21. Kapitel

Es war tief in der Nacht, als Tom sein Saxofon zurück in den Ständer stellte. Das Engagement fürs Schwabinger Brauhaus war er kurzfristig eingegangen – er und Frieder hatten die Kapelle ergänzt, weil zwei der Stammmusiker erkrankt waren. Nun freute er sich auf die Schweinshaxe, die der Wirt ihnen in Aussicht gestellt hatte. Frieder wechselte noch ein paar Worte mit dem Schlagzeuger und dem Kontrabassisten, deshalb machte sich Tom allein auf den Weg zur Bar. Ohnehin war es ihm lieber, zunächst ein paar Minuten Zeit für sich zu haben. Wenn er gespielt hatte, wollte er den Nachklang der Musik spüren, bevor er in die Wirklichkeit zurückkehrte.

Er suchte seinen Weg durch die Feiernden, die die Musik durch grölenden Gesang ersetzt hatten oder nach weiteren Zugaben riefen, ignorierte die auffordernden Blicke der einen oder anderen Faschingsprinzessin, bedankte sich, wenn ein Lob an sein Ohr drang, lehnte das Glas Champagner ab, das ihm hingehalten wurde. Um ungestörter voranzukommen, wich er an den Rand des Saals aus, wo weniger Betrieb zu sein schien.

Er musste einige Tische umrunden, auf denen die ersten Kostümierten mit dem Kopf auf dem Unterarm ihren Rausch ausschliefen. In Tom regte sich Ekel. Erreichten Feste dieses Stadium, war es für ihn eigentlich immer Zeit zu gehen.

Während er noch überlegte, sich gleich seinen Mantel geben zu lassen und zu Hause zu essen, fiel ihm eine junge Frau in Weiß auf. Sie trug eine schwarze Halbmaske und ließ ihre Finger um den Rand ihres Limonadenglases gleiten.

Als er sie erkannte, änderte er ohne nachzudenken seine Richtung.

»Fräulein Lindner?«

Sie sah überrascht auf. Im Kontrast mit dem schwarzen Satin der Maske strahlten ihre Augen, so, als habe ein Edelsteinschleifer sie zum Funkeln gebracht.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, schob Tom sofort nach, als er einen ablehnenden Ausdruck darin wahrnahm.

»Nein, nein …«, sagte sie nervös. »Sie … es ist nur …«

Sie wirkte verloren.

»Sind Sie allein hier?« Tom konnte kaum die Augen von ihr nehmen. Sie war geschminkt, von ihrem am Hinterkopf kunstvoll aufgesteckten hellen Haar legte sich ein hauchdünner Schal bis über den weiten Ausschnitt ihres Kleides.

»Nein.« Sie deutete zur Tanzfläche. »Irgendwo dort sind meine Freundinnen.«

»Gut.« Er wusste, dass er weitergehen sollte, konnte sich aber nicht dazu entschließen.

»War heute noch Betrieb in der Armenpraxis?«, erkundigte sie sich, bevor die Stille unangenehm wurde.

Ihre Frage nahm ihm die Entscheidung ab. »Ja, sogar recht viel. Die Frau mit dem Tuberkulosekind wird sich einer Heilbehandlung unterziehen.«

»Das ist eine gute Nachricht!«

»Allerdings.« Tom lächelte. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Sie nickte und deutete auf den Platz ihr gegenüber.

»Später haben die Nonnen mich gerufen, weil eines der Schulmädchen im Unterricht das Bewusstsein verloren hatte.«

»Die Schwestern Zum Guten Hirten

Tom nickte. »Sie betreiben im Kloster eine Mädchenschule.«

»Das wusste ich gar nicht.«

»Sie halten den Praxisbereich streng getrennt, und ich kann das gut verstehen. Es gibt einige Patienten, denen die jungen Damen lieber nicht begegnen sollten. Im Normalfall gibt es ja auch keine Berührungspunkte. Sie stellen lediglich den Raum.«

Katharina nickte. »Was war die Ursache für die Kreislaufschwäche?«

»Das Mädchen hatte eine Strafe bekommen. Der Essensentzug war für ihren Körper zu viel gewesen.«

Katharina merkte auf. »Das ist ja grausam.«

»In der Tat.«

»Können Sie denn nichts dagegen unternehmen?«

»Schwerli…« Eine Kellnerin beugte sich weit zu ihm hinunter und unterbrach das Gespräch. »Darf ich dem attraktivsten Musiker des Abends die Haxe bringen? Der Wirt lässt fragen.«

»Stört es Sie, wenn ich etwas esse?«, vergewisserte sich Tom.

»Nein. Natürlich nicht«, erwiderte Katharina und nahm die Halbmaske ab.

Ein zaghaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, dessen Ausdruck ihn an diesem Abend auf eigenartige Weise verängstigt anmutete. Tom wagte nicht zu fragen, ob sie etwas bedrückte.

»Ich kann die Methoden der Klosterfrauen nicht einfach anprangern«, knüpfte er stattdessen an ihr Gespräch an. »Aber ich werde wachsam sein.«

»Man sollte meinen, dass Kinder in einem Kloster gut aufgehoben sind.«

»Ein Trugschluss. Wo niemand hinsieht, gedeiht oftmals die Willkür.«

Die Kellnerin kehrte mit der Haxe und einem frisch gezapften Bier zurück. Tom ließ sich das Essen servieren, machte aber eine ablehnende Handbewegung, als die Kellnerin den Bierkrug danebenstellen wollte. »Nehmen Sie das Bier bitte wieder mit und bringen Sie mir ein Glas Limonade.«

»Kein Bier?« Die Kellnerin war fassungslos, nahm den Krug aber wieder auf. »Sie sind mir ja ein Faschingsnarr …« Kopfschüttelnd nahm sie die Maß und stellte sie vor einen Herrn am Nebentisch. Der prostete Tom überrascht zu.

»Trinken Sie nichts?«, fragte Katharina erstaunt.

»Nein.«

»Nie?«

»Ich habe nach dem Krieg zu viel getrunken. Das hätte einen meiner Patienten beinahe das Leben und mich meine Approbation gekostet. Seither rühre ich keinen Tropfen mehr an.«

Ihr Blick wurde weicher. »Ich mag Alkohol eigentlich auch nicht. Nur manchmal nehme ich ein Glas zum Anstoßen.«

Die Kellnerin kam mit der Limonade. »Aber net, dass Sie zu viel trinken davon, gell?«, spöttelte sie und rückte ihre ansehnliche Oberweite zurecht.

Tom hob das Glas, und Katharina folgte seiner Aufforderung mit einem breiten Lächeln. »Aber net, dass wir aus Versehen zu viel davon trinken …«, ahmte sie leise die Kellnerin nach.

Tom musste so lachen, dass er die Limonade verschüttete. Er grinste noch immer, als sie mit mattem Klirren anstießen und ihre Limonade genossen.

»Im Grunde«, stellte Katharina mit Blick auf ihr Glas fest, »schmeckt sie gar nicht so anders als Champagner. Prickelnd säuerlich und ein bisschen süß.«

»Und die Laune hebt sie auch«, ergänzte Tom schmunzelnd und betrachtete seine Haxe. »Möchten Sie etwas davon versuchen?«

»Gerne!« Ihr Blick war wieder gewohnt selbstbewusst, sogar etwas verschmitzt.

Tom ließ ein zweites Besteck bringen. Dann teilten sie sich das knusprig gebratene Fleisch.

Als sie die Servietten beiseitelegten, intonierte Frieder gerade ein ruhiges Jazzstück auf dem Klavier. Das Schlagzeug streichelte mit den Besen das Becken, der Kontrabass legte einen ruhigen Rhythmus darunter.

Tom fing Katharinas Blick. »Hast du Lust zu tanzen?«

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns nickte sie.

Seine Frage und der unerwartete Übergang zum Du hatten ihren Puls kurzzeitig aus dem Takt gebracht, Vernunft und Verlockung miteinander gerungen. Doch seine Ausstrahlung durchdrang ihr Gefühlsgewirr, seine gefühlvolle Kraft zerstreute ihre Bedenken.

Und als er sie auf der Tanzfläche in die Arme nahm, empfand sie es nicht als unangebracht, sondern vielmehr als einen behutsam eröffneten Raum, der nur ihnen beiden gehörte.

Sie wechselten noch einige scherzhafte Worte, lachten über die unbeholfenen Stolperer derjenigen Tänzer, denen die Alkoholseligkeit die Orientierung erschwerte, und ließen sich schließlich von der Musik davontragen. Dass sie irgendwann die Augen nicht mehr voneinander nehmen konnten, war genauso unausweichlich wie der Moment, an dem seine Lippen ihre Stirn berührten. Als er danach kurz innehielt und sie fragend ansah, lächelte sie, ließ zu, dass er sie näher an sich zog und mit dem Mund der Linie ihres Haaransatzes folgte.

Seine Zärtlichkeit war behutsam und leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Vor allem aber lag in ihr eine nie gekannte Geborgenheit.

Ein Gefühl so fremd, so mächtig.

So unglaublich schön.