Onoda und seine beiden Männer sind jeden Tag in Bewegung und hinterlassen nirgends die geringste Spur. Nur in der drei Monate andauernden Regenzeit können sie sich halbwegs in Sicherheit wiegen. Truppen werden wohl kaum in den sintflutartigen Regen der Taifunsaison ausgesandt, und Onoda errichtet für diese Zeit jeweils eine solide Unterkunft aus dünnen Stämmen, die den Boden der Hütte erhöhen. Seine Konstruktion ist immer im dichtesten und steilsten Dschungel aufgebaut und das Dach aus geflochtenen Palmzweigen nie vollständig, so dass die dem Tal zugewandte Seite immer halb offen bleibt, um etwa doch heranrückende Feinde in jedem Moment sichten zu können.
Ein Abflussgraben schützt die Unterkunft nach oben hin, dazu kommt eine Latrine außerhalb der Überdachung. Die Vorräte an Reis, grünen Kochbananen und geräuchertem Fleisch sind in einer Nische besonders geschützt. Diese Zeit wird von den dreien besonders geschätzt, es ist die Zeit verhaltener Sorglosigkeit. Die Ausrüstung wird repariert, der Schlaf ist ungestört, die Tage sind ohne Anstrengung. Nur einmal, nach Jahren, setzt die Regenzeit für mehr als drei Wochen aus, und ein feindlicher Trupp kommt dem Versteck gefährlich nahe, ohne es zu entdecken. Dann setzt der Regen wieder ein und dauert viele Wochen länger als sonst. In der Ungewissheit all der Tage, jeder Stunde, verschaffen Regelmäßigkeiten ein gebrechliches Gefühl von Sicherheit. Streit gibt es unter den Männern nahezu nur, wenn sich Ungewissheit über die Gemüter legt. Onoda lässt ihn aus Klugheit zu, bis sich der Zorn aufeinander von selbst wieder legt.
Die Regenzeit ist die Zeit des Geschichtenerzählens. Kozuka ist in sich verschlossen, seine Kameraden erfahren kaum etwas von ihm, von seiner Familie, von ihrem kleinen Schuhgeschäft, von seiner jungen Frau, die schwanger war, als er zum Wehrdienst eingezogen wurde. Er rätselt beständig, ob er Vater eines Jungen oder eines Mädchens ist, und es gelingt ihm nicht, sich vorzustellen, dass er Vater eines zehnjährigen Jungen oder eines zehnjährigen Mädchens sein könnte. Shimada ist offener, lacht gerne, erzählt von seinem Zuhause auf dem Bauernhof und weiß viel über den Umgang mit alltäglichem Gerät. Beide aber können nicht genug von Onodas Geschichten bekommen, von seiner Familie, von seiner Jugend. Auch nach gemeinsam verbrachten Jahren gehen diese Erzählungen nie aus, weil Onoda sich erst langsam auch für Details öffnet, die er zuvor nie erwähnt hat. Seine Kameraden wissen, dass er, seinem älteren Bruder nach China folgend, als ganz junger Mann bereits viel Geld mit einer Handelsniederlassung in Hankow verdient hat, aber erst nach mehr als zwei Jahrzehnten räumt er ein, als wäre dies die größte aller Peinlichkeiten, dass er im Alter von neunzehn Jahren Besitzer eines Studebaker gewesen sei, eines Wagens aus den USA. Der junge Onoda war der erste Mensch in China, der einen Studebaker fuhr.
Shimada ist neugierig. »Mochten die Mädchen den Wagen?«
Onoda denkt nach. »Sie mochten den Wagen mehr als mich.« Dann aber fügt er leise hinzu, dass eine der jungen Frauen ihn wohl doch sehr geliebt haben müsse, so sehr, dass sie, als er Verbindungen zu einer anderen einging, einen Selbstmordversuch unternommen habe. Er sei leichtfertig mit Frauen umgegangen, mit Gefühlen, aus seiner Sicht heute charakterlos. Wie er dann der prinzipientreue Soldat geworden sei, der jeden Augenblick, Tag und Nacht, bei Regen und Sonne, bei Angriffen und unter Verfolgungsdruck, unerschütterlich zu seiner Aufgabe gestanden habe, will Kozuka wissen. Onoda ist sich nicht sicher. Es habe wohl nach seiner Rückkehr nach Japan begonnen, besonders als er sich den Kampfsportarten zuwandte, vor allem sei wohl der Wendepunkt für ihn sein Training in Kendo gewesen, dem Fechten mit Stöcken. So habe er begonnen, den Geist Japans zu verstehen, und endgültig geöffnet seien ihm die Augen worden, als er dann der Armee beitrat. Kendo habe ihm aber gezeigt, dass alle kriegerischen Auseinandersetzungen auf das Essenzielle zurückgeführt werden sollten, zwei Mann, die nur mit Stöcken fechten.
Immer wieder kommen die Männer in ihren Gesprächen auf diesen Punkt. Wie sollte Krieg aussehen? Wie könnte man ihn reduzieren? So wie sie ihren Krieg führen, ohne Armee, ohne Kanonen, Schlachtschiffe und Flugzeuge mit Bomben? Was aber ist mit ihren Feuerwaffen, den Armeegewehren, die sie benutzen? Von seinem Unterricht in besonderer Kriegführung her weiß Onoda, dass es eine Zeit gab, in der die in Japan schon weit verbreiteten Feuerwaffen fast über Nacht aufgegeben wurden. Dies ist sein Lieblingsthema, unerschöpflich für ihn. Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, ohne dass es irgendwelche formellen Beschlüsse gegeben habe, hätten die Samurai ihre Feuerwaffen aufgegeben, ab da herrschte wieder nur noch der Krieg Mann gegen Mann mit Schwertern, dazu allenfalls Pfeil und Bogen und Lanzen, weiter nichts. Begonnen habe das 1603 in einer großen Schlacht, in der nur noch sechsundzwanzig Mann Feuerwaffen benutzten. Shimada wendet ein, dass also doch Feuerwaffen zum Einsatz kamen, aber Onoda weist darauf hin, dass bei einer großen Feldschlacht, etwa zehn Jahre zuvor, hundertachtzigtausend Krieger allein auf einer der beiden Seiten gekämpft hätten, das sei durch Dokumente belegt. Von dieser einen Armee sei ein Drittel mit Feuerwaffen ausgerüstet gewesen, also etwa sechzigtausend Mann. Wie viele ihre Gegner benutzt hätten, wisse man nicht mit solcher Genauigkeit, aber es sei anzunehmen, dass insgesamt über hunderttausend Musketen benutzt worden seien, dazu Kanonen und Feldschlangen. Die gerade einmal sechsundzwanzig Musketen zehn Jahre später bedeuteten die nahezu völlige Auslöschung von Feuerwaffen. Was aber sei danach geschehen, will Shimada wissen. Die Feuerwaffen kamen zurück, sagt Onoda. Wie lange der Zustand ohne Gewehre gedauert habe, wisse man nicht genau. Nach und nach seien sie wiedergekommen.
»Manchmal«, sagt Onoda, »glaube ich, dass diesen Waffen etwas angeboren ist, das vom Menschen nicht mehr zu beeinflussen ist. Haben sie ein Eigenleben, sobald sie erfunden sind? Und hat der Krieg selbst nicht auch eine Art Eigenleben? Träumt der Krieg von sich selbst?« Und dann, nach langer Versunkenheit in seine Gedanken, sagt Onoda noch einmal etwas, das er nur mit großer Vorsicht, als wäre der Gedanke ein im Feuer erhitztes glühendes Stück Eisen, zu äußern wagt: »Könnte es sein, dass ich diesen Krieg nur träume? Könnte es sein, dass ich verwundet in einem Lazarett liege und schließlich nach Jahren aus einer Bewusstlosigkeit aufwache, und jemand sagt mir, es war nur ein Traum. Ist dieser Urwald ein Traum, der Regen, alles. Ist die Insel Lubang nur ein Gebilde der Fantasie, die es nur auf erfundenen Seekarten von frühen Entdeckern gibt, auf denen Monster das Meer bewohnen und Menschen die Köpfe von Hunden und Drachen haben?«
So vergehen die Tage. Der Regen hämmert auf den Unterstand. Wasser schwemmt von weiter oben kommend Laub, Erde, abgerissene Zweige die Hänge herab. Wenn der Regen nachlässt, überprüfen die Männer ihre Munition, die aufrecht im Palmöl in Gläsern für Marmelade und Früchte lagert, bessern ihre Stiefel und ihre Uniformen aus, die nur noch vage an Uniformen erinnern. Die Männer kochen und essen und schlafen, und schlafen und essen und kochen während der formlosen grauen Tage mit ihren Wasserströmen aus den Wolken, im Nebel, in der dampfenden Teilnahmslosigkeit der Natur. Jährlich holt Onoda sein Familienschwert aus seinem Versteck, säubert es und ölt es mit größter Sorgfalt. Auch wenn er in Fieberträumen leben sollte, dies ist sein greifbarster Anhaltspunkt für etwas, das nicht erfunden sein kann, wie ein Anker, ausgeworfen in eine ferne Wirklichkeit.
Dann aber drängt sich die Wirklichkeit der Welt wieder greifbar auf. Kozuka ist krank, hat Blut im Urin und bekommt von Shimada eine Brühe von Kräutern aus dem Urwald. Sie bessert seinen Zustand nicht. Kozuka hasst plötzlich alles, den Urwald, den Regen, den Krieg, die Brühe, aber er nimmt sie zu sich, ohne Überzeugung. Wirklich scheint auch die Munition zu sein, nicht die Gewehrkugeln selbst, sondern die Zahlen, obwohl die Zahlen nicht anfassbar sind. Beim Reinigen und Umschichten in frisches Palmöl macht Onoda jährlich Inventur. Er benutzt dazu Holzstöckchen, die er auf dem Boden auslegt und bewegt, in einem System, das er selbst erfunden hat, das eine Art privater Abakus ist, mit dem er auch den Kalender errechnet. Von der Gewehrmunition sind zweitausendsechshundert Patronen übrig, was einem Durchschnitt von vierzig verbrauchten Patronen pro Jahr entspricht. Aber trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gibt es Anzeichen von Oxidation, und in den letzten Jahren haben einige Patronen nicht gezündet. Theoretisch sollte die Munition für über sechzig Jahre Fortsetzung des Krieges ausreichen, aber Onoda dringt darauf, besonnen mit dem Abfeuern der Gewehre umzugehen. Was, wenn der Gegner auf einmal eine große Attacke gegen sie beginnen sollte? Was, wenn ein Teil ihrer verstreut versteckten Munition vom Feind entdeckt würde? Wie alt würde er, Onoda, dann sein, wenn er seine letzte Kugel verbraucht hätte?