Onoda, für zwei Jahre oder Augenblicke von jetzt an, ist ein sich bewegender Teil des Dschungels. Als er einmal gewahr wird, dass er einem kleinen Trupp eilig vorrückender Soldaten der philippinischen Armee nicht mehr ausweichen kann, gräbt er sich hastig unters Laub, wirft im letzten Moment noch Blätter über sich. In seiner Eile tritt ihm ein Nachzügler des Trupps auf die Hand, ohne ihn zu bemerken.
Ein Lagerfeuer. Zikaden. Moskitos. Regen, Regen. Onoda ist ganz in sich gekehrt. Er bricht hastig Muscheln von Felsen an der schroffen Westküste. Er macht Feuer wie die Waldarbeiter, hinterlässt keine Spuren. Er glaubt, vergessen zu sein, doch dann sieht er eines Tages einige Männer unterhalb des Looc-Aussichtspunkts. Einer trägt einen Lautsprecher wie einen Rucksack auf der Schulter, das Gesicht nicht zu erkennen, während er nach weiter unten wegschreitet. Die Stimme ruft auf Japanisch: »Ich bin dein Bruder, ich bin dein Bruder. Ich bin Toishi, dein Bruder.«
Für einen Moment erstarrt Onoda.
»Hiroo, mein Bruder«, ruft die Stimme, »höre auf mich.«
Onoda scheint fühllos, wie im Inneren aus Stein. Was undenkbar ist, kann nicht sein.
»Komm heraus, mein Bruder, komm heraus, komm heraus. Komm heraus.« Die Stimme bewegt sich fort, ist kaum mehr zu hören.
Onoda strengt alles in sich an, sie weiter zu verstehen.
»Ich singe jetzt ein Lied«, ruft die ferne Stimme, »Hiroo, mein Bruder, erinnerst du dich an das Lied, das wir zur Kirschblüte gesungen haben?«
Onoda vernimmt nur den Beginn des Liedes, dann atmet der Dschungel ein und saugt die Stimme auf.
»Die Blütenblätter sinken, es sind die Seelen der Gefallenen, sie schweben …«
Was war das? War das wirklich sein Bruder, oder eine dunstige Chimäre? Onoda kann das Ereignis nicht in die Konstruktionen seiner Überzeugung einordnen. Er muss mit dem Widerspruch leben. Falls das wirklich sein Bruder war, warum hört er dann seine Stimme über Wochen hinweg an vielen Orten der Insel. Die Antwort darauf ergreift immer stärker von ihm Besitz: Wenn dies sein Bruder mit einem Suchtrupp war, dann hat er ihm zu verstehen gegeben, in einem heimlichen Code sozusagen, dass dieser Trupp in Wirklichkeit die Aufgabe hatte, Lubang in allen seinen Winkeln zu erforschen, um die Topographie im Detail zu erfassen, um bessere Karten für die bevorstehende Rückkehr der kaiserlichen Armee anzufertigen. Die Wirklichkeit ist mit versteckten Codes ausgestattet, oder Codes sind mit Wirklichkeit angereichert, wie Adern von Erz im Gestein.
Von hier an bleibt die Zeit wochenlang stehen. Oder besser, sie bleibt nicht stehen, sie findet nicht mehr statt. Dann hastet sie, überspringt Wochen, Monate, weil ein einziger Windhauch die Blätter gekräuselt hat. Onoda bewegt sich wie ein Schlafwandler, aber selbst das ist nur ein Trugbild von ihm. In ihm sind zwei Naturen. Onoda bewegt sich hellwach, sieht alles, hört alles. Er ist immer auf alles gefasst. Aber er darf nicht einfach Dschungel sein, einfach ein Stück Natur. Er hat die Bevölkerung von Lubang an seine Aufgabe zu erinnern, er tritt in der nördlichen Ebene beim Ort Lubang ins Freie und feuert Schuss um Schuss ins Leere. Niemand ist da. Er muss keine Vorräte an sich nehmen. Man wird ihn hören.