfach den ganzen Anschlag in die Schuhe, ohne dass sie irgendetwas damit zu tun hätten. Wichtig ist nur, dass sie nach der Festnahme nicht mehr aussagen können. Bei der Festnahme erschossen. Was für ein Zufall.
In den nächsten Stunden muss Charlie mitansehen, wie die Stimmung in der Bevölkerung nach und nach kippt. Sunrise feuert aus allen Rohren. Was zuvor nur Dementi und Behauptungen der schwer angeschlagenen Behörden waren, der SNS, der PAD und der FB, wird jetzt zur neuen Wahrheit: Der Anschlag sei ein weiterer Versuch islamistischer Terroristen, Deutschland zu destabilisieren. Und dieses Mal seien sie so weit gekommen wie nie zuvor. Hätten den Bundeskanzler heimtückisch ermordet. Nur dem schnellen und harten Einsatz der SNS sei es zu verdanken, dass nicht noch Hunderte Menschen bei dem Anschlag ums Leben kamen.
Die Köpfe der islamistischen Verschwörung seien zwei ehemalige Berufsverbrecher, Deutsche, Stefan E. und Paul K., die sich beide schon vor Jahrzehnten als Angehörige des Al-Farsi-Clans radikalisiert und über die Jahre Dutzende Anschläge gemeinsam verübt hätten. Überall auf der Welt. Diesen habe man nun das Handwerk legen können. E. sei bei dem Einsatz getötet worden, K. befinde sich im Gewahrsam der SNS.
Mit jeder Minute kommen mehr »Details« ans Licht. Gegen Mittag dann eine Meldung, die Charlie das Blut in den Adern gefrieren lässt: Einer der heute bei dem Zugriff getöteten Attentäter ist Fahrid L., ein hochrangiger Angehöriger des Al-Farsi-Clans, eines der mächtigsten Clans des Organisierten Verbrechens in Berlin. Zudem wurde bekannt, dass der Sprengstoff, mit dem Bundeskanzler Wischnewski ermordet wurde und der weitere Hunderte Menschen hätte töten sollen, ebenfalls vom Al-Farsi-Clan stammte.
Diese Hurensöhne. Laut den Behörden beweise dies eindeutig die Verbindung der Organisierten Kriminalität zu islamistischen Terroristen. Von besonderer Brisanz sei, dass der Al-Farsi-Clan die SNS unterwandert habe: Die Nichte des Clan-Chefs Mahmud Al-Farsi, Aliza Ehlers, sei über Jahre darauf vorbereitet worden, in den Rängen der Polizei aufzusteigen und schließlich in der SNS als Maulwurf zu dienen. Nach Aliza Ehlers werde gefahndet.
Charlie greift zu ihrem Smartmind, öffnet die Silent-App und ruft Aliza an.
Aliza Ehlers sitzt in einem Café in Beiruts Hipsterviertel Mar Mikhael und trinkt einen Flat White, als ihr Smartmind vibriert.
Sie nimmt ab. »Charlie.«
»Aliza, wo bist du? … Nein, warte, sag es nicht. Du musst abhauen, raus aus Berlin.«
»Ich bin in Sicherheit.«
»Weißt du, was hier los ist? Sie drehen die Geschichte so, dass du und Mahmud auch in das Attentat verwickelt wart. Dass der Sprengstoff von Mahmud stammt. Dass du seit Jahren die Behörden infiltrierst. Sie haben Fahrid bei den angeblich islamistischen Attentätern aus der Perleberger Straße gefunden.«
»Ist er …?«
»Ja.«
»Verdammt. Das ist gelogen. Fahrid wurde entführt, gestern. Am helllichten Tag in Neukölln. Meine Güte, der arme Fahrid.«
»Und du bist abgehauen?«
»Ja. Erst bin ich in einer Wohnung von Onkel Mahmud untergetaucht. Als Fahrid verschwunden ist, hielten wir es für besser, wenn ich das Land verlasse. Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis sie zu mir kommen würden. Onkel Mahmud hat mir einen neuen Pass und Flugtickets besorgt. Ich bin hier sicher.« Aliza schaut ernst in die Kamera ihres Smartminds. »Was ist mit dir? Werden sie nicht auch versuchen, dich und dein Team dranzukriegen?«
Charlie lacht bitter. »Das versuchen die seit Jahren. Aber solange sie uns nicht auch ein paar tote Araber in die Redaktionsräume legen, wird das nichts. Ich habe keine Verbindungen zu euch. FAKE Media ist nur ein Entertainment-News-Portal. Mir kann nichts passieren.«
»Hast du was von Paul gehört?«
»Nein, nichts. Den werden sie versuchen, so lange wie möglich von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Die ganze Welt hat gesehen, wie er festgenommen wurde. Einfach verschwinden lassen können sie ihn nicht. Zumindest bis zur Abstimmung morgen. Oder er erhängt sich zufällig in seiner Zelle.«
»Wir müssen ihm helfen.«
»Wir haben bereits Anwälte, die sich um seinen Verbleib kümmern. Bisher wird gemauert – ›nationale Sicherheit‹ – aber das können sie nicht ewig machen. Noch gibt es Gesetze, die uns vor der Willkür des Staates schützen.«
»Morgen vielleicht nicht mehr, wenn die Abstimmung durchgeht.«
»Stimmt. Und das wird sie.« Charlie nimmt einen Schluck aus einer alten Dose Energydrink und verzieht das Gesicht. »Wir schaffen es nicht, genug Leute auf unsere Seite zu bringen. Sunrise feuert aus allen Rohren. Und die Menschen da draußen haben zu viel Angst vorm schwarzen Mann. Die Story einer Verschwörung krimineller Islamisten sieht einfach perfekt aus. Da kommen wir nicht gegen an.«
»Also gewinnen sie. Matuschek, von Koblitz, die ganzen Verbrecher.«
»So sieht es aus. Aber wir geben nicht auf. Solange wir leben, können wir kämpfen. Lass den Kopf nicht hängen. Selbst wenn morgen die neuen Gesetze durchgehen, ein paar Monate haben wir noch, bis sie in Kraft treten. Tauch erst einmal unter, lass uns beobachten, wie sich die Dinge in den nächsten Tagen entwickeln. Dann sehen wir weiter. Und wir holen Kanter raus.«
Kanter sitzt in einer Zelle, irgendwo im Keller eines Regierungsgebäudes. Er bezweifelt, dass es sich um ein Gebäude handelt, von dem die Öffentlichkeit weiß. Die Männer und Frauen, die ihm Essen und Wasser bringen und ihn von der Zelle in den Verhörraum führen, tragen hellgraue Overalls ohne Kennzeichnung. Niemand redet mit ihm, abgesehen von dem Mann und der Frau in Anzügen von der Stange, die ihn in den letzten zwei Tagen mehrfach verhört haben. SNS. Sie wollen hören, wie der tote Engel und er das Attentat auf die Einheitsfeier geplant hätten. Wer die Hintermänner seien. Eine islamistische Verschwörung wollen sie Engel und ihm unterschieben. Schon klar.
Von dem, was sich draußen abspielt, erfährt Kanter nichts. Er darf mit niemandem kommunizieren, einen Anwalt bekommt er nicht, Nachrichten von draußen erfährt er auch nicht. Es ist, als wäre er von der Welt verschwunden. Er ist sich sicher, dass seine Leute draußen, Aliza, Charlie, Mahmud, keine Ahnung haben, was mit ihm passiert ist. Denken können sie es sich sicher. Doch nicht einmal Aliza wird die Möglichkeit haben, etwas über seinen Verbleib herauszufinden.
Kanter kann sich in etwa vorstellen, was draußen los ist. Zwei Geschichten prallen aufeinander. Da ist Charlie mit FAKE Media, die alles, was sie über die Verschwörung wissen, an die Öffentlichkeit gebracht hat. Sie wird nach und nach die Details ihrer Recherchen veröffentlichen, die Verbindungen zwischen der SNS, PAD, FB und Sunrise, den Versuch, mit dem fingierten Attentat die Volksabstimmung zu manipulieren. Den Zusammenhang mit dem Anschlag auf Olivia, die der Sache schon früher auf die Schliche gekommen ist. Olivia. Beim Gedanken an sie überkommt Kanter eine furchtbare Verzweiflung. Selbst wenn er hier rauskäme, selbst wenn sie es schafften, mit ihren Enthüllungen die korrupte PAD-Regierung zu stürzen – Olivia käme nie wieder. Doch unter seiner Verzweiflung bemerkt er eine zweite Regung. Sein Schmerz tröstet ihn. Er selbst ist nicht mehr wichtig. Sein Glück hat er live auf seinem Tablet sterben sehen. Was mit ihm passiert, ist egal. Solange es der Welt da draußen gelingt, sich richtig zu entscheiden. Das hatten sie vor der wahnsinnigen Fahrt zum Brandenburger Tor sogar besprochen: Wenn Kanter festgenommen wird oder stirbt, sollten die anderen keine Rücksicht auf sein Wohlergehen nehmen. Die Wahrheit ans Licht zu bringen, ist das Wichtigste.
Kanter sitzt in seiner Zelle und atmet durch. Er überlässt sich den Kräften, die da draußen wirken. Seine Arbeit ist getan. Und wenn er doch noch verschwindet, wenn sie ihn lautlos beseitigen oder ihn hier bis an sein Lebensende verrotten lassen, ist er auch damit einverstanden. Wenigstens hat er am Ende etwas getan, was nützlich war. Vielleicht hat die alte Yilmaz recht, und er ist doch ein guter Mensch.