Thomas von Bogen hielt die Augen geschlossen, ließ die Luft in sein Saxofon strömen, hörte, wie das Instrument den Impuls zum Schwingen brachte und die innige Melodie von Johann Sebastian Bachs Air in samtenem Klang wiedergab. Satt und warm erhoben sich die Töne des zweiten Satzes der Suite über das Kirchenschiff, verschmolzen mit dem Klangteppich, den Frieder an der Orgel ausbreitete, zogen an Wand- und Deckengemälden vorbei, schwangen sich auf zum reich verzierten, viersäuligen Hochaltar, umflossen vergoldeten Stuck und kehrten zurück zu den beiden Musikern auf der mit Fresken bemalten Empore.
Ein Gebet aus Musik.
Es war Toms Weise, mit dem Schmerz umzugehen, der in seinem Herzen wohnte, die Erinnerungen einzuhegen, die ihn noch immer heimsuchten. An dem Tag, da er seine frühgeborene Tochter im Arm gehalten, ihre ersten und zugleich letzten Atemzüge begleitet und weinend Abschied genommen hatte. An den zerstörerischen Betrug seiner Ehefrau, die zermürbende Scheidung, das Ende seines Traumes von einer eigenen Familie. An die Flutwelle traumatischer Erlebnisse, die anschließend über ihn hinweggerollt war, in den Jahren des großen Krieges.
Vor allem aber half ihm die Musik, sich weniger schuldig zu fühlen. Warum hatte er als angehender Arzt sein eigenes Kind nicht retten können? Hätte er sich nicht gegen diesen Krieg stellen müssen, statt ihn zu rechtfertigen? Hätte er die Propaganda nicht entlarven müssen, die den Kampf zu einer existenziellen Notwendigkeit aufgebläht hatte, wo die Triebfeder in Wirklichkeit doch der gierige Imperialismus der Mächtigen gewesen war? Hatte er erste Zweifel nicht beiseitegewischt, anstatt sich ehrlich mit ihnen auseinanderzusetzen?
Erst eine schwere Lungenkrankheit hatte ihn zum Umdenken gebracht. Und selbst da war er nicht heldenhaft für seine Überzeugung eingetreten, sondern hatte sich auf sein Landgut am Chiemsee zurückgezogen, um ganz gesund zu werden.
In den Feldlazaretten, im Kampf um das Leben der Soldaten, die versehrt und verwundet von der Front zu ihm gebracht worden waren, hatte er mit Gott gehadert, und, nachdem er endlich heimgekehrt war, seinen Glauben verloren gehabt. Und doch zog es ihn immer wieder hierher, fand er Trost beim Musizieren in der von kaltem Weihrauch geschwängerten Luft seiner Bogenhausener Taufkirche. Hier hatte er beschlossen, seine Fähigkeiten als Chirurg nicht nur den vermögenden Patienten seiner Privatpraxis anzubieten, sondern auch jenen zu helfen, die am Rande der Gesellschaft lebten.
Der letzte Ton verklang.
Er setzte sein Instrument ab und schöpfte Atem, hörte, wie Frieder die Registerzüge zurückschob, und öffnete die Augen.
Frieder räusperte sich und schloss das Notenheft. »Wir sollten hin und wieder in der Heiligen Messe spielen. Ich werde mit dem Pfarrer sprechen.« Er war Organist der Kirchengemeinde und Toms engster Freund.
»Abgesehen davon, dass kein Pfarrer in ganz Bayern in der Messe ein solch profanes Instrument wie ein Saxofon dulden würde«, Tom öffnete seinen Instrumentenkoffer, »möchte ich das gar nicht, Frieder. Wenn wir Nachtschwärmer mit Tanzmusik unterhalten, ist das etwas anderes. Da haben wir unseren Spaß. Aber das hier, das geht mir unter die Haut. Das kann ich nicht teilen, verstehst du?«
Frieder rutschte von der Orgelbank und nahm ein Buch mit Kirchenliedern von einem Stapel Orgelnoten, die auf einem kleinen Hocker lagen. »Für mich persönlich wäre es eine Freude, andere teilhaben zu lassen. Und in aller Öffentlichkeit für Gott zu spielen. Aber ich weiß, dass du es anders siehst.« Er grinste Tom an. »Morgen lassen wir jedenfalls die Wände im Simpl wackeln.«
»Darauf freue ich mich schon!« Tom war gern im Simplicissimus , dem Künstlerlokal in der Münchner Türkenstraße, um hin und wieder die dort auftretenden Dichter und Rezitatoren musikalisch zu begleiten. Auf eine Gage verzichtete er konsequent – seine Praxis warf genügend ab. Ihm ging es um die Freude an der Musik und die Unterstützung der Münchner Künstlerszene, die es in der bayerischen Metropole oftmals nicht leicht hatte. Sie agierte in einer Nische und weitgehend abseits des bürgerlichen und zahlungskräftigen Publikums.
»Es wird der Tag kommen, da lauschen alle gebannt einem Konzert mit Orgel und Saxofon«, prophezeite Frieder und setzte sich zurück an die Orgel.
»Spielst du weiter?«, fragte Tom, der sein Mundstück abgenommen hatte und es mit einem weichen Tuch trocken wischte.
»Noch eine gute Stunde, denke ich. Wenn mich der Pfarrer nicht rauswirft. Und du? Lässt den Tag in Ruhe ausklingen?«
Tom sah auf seine Armbanduhr. »Ich werde noch bei einem Patienten vorbeigehen, den ich vorgestern operiert habe.« Behutsam legte er sein Saxofon in den mit kobaltblauem Samt ausgeschlagenen Koffer und ließ die beiden Schlösser einrasten.
»Um diese Uhrzeit?« Frieder schüttelte den Kopf. »Du solltest dir eine Pause gönnen und nicht immer bis in die Nacht hinein arbeiten.«
»Die beiden Stunden mit dir hier waren für mich mehr Muße und Erholung als alles andere«, erwiderte Tom und nahm seinen Koffer. Als er Frieders zweifelndem Blick begegnete, lächelte er. »Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Gedanken um mich machst, mein Freund. Sei beruhigt. Ich weiß mit meinen Kräften umzugehen. Außerdem ist es erst kurz nach elf.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Frieder schlug das Notenbuch auf. Dann sah er noch einmal zu Tom. »Deine ersten Patienten kommen vor halb sieben am Morgen, die letzten oft noch um Mitternacht. Das wird dein Körper auf Dauer nicht goutieren.«
»Hab einen schönen Abend, Frieder.« Tom zog Mantel und Handschuhe an und nickte ihm freundschaftlich zu. »Wir sehen uns morgen.«
Die Orgel intonierte eine Motette, die Toms Weg von der Empore hinunter in den Eingangsbereich und weiter durch eine Seitentür hinaus in die kalte Novemberluft begleitete. Was sollte er mit Frieders Rat anfangen? Die Arbeit erfüllte seine Tage, die Musik seinen Geist. Mehr erwartete er nicht vom Leben. Nicht mehr.
Es schneite, als er durch die schmalen Kieswege des Friedhofs zum Grab seiner Eltern ging. Wann immer er in der Pfarrkirche musizierte, sah er bei ihnen vorbei. Sie waren noch vor dem großen Krieg bei einem Kutschenunglück umgekommen. Ein weiteres Stück seines Lebens, das ihm vor der Zeit genommen worden war.
Eine Weile blieb er vor der mit Efeu bewachsenen hellen Marmorstele stehen, auf denen ihre Namen und Lebensdaten eingraviert waren. Seine Mutter hatte ihn erst in ihren Vierzigern geboren, ein unerwartetes, spätes Elternglück, nachdem seine beiden Geschwister noch im Kindesalter an den Masern gestorben waren. Unvermittelt legte er eine Hand auf den vereisten kalten Stein, strich langsam über die glatte Oberfläche und versuchte, sich die Gesichter seiner Eltern vorzustellen. Es gelang ihm kaum. Manchmal standen sie ihm so lebhaft vor Augen, als habe er sich erst vor wenigen Tagen von ihnen verabschiedet. Heute aber blieb ihm die Erinnerung versagt.
Er hob den Blick zum Himmel, ließ ein paar der herabtanzenden, kalten Flocken auf seinem Gesicht schmelzen und machte sich auf den Weg nach Hause.
Elektrische Bogenlampen erhellten das Schneetreiben, als er an der Drachenburg vorbei in die Maria-Theresia-Straße einbog. Tom sah kurz hinauf, nahm beiläufig die vereinzelten Lichter in den symmetrischen Fensterreihen wahr und das Wiehern eines Pferdes. Nicht im Entferntesten erinnerte die noble Herberge für alleinstehende Beamtentöchter an eine mittelalterliche Burg. Warum der Volksmund sie wohl so getauft hatte?
Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und packte den Saxofonkoffer fester. Zu seiner Rechten breiteten sich die winterlichen Maximiliansanlagen aus und flankierten seinen Weg über die weiß schimmernde Straße in Richtung Friedensengel. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen.
Nur wenige Meter weiter drang ein tuckerndes Geräusch durch den Abend. Von fern nahm Tom den Lichtkegel einer Autodroschke wahr, der über Gartengitter, Büsche und Gehsteige huschte. Der Fahrer ließ drei Personen aussteigen, wendete und fuhr vorsichtig in Richtung Prinzregentenstraße davon.
Er war fast daheim, als helle weibliche Stimmen seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unwillkürlich hielt er inne und sah hinüber. Die jungen Damen unterhielten sich aufgeregt, zugleich drängten sie durch die Pforte des übernächsten Hauses. Die Witwe Gruber, deren vor langer Zeit verstorbener Gatte ein erfolgreicher Bankier gewesen war, hatte zwei ihrer zahlreichen Zimmer untervermietet. Vielleicht stand eine kleine Feier an.
Tom trat durch das fein geschwungene, weiß lackierte Gartentor in seinen großzügigen Vorgarten und ging ums Haus. Noch bevor er den Hausschlüssel aus seinem Mantel ziehen konnte, öffnete sich bereits die Tür.
»Herr Doktor!«, rief Elfi Eder, die gute Seele seines Hauses. »Gut, dass Sie endlich heimkommen! Ich habs Essen auf dem Tisch, und im Kamin brennt ein Feuer. Sie werden ja heut nimmer wegwollen.« Die Mittfünfzigerin verwechselte hin und wieder ihre Aufgabe als Haushälterin mit der einer Mutter.
»Doch, Fräulein Eder, ich muss noch einmal los.« Tom stieg die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. »Aber zuerst werde ich Ihre Kochkunst genießen.«
Als er an ihr vorbei in die große Empfangshalle trat, erntete er einen besorgten Blick. »Sie schauen net gut aus, Herr Doktor, wenn ich mir erlauben darf, so frei zu sprechen. Sie sollt’n besser auf sich achtgeben.«
Tom hatte sich angewöhnt, die zuweilen anstrengende Fürsorge zu ignorieren. So verzichtete er auch heute auf eine Antwort, stellte den Koffer mit dem Saxofon ab und zog seinen Mantel aus. Als wollte ihm die Vorsehung etwas weismachen, überfiel ihn in der wohligen Wärme tatsächlich eine ungewohnte Bettschwere. Bevor er noch einmal aufbrach, würde er einen starken Kaffee brauchen.
Vielleicht sollte er sich tatsächlich eine Pause gönnen, wenn auch nur für ein paar Tage. Skifahren in den Alpen? Frische, klare Bergluft, Sonne und im pulvrigen Schnee durch die verschneite Landschaft wedeln – die anstehenden Weihnachtstage waren für ihn ohnehin mit sehr viel Einsamkeit verbunden. Selbst Elfi Eder verbrachte diese Zeit bei ihrer Schwester in Landshut.
Er wandte sich einer breiten, verglasten Doppeltür zu, der Verbindung zu seinen Praxisräumen im Hochparterre.
»Denkens net einmal daran, in die Praxis zu gehen«, mahnte Elfi Eder, die ihn genau im Auge behielt. »Erst müssens was essen, Herr Doktor.«
Tom seufzte ergeben.
Dann würde er die Patientenakten für den Hausbesuch eben zum Nachtisch studieren.