Der Filmapparat, den Schwester Leodegar bediente, surrte leise und projizierte eine Zangengeburt auf die weiße Wand hinter dem Rednerpult. Professor Döderlein selbst stand am Aufgang zu den Rängen im Hörsaal und erläuterte sowohl die Umstände, die den Griff zur Zange notwendig machten, als auch die richtige Anwendung des Instruments.
Katharina unterdrückte ein Gähnen. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als Lola und sie die Observation Vogts erfolglos aufgegeben hatten und in ihre Betten gefallen waren. Ausgerechnet heute war der Geburtshilfliche Operationskurs bei Professor Döderlein von fünf Uhr nachmittags auf acht Uhr in der Früh verlegt worden, weil im Anschluss ein Zusatztermin in der Abteilung für Strahlenbehandlung angesetzt war. Der abgedunkelte Hörsaal tat sein Übriges. Katharina kämpfte mühsam gegen den Schlaf. Sie war heilfroh, als das Licht wieder anging und Döderlein an seinen Platz am Pult zurückkehrte.
Sie setzte sich aufrechter hin und richtete den Blick zur Tafel, auf der die unterschiedlichen Kindslagen notiert waren.
»Die Einschätzung der Lage des Kindes durch den Arzt oder die Hebamme ist entscheidend für die Sicherheit einer Geburt«, schwang Döderleins Stimme durch den Raum. »Davon hängen alle zu ergreifenden Maßnahmen ab.« Er rückte seine Brille zurecht und musterte seine Zuhörer. »Wie gehen Sie jeweils vor? Wir beginnen mit den Schädellagen.«
Die Vorschläge reichten von Abwarten über verschiedene Hilfsgriffe bis hin zur Gabe von Narkotika.
Döderlein nahm alles zur Kenntnis, lobte, hinterfragte, erläuterte, leitete dann zu den Beckenendlagen über. Seine Vorlesungen waren nicht nur von seiner starken Präsenz getragen, sondern auch von der Lebendigkeit seines Vortrags. Kein Student konnte sich den plastischen, teilweise dramatischen Schilderungen der zitierten Beispiele entziehen. Auch heute blieb die Atmosphäre im Hörsaal hoch konzentriert.
»Sie sehen«, resümierte der Professor. »Von der exakten Beobachtung und den richtigen Schlussfolgerungen hängen unter Umständen die Leben von Mutter und Kind ab. Und merken Sie sich: Mehr als fünfundneunzig Prozent der Kinder nehmen vor der Geburt von selbst die Schädellage und damit eine optimale Lage für die natürliche Entbindung ein.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Kommen wir zur letzten und absolut ungünstigsten Indikation: Die Querlage der Frucht. Ihre Einschätzung, bitte.«
Der Student neben Katharina meldete sich. »In der Regel kann das Kind ohne künstliche Hilfe nicht geboren werden.«
»So ist es. Was steht Ihnen an Möglichkeiten zur Verfügung?«
Katharina hob die Hand.
»Fräulein Lindner?«
»Ich würde eine innere oder kombinierte Wendung versuchen. Je nach Voraussetzung dreht man die Frucht in Schädellage oder in Fußlage. Dabei müssen die natürlichen Gegebenheiten beachtet werden, etwa die Größe des Kopfes des Kindes und sein Verhältnis zum Becken der Mutter. Besonderes Augenmerk muss auf die Herztöne des Ungeborenen gelegt werden, um Notlagen rechtzeitig festzustellen. Gelingt die Drehung nicht oder entsteht anderweitig eine bedrohliche Situation, muss im Zweifel eine operative Entbindung vorgenommen werden.«
»Allgemein gehalten, aber richtig.« Döderlein stieß sich vom Pult ab. »Lassen Sie uns zur Verdeutlichung die geburtshilflichen Notsituationen am Phantom simulieren und lösen.« Er wandte sich dem Untersuchungstisch zu, auf der ein Beckenphantom lag – eine künstliche Nachbildung der Geburtswege.
»Lassen Sie uns eine konkrete Situation nachstellen.« Er legte eine Säuglingspuppe in Querlage in das Beckenphantom ein. »Herr Mosny!«
Ein Kopf fuhr auf.
»Vorkommen!«
Es war nicht unüblich, dass Döderlein Studenten, die eine schlechte Leistung geboten hatten, eine zweite Möglichkeit gab, sich zu beweisen. Mosny schien das nicht zu goutieren. Mit mürrischer Miene erhob er sich und schlich gebeugt nach vorn. Katharina merkte, wie ihr seine unansehnliche Gestalt einen Knoten im Magen verursachte. Seit dem Ende der Weihnachtsferien drängte er sich ihr zunehmend auf. In den Vorlesungen versuchte er, in ihrer unmittelbaren Umgebung zu sitzen, streifte im Gedränge vor und nach den Veranstaltungen gerne wie zufällig ihren Körper, lächelte sie an, wenn er ihr auf den Korridoren begegnete. Im Kurs für Strahlenbehandlung letzte Woche war er kaum von ihrer Seite gewichen. Katharina hatte sich schließlich an einige Kommilitoninnen angeschlossen und das Universitätsgelände direkt im Anschluss an die Demonstrationen zur Hartfilterbestrahlung klimakterischer Zwischenblutungen und Myome der Gebärmutter verlassen.
»Nun, Herr Mosny!« Döderleins Stimme donnerte über die Anwesenden hinweg. »Zeigen Sie uns, dass Sie die letzten Wochen genutzt haben, um Wissen aufzuholen.«
Katharina lehnte sich zurück.
Mit hochrotem Kopf stand Edmund Mosny vor Döderlein und wartete auf seine Aufgabe. Der schlecht verheilte Schmiss auf seiner Wange schien zu pulsieren.
Der Professor deutete auf das Beckenphantom. »Die Geburt ist fortgeschritten, das Kind in Gefahr. Wie gehen Sie vor?«
»Mit einer Wendung hin zur Schädellage.«
»Richtig. Und dann?«
»Mit der Zange herausziehen.«
»Gut.« Döderlein machte eine auffordernde Geste. »Dann wenden Sie bitte das Kind und führen die Extraktion durch.«
Unter den wachsamen Augen seines Professors und der Aufmerksamkeit des Auditoriums gab sich Edmund Mosny alle Mühe, das Kind mittels Zange auf die Welt zu bringen. Als er es endlich auf den Tisch legte und zurücktrat, schüttelte Döderlein fassungslos den Kopf. »Herr Mosny, Herr Mosny.« Er legte die Hände auf das Phantombecken. »Das Kind ist tot. Die Mutter ist tot. Nun schlagen Sie mit dem Zangenlöffel auch noch den Vater tot, dann haben Sie eine ganze Familie ausgerottet.«
Edmund Mosny kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Döderlein versuchte, alle begangenen Fehler umfassend zu erklären und zu erläutern, welches die richtige Vorgehensweise gewesen wäre. Edmund Mosny ließ es regungslos über sich ergehen. Bevor er an seinen Platz zurückkehrte, heftete sich sein Blick auf Katharina. Schaudernd sah sie weg und tat, als wäre sie in ihr Heft vertieft.