Alle hatten sich zum Frühstück bei Rosina Gruber eingefunden. Lola, Eva, Zara, Nannerl. Gustav Lindner, Felix, Maxim und Pater Fidelis. Adam Burgert. Tom war noch im Krankenhaus, hatte aber versprochen, fest an sie zu denken.
Katharinas Nerven flatterten. Zweimal hatte sie den Kaffee verschüttet. Einmal war ihr die Marmeladesemmel auf den Teppich im Esszimmer gefallen – mit der klebrigen Seite nach unten. Ständig musste sie zur Toilette, so wie Nannerl, die blass und übernächtigt in ihrem Omelett stocherte. Zara achtete darauf, dass das Mädchen genügend aß, Frau Grubers Rosenkranz lag neben Nannerls Teller.
Adam hatte sich zu Katharina gesetzt und war mit ihr noch einmal die wichtigsten Punkte der heutigen Anhörung durchgegangen. Er würde sowohl sie als auch Nannerl vor den Untersuchungsrichter begleiten. Katharina war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen.
Auffällig zufrieden ließen sich dagegen Pater Fidelis, Maxim, Felix und ihr Vater das Frühstück schmecken. Die vier waren in den vergangenen Tagen viel unterwegs gewesen. Felix hatte sich mit Kollegen aus dem Nachrichtendienst getroffen, Pater Fidelis alte Jugendfreunde wiedergesehen. Maxim und Katharinas Vater hatten neben der Kunstausstellung im Glaspalast das Deutsche Museum besucht, und gestern schließlich das Müller’sche Volksbad in Augenschein genommen, um Lilly vom dortigen römisch-irischen Schwitzbad mit Freilufthof zu berichten. Katharina vermutete, dass es nicht lange dauern würde, bis der Lindenhof etwas Ähnliches vorzuweisen hatte.
Katharina selbst war rund um die Uhr bei Tom gewesen. Mit Erlaubnis des Professors durfte sie kommen und gehen, wie sie wollte, und Tom ging es täglich besser. Inzwischen stand bereits seine Entlassung im Raum.
Die Abende hatten sie gemeinsam bei Frau Gruber verbracht, Neuigkeiten ausgetauscht und das eine oder andere Kartenspiel gespielt. Elfi Eder war dabei fast immer mit von der Partie gewesen. Sie fühlte sich in Toms Haus recht allein und hatte sich darüber hinaus mit Rosina Gruber angefreundet. Regelmäßig hatte zudem Adam Burgert vorbeigesehen, um Nannerl auf ihre Zeugenbefragung und Katharina auf ihre Aussage vorzubereiten, die heute anstanden. Katharina hoffte, dass danach endlich alles vorbei war.
Sie nahm sich gerade eine Semmel, als das schrille Klingeln des Telefons sie zusammenzucken ließ. War etwas mit Tom?
Doch als Frau Gruber wiederkam, lag ein fröhliches Lachen auf ihrem Gesicht. »Ihre Schwestern sind dran, Fräulein Katharina! Ich glaub, die wollen Ihnen Glück wünschen!«
Katharina legte die Semmel auf ihren Teller und ging ans Telefon.
»Katharina!«, hörte sie Helenas Stimme, untermalt vom üblichen Knistern der Fernverbindung. »In Gedanken sind wir alle bei dir heute! Jetzt ist es bald geschafft!«
»Das hoffe ich!«
»Vater klang sehr zuversichtlich. Wir haben gestern mit ihm gesprochen. Er tauscht sich viel mit deinem Anwalt aus.«
Das hatte Katharina bereits vermutet. »Schade, dass ihr nicht hier seid«, merkte sie an.
»Im Hotel ist jedes Zimmer und jede Suite belegt. Wir konnten einfach nicht weg …« In der Leitung raschelte es. »Katharina?« Das war Lilly. Offensichtlich hatte sie Helena den Hörer abgenommen. »Wie schön, dich zu hören! Wir hoffen, dass unsere Männer uns würdig vertreten!«
Aller Anspannung zum Trotz musste Katharina lachen. »Keine Sorge, das tun sie. Außerdem scheinen sie ihren Ausflug hierher zu genießen.«
»Das hab ich mir schon gedacht.« Lilly kicherte, dann räusperte sie sich. »Lass uns heute Abend bitte wissen, wie es ausgegangen ist! Wir sind schrecklich aufgeregt!«
»Ich werde euch informieren, sobald ich etwas zu berichten habe.«
»Ach, Katharina, ich würde dich so gerne umarmen«, bekannte Lilly.
»Ich auch«, rief Helena von der Seite in den Hörer.
Katharina drängte das Beben zurück, das sich in ihre Stimme schleichen wollte. »Wir stellen uns die Umarmung einfach vor.«
»Einverstanden«, hörte sie Lilly sagen. »Aber eine richtig feste!«
Schließlich brachen sie auf: Adam Burgert, Katharina, Nannerl und Gustav Lindner. Die Fahrt in Adams Auto zum Amtsgericht verlief schweigend. Da Nannerl vor Aufregung stark zitterte, legte Katharina beruhigend den Arm um sie.
Auf dem Korridor vor dem Zimmer des Untersuchungsrichters trat Katharina von einem Bein auf das andere. Diese letzten Augenblicke waren die schlimmsten. Katharina fühlte den Arm ihres Vaters auf ihrem Rücken. Seine Berührung gab ihr Kraft.
Nannerl wurde als Erste aufgerufen. Zusammen mit Adam Burgert verschwand sie hinter einer hohen, grau gestrichenen Tür.
Mit jeder Minute, die verging, pochte Katharinas Herz härter gegen ihre Brust. Würde das Mädchen die Befragung durchstehen? Und was würde sie selbst erwarten?
Unmittelbar nebenan lag das Frauengefängnis. Katharina versuchte, die aufkommenden Erinnerungen beiseitezuschieben und sich auf ihre Anhörung zu konzentrieren. Es gelang leidlich.
Die Zeit dehnte sich zu einer Viertelstunde. Zu einer halben. Kurz bevor die Stunde voll war, öffnete sich endlich die Tür.
Als Nannerl über die Schwelle trat, waren ihre Augen gerötet, aber sie zitterte nicht mehr. Adam wirkte zufrieden. »Sie hat es gut gemacht«, sagte er leise.
Nannerl ließ sich von Katharina kurz umarmen, stellte sich dann aber an eines der großen Fenster des Korridors und sah hinaus. Erschöpfung sprach aus Körperhaltung und Mimik.
Es dauert noch einmal zehn Minuten, bis der Gerichtsbedienstete Katharina hereinbat.
»Bald ist es vorbei«, gab ihr Vater ihr leise mit auf den Weg. »In Gedanken bin ich bei dir dadrin.«
Katharina küsste ihn flüchtig auf die Wange.
Dann stand sie vor dem Untersuchungsrichter, einem ernsten Mann mit goldgeränderter Brille. Adam stellte sich an einen seitlich angeordneten Tisch. Die Stille, welche über dem Raum lag, wurde nur durch ein gelegentliches Rascheln unterbrochen.
Zunächst schien der Richter keine Notiz von ihnen zu nehmen. Konzentriert blätterte er in einem Stapel Papiere, der vor ihm lag. Endlich sah er auf. »Fräulein Katharina Lindner, geboren am vierten April neunzehnhunderteins?«
»Das bin ich, Herr Richter.«
Der Richter warf noch einmal einen Blick in seine Unterlagen. »Sie wurden von einem gewissen Edmund Mosny der gewerbsmäßigen Abtreibung beschuldigt. Diesen Vorwurf haben Sie zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft hat den Fall nun an das Gericht weitergegeben.«
Katharina presste ihre Hände ineinander. Die Anspannung war kaum mehr auszuhalten. Sie suchte Adams Blick. Der Anwalt nickte ihr vertrauensvoll zu.
Schließlich krauste der Richter die Stirn: »Ich habe Ihren Fall überprüft, Fräulein Lindner, und komme zu dem Schluss, dass die Beweislage für eine Anklageerhebung nicht ausreicht. Die von Herrn Mosny angeführten Zeugen haben ihre Aussagen zurückgezogen. Dazu kommt eine von Herrn Mosny unterzeichnete Erklärung, in welcher er einräumt, dass er die Vorwürfe gegen Sie frei erfunden hat. Zusammen mit der soeben aufgenommenen Aussage der betroffenen Patientin ist für das Gericht hinreichend belegt, dass Sie keine Abtreibungen vorgenommen haben.«
Katharina atmete aus.
»Die Anklageerhebung gegen Herrn Edmund Mosny wegen Falschaussage, Anstiftung zur Falschaussage und Erpressung wird gesondert geprüft. In diesem Fall würden Sie als Zeugin aufgerufen.« Er sah sie ausdruckslos an. »Damit ist Ihr Fall abgeschlossen. Alles Gute, Fräulein Lindner.«
Katharina brachte kein Wort heraus. Adam nahm seine Aktentasche und trat neben sie. »Wir danken Ihnen, Herr Richter.«
Der Albtraum war zu Ende.