»Auf ein Wort, Fräulein Lindner!«
Katharina, die gerade den großen Hörsaal verlassen wollte, hielt inne. »Professor Döderlein?«
»Warten Sie bitte hier auf mich.«
Katharina wunderte sich, setzte sich jedoch zurück in die erste Reihe. Während Döderlein noch einige Worte mit Schwester Leodegar wechselte und anschließend einigen Studenten Rede und Antwort stand, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch als sie sich umsah, fand sie nichts Auffälliges. Edmund Mosny war bereits gegangen.
Sie schüttelte den Kopf. Wenn es so weiterginge, würde sie noch einen Verfolgungswahn entwickeln.
Nachdem alle Studenten den Hörsaal verlassen hatten, winkte Döderlein Katharina zu sich ans Pult, stützte sich mit dem Ellenbogen darauf ab und musterte sie kurz. »Fräulein Lindner«, sagte er dann, und in dem Ton, den er anschlug, mischte sich Nachsichtigkeit mit Unverständnis. »Eigentlich halte ich Sie für eine vernünftige junge Frau. Umso erstaunter war ich, als mir zugetragen wurde, dass Sie in einer Praxis Kranke behandeln.« Er schüttelte den Kopf. »Noch haben Sie Ihr Studium nicht beendet.«
Katharina hatte das Gefühl, als durchlaufe sie ein Stromschlag.
»Hat Ihnen das Herr Mosny zugetragen?«
»Ich halte viel von Ihnen.« Döderlein ging auf ihre Frage nicht ein. »Gerade weil Sie in der Frauenheilkunde tätig werden möchten, ist mir daran gelegen, dass Sie Ihren vielversprechenden Weg fortsetzen. Bitte tun Sie nichts, was diesen gefährden könnte. Wir haben zu wenig weibliche Frauenärzte.«
»Ich arbeite in dieser Praxis lediglich zu«, versuchte Katharina sich an einer Verteidigung.
Döderlein hob die Hand. »Ich sehe keinen Straftatbestand, auch wenn Sie noch nicht fertig und approbiert sind. Deshalb lassen wir diese Sache auf sich beruhen, Fräulein Lindner. Aber Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie diese Arbeit, wie auch immer sie aussieht, nicht fortsetzen. Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Klinik in Verruf gerät – auf welche Art auch immer.« Er machte eine mahnende Handbewegung.
Katharina schluckte.
Die Armenpraxis war ihr ans Herz gewachsen. Auch die Zusammenarbeit mit Tom wollte sie nicht mehr missen – trotz der unerklärlichen Distanz, die im Augenblick zwischen ihnen bestand.
»Ich kann verstehen, dass es Ihnen unter Umständen schwerfällt«, ergänzte Döderlein. »Aber Sie werden im Herbst die Staatsprüfung hinter sich bringen und Ihre Kenntnisse im Praktischen Jahr umsetzen können. Mit den Vorbereitungen darauf sollten Ihre Tage ohnehin ausgelastet sein.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Professor«, sagte Katharina tonlos.
Döderlein sah sie aufmerksam an. »Ich verlasse mich darauf.«
»Das können Sie.«
»Denken Sie daran«, fügte er warnend an, »dass es Ihre Approbation gefährden kann, wenn Sie in irgendeiner Praxis Patienten behandeln. Sollte Ihnen ein Fehler unterlaufen, würde das weitreichende Folgen haben.«
Zehn Minuten später saß Katharina auf ihrem Fahrrad und schlug den Weg zu Toms Privatpraxis in Bogenhausen ein. Eigentlich musste sie zur Vorlesung im Pharmakologischen Institut, aber es drängte sie, ihm gleich Bescheid zu geben, dass sie fortan nicht mehr kommen könnte. Und dass er sich in Acht nehmen sollte, da es unter Umständen jemanden gab, der seinem Ruf Schaden zufügen wollte. Ein kalter, aber sonnenerfüllter Wind blies ihr ins Gesicht, als sie durch die Maximiliansanlagen radelte und unweit des Friedensengels auf die Maria-Theresia-Straße einbog.
Sie hatte Edmund Mosny nicht ernst genommen. Nicht, als er sie auf dem Faschingsball belästigt, und auch nicht, als er sie vorgestern unmittelbar bedroht hatte. Er war für sie einfach nur ein Student, der frustriert war, weil er die geforderte Leistung nicht erbrachte und dafür andere verantwortlich machte – am liebsten die Frauen, denen er die Studienplätze nicht gönnte. Nun war sie besorgt, dass er nicht nur mit ihr abrechnen wollte, sondern auch mit Tom, der sie in der Armenpraxis beschäftigt hatte.
In Toms Bogenhausen-Praxis herrschte Hochbetrieb. Da Fräulein Winter sie inzwischen kannte, schob sie sie zwischen zwei Patienten in eines der Sprechzimmer.
Katharinas Augen wanderten nervös über die helle Einrichtung, aus der ein großer Schreibtisch aus Nussbaumholz hervorstach, hinter dem sich auf mehreren Regalen medizinische Bücher und einige Anschauungsmodelle für die Wundversorgung reihten. Silberne Schreibutensilien und eine Lampe mit grünem Glasschirm gaben dem Arbeitsplatz eine persönliche Note. Als sie die Tür gehen hörte, drehte sie sich langsam um.
»Katharina!« War da ein Leuchten in seinen Augen? »Was führt dich her?« Er trat ans Waschbecken und wusch sich die Hände. »Wieder ein Fall von Tuberkulose«, fuhr er fort, ohne dass Katharina hatte antworten können. »Selbst in den besten Kreisen ist man nicht davor gefeit.«
»Tom.« Katharina fiel es schwer, auszusprechen, was sie zu sagen hatte.
Er trocknete die Hände ab. Sein fragender Blick ruhte mit einem Mal weich auf ihr.
Katharina senkte den Kopf. »Man hat mich angeschwärzt. Weil ich ohne Approbation bei dir in der Armenpraxis arbeite.«
Tom hatte sofort gemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie wirkte gehetzt und unruhig, etwas, das er von ihr nicht kannte.
»Angeschwärzt?«
Sie nickte.
Er ging zu ihr.
Sie wirkte auf einmal so zart, so verletzlich.
Seine Hände fanden den Weg auf ihre Schultern. Als er die Tränen in ihren Augen sah, zog er sie an sich.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie wieder und wieder.
Er merkte, wie sehr sie versuchte, sich zu beherrschen.
»Es ist gut«, antwortete er beruhigend. Zugleich fühlte er die Mauer einstürzen, die er um sich errichtet hatte, nachdem ihm klar geworden war, woher er Katharina kannte. »Es ist gut«, wiederholte er. Ihre Nähe ließ auch ihn zur Ruhe kommen.
Er hatte ihr brutales Leid angetan, damals, im Dezember neunzehnhundertsiebzehn. Und auch, wenn er in dieser Nacht im Meersburger Spital krank und nicht Herr seiner Sinne gewesen war, hatte sich sein Schuldgefühl diesbezüglich nie ganz verloren. So war er in den letzten beiden Tagen hin- und hergerissen gewesen, ob er der Anziehung, die zwischen ihnen herrschte, weiter nachgeben sollte.
Er spürte, wie sie sich an ihn lehnte, und nahm sie fester in die Arme. Vielleicht sollte es so sein, dass er ihr heute Halt geben konnte.
Im Gegensatz zu ihm schien sie ihn bislang nicht wiedererkannt zu haben. Damals hatte er allerdings einen ungepflegten Vollbart getragen, war ausgemergelt und von Krieg und Krankheit gezeichnet gewesen. Hatte er ihrer Schwester nicht seine Karte hinterlassen, als sie ihn in ihrem Lazarett am See gesund gepflegt hatte? In der Hoffnung, es eines Tages wiedergutmachen zu können?
Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren dunkel und aufgewühlt. Wie der Starnberger See bei Sturm.
»Steckt der Mistkerl dahinter, der dich vorgestern vom Fahrrad gestoßen hat?«, hakte er vorsichtig nach.
Katharina nickte. »Edmund Mosny heißt er. Er muss meinem Professor erzählt haben, dass ich bei dir arbeite. Jedenfalls hat Döderlein mich heute ausdrücklich gewarnt.«
»Weshalb hat dieser Mosny ein derart starkes Interesse daran, dir zu schaden?«
»Ich weiß es nicht.« Katharina seufzte. »Vermutlich habe ich ihn zu sehr in seiner Ehre gekränkt.« Sie erzählte ihm von einigen peinlichen Situationen, in die sich Mosny vor allen Studenten manövriert hatte, und auch davon, dass er ihr einige Male zu nah gekommen war. »Ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Aber er muss in einer schlagenden Verbindung sein«, schloss sie. »Er trägt einen wulstig vernarbten Schmiss auf der Wange.«
»Augenblick …« Tom kam ein Gedanke. »Er ist schmächtig, das ist mir auf der Straße aufgefallen. Allerdings habe ich sein Gesicht nicht richtig sehen können, weil er sofort davongerannt ist, als er mich hat kommen sehen. Ist er blässlich, mit dünnem rötlichem Bart und rotblonden Haaren?«
»Du kennst ihn?«
»So einer war letztens in meiner Praxis und gab vor, unter Durchfall zu leiden. Anhand des Schmisses war mir klar, dass es sich nicht um jemand wirklich Bedürftigen handelt, habe ihm aber dennoch ein Mittel mitgegeben. Zwischendurch hat er mich nach dir gefragt.« Tom fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Ich war überrascht, habe ihm aber dennoch gesagt, wann du das nächste Mal Dienst hast. Das war idiotisch von mir.«
»Du konntest ja nicht wissen, wer er ist und was er vorhat.«
»Eigentlich bin ich vorsichtiger.« Er suchte ihren Blick. »Katharina …« Er streichelte ihren Haaransatz, ihre Wangen, ihren Hals. Das zaghafte Lächeln, das sich auf ihrem gequälten Gesicht ausbreitete, ließ tiefe Zärtlichkeit in ihm aufsteigen. Er senkte den Kopf, atmete ihre Haut, hob ihr Kinn an.
Ein hektisches Klopfen an der Tür ließ ihn innehalten. »Herr Doktor?«
Mit Bedauern ließ Tom Katharina los. »Was gibt es denn, Fräulein Winter?«
»Der Herr Moser ist vom Baum gefallen. Es sieht schlimm aus.«
»Geh nur.« Katharina nickte ihm zu.
An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Mach dir keine Gedanken wegen dieses Mosnys.« Tom wollte nicht, dass sie sich weiter quälte. »Sollte mich jemand auf deine Tätigkeit hier ansprechen, werde ich klarstellen, dass du ausschließlich unter meiner Aufsicht gearbeitet hast. Zudem gilt im Deutschen Reich die Kurierfreiheit. So schnell kann man dich rechtlich nicht belangen.« Er schloss einen Moment die Augen. »Noch ein Wort, Katharina: Frau Stenzl werde ich zumindest vorerst nicht einstellen können. Zum einen wegen ihres Hintergrundes, vor allem aber, weil die Armenpraxis geschlossen wird.«
»Geschlossen?« Katharina wirkte schockiert. »Aber warum denn?«
»Den Nonnen erscheint die Sittlichkeit der von ihnen betreuten Mädchen durch die Besucher gefährdet.« Ihm entfuhr ein spöttischer Laut. »Der wahre Grund aber ist ein anderer. Als ich letztens einen ihrer erbarmungswürdigen Schützlinge behandeln musste, habe ich die Umstände gesehen, unter denen die Mädchen dort leben müssen.«
»Essensentzug als Strafe? Davon hattest du mir erzählt …«
»Das ist leider nicht alles. Die Toiletten dürfen nur vor den Essenszeiten genutzt werden, im Arbeitssaal müssen die Kinder stundenlang Hohlsäume für Priestergewänder anfertigen. Ich habe mir erlaubt anzusprechen, dass ich das Arbeitspensum für zu groß erachte und dass die Strafen die Gesundheit der Mädchen ernsthaft bedrohen. Was kann ein Kind denn anstellen, dass es den Karzer rechtfertigt?« Er drückte die Klinke. »Wir sehen uns morgen Abend, Katharina. Ich hole dich um halb acht ab.«