Katharina versuchte bei Verstand zu bleiben, während sie dem Kriminalbeamten über die klinisch sauberen Flure des Polizeipräsidiums folgte. Vor einer der unzähligen hellgrau lackierten Türen blieb er stehen und drückte, ohne anzuklopfen, die Klinke aus glänzendem Messing. Mit harschen Bewegungen zog er Hut und Mantel aus, wies sie an, an einem raumbeherrschenden Schreibtisch Platz zu nehmen, und öffnete die Verbindungstür zu einem Nebenzimmer. Durch den Türrahmen sah Katharina dort zwei weitere Beamte an ihren Schreibtischen sitzen. Einer davon sprang beflissentlich auf und übergab ihm eine Unterlage.
Mit der Aktenmappe unter dem Arm kehrte der Kommissar zurück, setzte sich Katharina gegenüber an seinen Schreibtisch und entnahm der Mappe einige eng mit dunklen Drucklettern beschriebene Papierbögen.
Die Anzeige? Ein Protokoll?
Das beklemmende Gefühl, welches Katharina seit der Autofahrt vom Universitätsklinikum zum Polizeipräsidium begleitete, verstärkte sich. Die abgestandene Geruchsmischung aus herber Rasierseife und kaltem Rauch im Zimmer erschwerte ihr das Atmen.
Sie richtete den Blick auf den Mann und die Aufzeichnungen in seinen kurzfingerigen Händen. Gleichzeitig zwang sie sich dazu, ihre schwirrenden Gedanken einzufangen und zu ordnen. Wenn sie dieses Gebäude heute noch als freier Mensch verlassen wollte, musste sie ihre Aufmerksamkeit bündeln.
Schließlich legte er die Blätter auf die Schreibtischplatte und faltete die Hände darüber. »Eine Abtreibung ist kein Kavaliersdelikt, Fräulein Lindner.«
»Ich habe keine Abtreibung vorgenommen«, erwiderte Katharina entschieden.
»Hier ist festgehalten, dass Sie in der Nacht auf den fünfundzwanzigsten Februar eine solche ausgeführt haben«, gab er in aktenneutralem Tonfall zurück. »Es wurden mehrere glaubwürdige Zeugen angegeben.«
»Es handelte sich um eine Totgeburt.« Katharina verschränkte die Hände in ihrem Schoß.
»Eine billige Ausrede.« Er seufzte übertrieben und zündete sich eine Zigarette an. »Was hat Sie denn angetrieben? Geldgier? Selbstüberschätzung? Oder die sogenannte Solidarität unter Frauen?« Er hob seine buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen, sodass sich die Stirn unter seinem kahlen Kopf runzelte. »Seit die Weiber zum Studieren gehen, verlieren sie allmählich die Bodenhaftung.«
Katharina biss sich auf die Lippen. Die Anzeige gegen sie schien ihm nicht ungelegen zu kommen, um die Gefährlichkeit von Frauen zu untermauern, die sich nicht in die vorgesehenen Bahnen pressen ließen. Die gestalten und teilhaben wollten.
»Allzu viel scheinen Sie dazu nicht zu sagen zu haben«, stellte der Kriminalkommissar fest und lehnte sich selbstgefällig zurück. Nebenbei verstreute er etwas Zigarettenasche auf seinem Jackett. »Aber vielleicht können Sie mir die Vorgänge dieser Nacht einmal genauer beschreiben. Aus Ihrer Sicht.«
Katharina ahnte, dass sie auf gefährliches Terrain geführt werden sollte. »Ich möchte mich gerne mit einem Anwalt besprechen.«
»Sie scheinen von Ihrer Unschuld nicht gerade überzeugt zu sein«, antwortete der Mann, und es klang höhnisch. »Aber gut.« Er griff zum Hörer des Telefons auf seinem Schreibtisch und wählte zwei Ziffern, während er die Zigarette zwischen seine Lippen schob. »Nummer neun soll kommen«, nuschelte er und griff nach einem Stift, um etwas auf den Blättern zu notieren, die noch immer vor ihm lagen. Dann legte er auf, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und schob die Papiere zurück in die Mappe.
»Ich muss Sie vorläufig festnehmen, Fräulein Lindner.«
Katharinas Herz setzte einen Schlag aus. »Aber … wieso denn?«
»Ich gehe von einer erheblichen Fluchtgefahr aus.«
»Bei mir?« Katharinas Hände wurden feucht. »Wohin sollte ich denn fliehen?«
»Das wissen Sie ja wohl besser als ich.«
Es klopfte.
»Herein!«
Ein Polizist betrat den Raum. »Sie haben nach mir rufen lassen, Herr Kommissar?«
»Wir haben einen Neuzugang«, erwiderte der Kommissar und machte eine Kinnbewegung zu Katharina hin. »Sie kommt nach Neudeck in Untersuchungshaft. Bitte veranlassen Sie alles.«
»Bestimmt lässt sich dieser Irrtum aufklären, ohne dass Sie mich festnehmen, Herr Kommissar«, wandte Katharina in zunehmender Panik ein. »Bitte!«
Ihr Gegenüber machte eine winkende Geste in Richtung der Tür. »Nehmen Sie sie mit«, brummte er verärgert.
»Jawohl, Herr Kommissar.«
Die Glocken der nahe gelegenen Frauenkirche schlugen drei Uhr, als der Polizist Katharina über Treppen und Korridore ins Unbekannte führte. Die Menschen, denen sie begegneten, wirkten geschäftig, hin und wieder fiel ein knappes Grußwort.
Sie passierten die große Eingangstür im Erdgeschoss. Dahinter lag die Freiheit, dachte Katharina. So nah und auf einmal so fern.
Nach ein paar Schritten wandte sich ihr Begleiter einer Steintreppe zu, die ins Untergeschoss führte. Stufe um Stufe nahmen nicht nur Dunkelheit und Kälte zu, sondern auch der Druck auf Katharinas Brust. Unheilvoll hallten ihrer beider Schritte von den kahlen Seitenwänden wider.
Sie betraten einen breiten, elektrisch ausgeleuchteten Gang. Dort wurde sie einem Wärter mit blauer Wolljacke übergeben, der sie durch eine Flucht schwerer Eisentüren hetzte. Scheinbar wahllos blieb er vor einer der Zellen stehen, schloss auf und schob sie wortlos hinein. Katharina zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr krachend zufiel. Das Rasseln des Schlüsselbundes von außen hatte etwas Endgültiges.
Sie trat an die klinkenlose Tür, legte beide Hände auf das Metall, ließ ihre Finger über die kühle Oberfläche wandern, als könnte sie einen Durchschlupf finden. Aber da war nichts außer unüberwindlicher Glätte.
Sie musste telefonieren. Ihrem Vater Bescheid geben. Und Lola. Und … Tom. Er würde heute Abend vergeblich auf sie warten.
Auf einmal stieg Wut in ihr auf. Was ermächtigte eine Behörde dazu, so mit unbescholtenen Bürgern umzugehen? Reichte eine willkürliche Anzeige tatsächlich aus, um eingesperrt zu werden?
Mit der flachen Hand schlug sie ein paarmal gegen die eiserne Barriere. Schließlich lehnte sie sich mit der Stirn gegen das kalte Bollwerk, das ihr die Freiheit genommen hatte, spürte Nässe auf ihren Wangen, sah die Tropfen, die nach und nach den grauen Steinboden sprenkelten.
»Das nützt alles nix«, sagte eine weibliche Stimme. »Die haben kein Mitleid.«
Mit einem Ruck drehte sich Katharina um.