ZWÖLFTES KAPITEL

Manchmal war es gut, ein Niemand zu sein. Großartig sogar. Tymur verstand nicht, warum er das nicht schon längst ausprobiert hatte. Jetzt war Tymur nur noch Tym, und er genoss es mehr, als er erwartet hatte. Natürlich, niemand verneigte sich vor ihm, niemand gehorchte ihm, nur weil er ein Prinz war – andererseits war es auch ganz entspannend, einmal nicht für alles verantwortlich zu sein. Zwar neidete Tymur Lorcan, wie die Leute zu ihm aufschauten, ihrem großen Helden, doch solange er sich nicht für alle Zeit damit begnügen musste, nur ein Gesicht in der Masse zu sein, wollte er das Beste daraus machen.

Tymur tröstete sich damit, dass Lorcan es mehr hasste, der Größte sein zu müssen, als es ihn selbst wurmte, dies nicht mehr zu sein. Alle Augen waren auf Lorcan gerichtet, Tag und Nacht wollte jemand etwas von ihm, jeder brauchte ihn, jeder wollte seine weisen Worte hören … Lorcan war so unendlich geduldig, dass er das mit sich machen ließ, aber wenn sie einmal Neraval erreicht hatten, würde er so erleichtert wie nur etwas das Ruder wieder an Tymur übergeben. Bis dahin genoss Tymur sein Leben als Niemand. Wenn er wollte, konnte er verschwinden, kein Mensch würde ihn vermissen – und genau das hatte er jetzt vor.

Tymur wartete noch, bis sie das nächste Dorf erreicht hatten, Lorcan erfolgreich sein Sprüchlein aufgesagt hatte und der andere Morgen gekommen war. Dann versammelte er seine Gefährten um sich, damit zumindest die drei wussten, was aus ihm geworden war. »Da seid ihr ja!«, sagte Tymur und lächelte. »Merkt euch mein Gesicht, denn für die nächste Zeit werdet ihr nicht mehr viel davon sehen.« Er zwinkerte Kev zu, damit der sich gebührend darüber freuen konnte.

Und der war natürlich auch der Erste, der dem Braten nicht traute. »Was hast du vor?«

Tymur räkelte sich. »Der Trupp kommt gut voran«, sagte er. »Ungefähr im Tempo einer Nacktschnecke, aber er kommt voran. Bis zum Herbst oder so hat er Neraval erreicht. Vielleicht auch etwas früher.«

»So ist das nun einmal«, erwiderte Lorcan. »Es war deine Idee, und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich langsam bin –«

Tymur winkte ab. »Langsam zwar, doch unaufhaltsam!« Er lachte. »Es soll mir ganz recht sein. Ihr kennt mich als ungeduldigen Burschen, ich gebe es gern zu, aber niemand erwartet, dass eine Revolution in gestrecktem Galopp über das Land fegt. Unser Ruf eilt uns voraus, und wie die Dörfer schon vor unserer Ankunft längst von uns gehört haben werden, so wissen natürlich auch die Dämonen in der Burg meiner Väter von unserem Marsch. Sie wissen aber auch, dass sie uns nicht zu fürchten brauchen. Sie lassen uns herankommen, neugierig, was wir vorhaben. Angst haben sie keine, und solange wir ihnen ein bisschen Unterhaltung bieten, werden sie nichts unternehmen, um uns aufzuhalten. Aber das Lachen wird ihnen noch vergehen!«

»Schön«, sagte Kev. »Du hast eine Rede gehalten. Kann ich mich jetzt noch mal hinlegen?«

»Du hattest gefragt, was ich vorhabe.« Tymur grinste. »Willst du es nicht wissen?«

»Nicht, wenn du nicht zur Sache kommst.« Kev verzog das Gesicht. Er sah verkatert aus. Sollte er sich freuen über die Revolution, diesen Haufen Bauern, die ihr Wirtshaus hatten zurücklassen müssen und die doch wussten, dass man nüchtern nicht schlafen gehen durfte!

»Ich gehe nach Neraval«, sagte Tymur. »Zur Hauptstadt und wieder zurück. Bis ich wieder hier bin, ist die Truppe vielleicht ein paar Grafschaften weiter und prachtvoll angewachsen, dafür braucht ihr mich nicht. Auf magischem Weg kommen wir nicht nach Neraval und nicht an Eissilber, und zumindest wir vier wissen, wie dringend wir das nötig haben – also kümmere ich mich darum.«

»Du gehst nach Neraval«, wiederholte Kev.

»Genauer: Ich reite«, antwortete Tymur. »Ich werde immer noch ein Weilchen unterwegs sein, aber dank Enidins Zauber wird niemand wissen, wo ich bin, ich hinterlasse keine Spuren …« Er sah, wie sich Kev auf die Lippen biss, es arbeitete in dem Burschen – wollte er wirklich protestieren, dass ihm das Objekt seiner Rache davonlief? »Ich komme wieder«, setzte Tymur hinzu. »Versprochen.«

»Das – das ist eine gute Idee.« Enid nickte. »Es tut mir leid, dass ich Euch nicht hinbringen kann. Hilft es Euch, wenn ich Euch zumindest so weit in Richtung Neraval portiere, wie ich dazu noch in der Lage bin?«

Tymur schüttelte den Kopf. »Magie ist nicht für den Faulen, der zu bequem ist, sich die Füße schmutzig zu machen«, sagte er. »Das hat mir einmal eine sehr weise Person gesagt. Spätestens den Rückweg müsste ich ohnehin selbst bewältigen. Ich bin ein guter Reiter. Auf dem Weg nach Ailadredan konnte ich das nicht zeigen. Aber wenn man mich lässt –«

»Ich komme mit«, sagte Kev.

Tymur lachte. Man musste es dem Burschen lassen, manchmal machte er gute Witze.

»Ich komme mit«, wiederholte Kev, und leiser: »Es ist mir ernst.«

»Und mir«, erwiderte Tymur, »ist es ernst, dass ich allein reite.«

»Das glaube ich dir.« Kev verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das irgendwie mehr Zähne hatte als früher. »Nur werde ich das nicht zulassen. Du magst hier den Anständigen spielen, Tym, aber wir kennen dich.«

Tymur verdrehte die Augen. »Das hier ist etwas ganz anderes. Früher habe ich nur an mich gedacht, diesmal geht es um uns alle. Ich sorge dafür, dass wir das dringend benötigte Eissilber bekommen. Dagegen kannst nicht einmal du etwas sagen.«

»Ich sage auch nichts dagegen«, entgegnete Kev ruhig. »Ich sage nur, dass ich mitkomme. Zu zweit haben wir bessere Chancen.«

»Ich kann dich nicht brauchen.« Tymur sah Enid an, sah Lorcan an, sie mussten das doch verstehen! »Nichts gegen dein Engagement und deine Bereitschaft, mich zu beschützen, aber –«

»Dann kannst du mich ja mitnehmen.« Kev lächelte, bis Tymur endgültig der Geduldsfaden riss.

»Kev, verdammt, du bist der schlechteste Reiter, der jemals auf dieser Welt gewandelt ist! Ich stamme von Damar ab, aber du ganz sicher nicht von Marold. Mit dir erreichen wir Neraval erst, wenn der Fußtrupp längst angekommen ist.«

Kevs Kiefer verhärteten sich und ließen ihn fast wie einen Mann aussehen. »Jetzt«, sagte er, »habe ich einen Grund, oben zu bleiben. Damals …« Er schüttelte den Kopf. »Inzwischen bin ich auf Berge gestiegen, habe mit Ililiané gerungen und weiß, wer meinen Bruder umgebracht hat. Reiten ist mein geringstes Problem.«

»Lorcan!«, rief Tymur. »Unser weiser Anführer! Sag etwas!«

Lorcan nickte. »Du nimmst Kevron mit«, sagte er. »Weil Kev mit jedem Wort, das er da sagt, recht hat, und wenn er sich nicht selbst angeboten hätte, hätte ich es ihm gesagt.«

Tymur schnaubte. »Ich bereue den Tag, an dem ich dir das Kommando übertragen habe, es steigt dir zu Kopfe … Denk nicht, dass du über mich bestimmen kannst!«

»Über dich vielleicht nicht.« Lorcan lächelte, wie Tymur ihn in fünfzehn Jahren niemals hatte lächeln sehen, selbstsicher und doch mit Hintergedanken. »Aber über Kevron.«

Kev nickte. »Gehorche Lorcan aufs Wort.«

»Gut.« Gar nicht gut. »Von mir aus. Ich versuche es. Aber wenn ich ohne Kev zurückkomme …«

»Dann werden wir dich dafür zur Rechenschaft ziehen«, sagte Lorcan. »Und dasselbe gilt für den umgekehrten Fall.«

»Letzteres ist unwahrscheinlich«, erwiderte Tymur gehässig. »Ich finde zumindest den Weg zurück. Kev allein ist aufgeschmissen, und er weiß das. Wenn mir unterwegs etwas zustoßen sollte, dann wird er im nächsten Wirtshaus versacken und warten, bis ihr kommt und ihn einsammelt.«

»Warte es ab«, sagte Kev. »Du hast mich einmal unterschätzt, und es ist dir nicht bekommen. Das jetzt, das hat nichts mit meiner Rache zu tun. Ich habe geschworen, sie ruhen zu lassen, bis die Dämonen besiegt sind. Ohne Eissilber geht das nicht. Und zu zweit sind unsere Chancen besser. Ich traue dir zu, Eissilber aufzutreiben, aber wenn nicht, dann habe ich auch noch den ein oder anderen Kontakt. Und mein gesundes Misstrauen beschützt uns davor, in eine Falle zu tappen.«

»Gut.« Lorcan nickte. »Nur wirklich, ihr beiden: Seid vorsichtig. Wir sind auf das Eissilber angewiesen. Aber ihr reitet da nicht irgendwohin. Wir wissen nicht, wie es in der Stadt gerade aussieht – im schlimmsten Fall lebt dort keiner mehr. Und wenn ihr in die Burg müsst … Passt auf euch auf. Doppelt und dreifach.«

Tymur seufzte, so laut und tief, dass es auch wirklich jeder hören konnte. Er hatte nichts gegen Kev, wirklich. Er war als Gesellschaft amüsant, manchmal sogar angenehm, und in seiner Rachsucht putzig – das Problem war wirklich, dass er nicht reiten konnte.

»Ich gebe mein Bestes«, sagte Kev fest. »Vertrau mir. Und wenn wir mich am Pferd festbinden müssen.«

»Knochenleim würde nicht ausreichen«, knurrte Tymur. »Ich peitsche dich eigenhändig zurück aufs Pferd, wenn du auch nur einmal runterfällst.« Er lachte grimmig. »Du gehst im Schritt über den Hals, im Trab rutschst du von der Kuppe – wie, denkst du, sollst du eine Woche im gestreckten Galopp überleben?«

»So eine Woche«, sagte Lorcan, bevor Kev auch nur den Mund öffnen konnte, »überlebt auch kein Pferd. Lass dich von ihm nicht kleinreden, Kev. Ihr werdet vielleicht kurze Stücke galoppieren müssen, aber ansonsten in einem vernünftigen Trab reiten, mit dem selbst du gut zurechtkommen solltest. Du hast unterwegs mehr gelernt, als Tymur dir zugesteht, das verlernt man nicht. Dein Körper wird wissen, was zu tun ist, und du auch.« Lorcan legte Kev die Hand auf die Schulter. »Du weißt, dass du nüchtern zu bleiben hast? Du kannst weder reiten noch Tymur etwas entgegensetzen, wenn du betrunken bist.«

Kev lachte bellend. »Was meinst du, warum ich mitkommen will? Brauche wieder einen Grund, nicht zu trinken. Wenn wir in jedem Dorf, durch das wir kommen, erst noch die Vorräte wegsaufen müssen, bekommt mir das nicht gut. Ein paar Wochen halte ich durch, versprochen.«

»Dafür werde ich sorgen«, sagte Tymur. »Das verspreche ich euch allen.« Für das Gegenteil würde er sorgen. Aber das würde Kev noch früh genug merken – und sich bedanken.

Selbst jetzt, Monate später, war es immer noch ein Jammer, dass die Biester im Anderwald ihnen die Pferde weggefressen hatten. Das waren noch gute Pferde. Selbst die Packpferde taugten etwas. Im königlichen Marstall fand sich kein einziges schlechtes Tier. Jetzt, mit dem ganzen Land voller Dämonen … Tymur fragte sich, was aus den Pferden dort wohl geworden war. Auch gefressen? Er hatte noch nie einen Alfeyn reiten sehen.

Aber die Pferde, die es hier gab … Immerhin, man hatte Reitpferde für sie aufgetrieben. Wenn Lorcan sagte: »Wir brauchen eure schnellsten Pferde!«, dann bekamen sie die auch. »Tym und Kev reiten als Kundschafter nach Neraval …« Jetzt hatte Tymur also ein Pferd – und Wut im Bauch. Er wollte im Geheimen losreiten, unbemerkt und unerkannt. Stattdessen kamen die Leute, um ihnen zu winken und viel Glück zu wünschen, und das war das Letzte, was Tymur gerade hören wollte. Oder vielmehr das Vorletzte.

Das Letzte war das Ächzen, als Kev sich in den Sattel wuchtete. Es war nicht einmal ein richtiges Pferd, nur ein mittelgroßes Pony, unter Lorcan wäre es zusammengebrochen, selbst vor dessen Versteinerung, aber für Kev sollte es reichen. Das Pferd, das Tymur bekommen hatte, war nur wenig größer, der Sattel war ebenso wenig zum Galoppieren gemacht wie der Gaul selbst. Aber was hatten sie schon zu verlieren? Im Zweifelsfall würde Lorcan mit der Truppe warten, bis Tymur und Kev zurückkamen. Der Erfolg der ganzen Revolution hing allein von ihnen ab, und das war immerhin ein kleiner Trost.

»Wartet!« Gerade als sie endlich losreiten wollten, kam ein Junge angelaufen, ein schmächtiges Kind mit zu langen Haaren, die ihm ins Gesicht hingen wie dem Pferd, auf dem Tymur saß, die Mähne. »Ich … ich habe ihr noch einen Apfel geholt. Sie mag Äpfel.«

Tymur wartete, schaute mit wachsender Ungeduld zu, wie das Kind dem Pferd den Apfel hinstreckte, wie das Tier vorsichtig zubiss, den Apfel schmatzend verzehrte und dann den Kopf senkte, um sich die Stirn kraulen zu lassen. Der Junge sah aus, als ob er gleich losheulen wollte, aber er schaffte es, sich zusammenzureißen, gab dem Pferd noch einen Klaps und sah dann zu Tymur auf. »Sie heißt Tarla«, sagte er mit belegter Stimme. »Ihr gebt gut auf sie acht, ja?«

Tymur blickte hinunter auf den Jungen, dem das Wasser in den Augen stand und in der Nase und schluckte jede garstige Bemerkung herunter. »Danke, dass du sie uns anvertraust«, sagte er. »Wenn wir wieder zurückkommen, ist sie ein Held, und du kannst stolz auf sie sein und auf dich. Jeder muss seinen Teil geben in diesem Kampf – und etwas geben kann weh tun, ich weiß wie sehr, aber es muss sein, damit das Gute siegt.« Er klopfte dem Tier gegen den Hals. »Und jetzt komm, Tarla, altes Mädchen, mach deinen Besitzer stolz.«

Er hoffte, dass der Junge jetzt nicht auch noch zu Kevs Pferd hinlaufen und sich das Theater wiederholen würde, aber wem immer Kevs Pferd gehört haben mochte, der ahnte vielleicht noch nicht einmal, dass Lorcan gerade im Namen der Revolution sein bestes Tier requiriert hatte. Es war an der Zeit aufzubrechen, bevor Kev bewies, dass er sogar von einem stehenden Pferd fallen konnte.

Als sie sich endlich in Bewegung setzten, Kev im Sattel so steif wie ein Brett, war es dreimal so spät, wie Tymur gehofft hatte, und das hieß: Weit würden sie an diesem Tag nicht mehr kommen. Immerhin gelang es ihnen, das Dorf hinter sich zu lassen, ohne dass es Kev aus dem Sattel gehoben hätte. Aber wenn Kev geglaubt hatte, den Rest der Reise hinter Tymur herzockeln zu können, hatte er sich geschnitten. Tymur nickte ihm zu. »Reite voraus. Ich will sehen, wie du dich schlägst.«

Kev schluckte sichtbar, schien darauf zu warten, dass Tymur anhielt, und verstand dann, dass er tatsächlich im Trab überholen sollte. Er trieb sein Pony an und zog an Tymur vorbei. Es schüttelte ihn im Sattel hin und her, aber Tymur musste zugeben, dass Kev schon einmal schlechter geritten war.

»Gut«, rief er. »Jetzt Galopp.« Sie konnten natürlich nicht den ganzen Weg über galoppieren, aber für den Fall der Fälle war es gut zu wissen, was in diesen Pferden steckte.

Es tat regelrecht weh zu sehen, wie Kev dem armen Tier die Füße in die Flanken hackte, aber immerhin fiel es in den Galopp, und Kev hielt sich im Sattel. Tymur trieb sein Pferd mit deutlich weniger Gewalt an, und Tarlas Galopp war tatsächlich weitaus angenehmer als ihr harter, eckiger Trab. Der kleine Junge durfte sich freuen. Bis zu dem Moment hatte Tymur geplant, die Pferde bei nächster Gelegenheit gegen bessere einzutauschen – jetzt konnte er sich zumindest vorstellen, auf diesem bis Neraval und zurück zu reiten.

»Das reicht!«, rief Tymur, doch Kev schien ihn nicht zu hören, krampfte sich in die Zügel, als hinge sein Leben davon ab, und schien blind und taub für alles um ihn herum zu sein. Wer da gerade wem gehorchen musste, war offensichtlich. Tymur zischte durch die Zähne, trieb sein Pferd an, zog an Kev vorbei und griff ihm in die Zügel. Wenn der Kerl jetzt glaubte, dass er Tymur sein Leben verdankte, ließ sich das für den Rest der Reise weiland ausnutzen. »Brrr«, machte Tymur. »Ruhig. Gut.« Es war ein Trost, dass zumindest Pferde Tymur noch gehorchten. Beide fielen in Trab, dann in Schritt.

Kev klapperte mit den Zähnen und schüttelte sich. »Danke.«

Tymur lachte. »Du bist nicht hinuntergefallen. Das war es auch schon, was ich wissen wollte.«

Kev nickte, bemüht, Tymurs Blick auszuweichen. Es war wie in der guten alten Zeit und durfte auch ruhig so bleiben.

Eine Weile ritten sie wortlos nebeneinander her. Die Pferde hatten an ihnen nicht schwer zu tragen, und Gepäck hatten sie praktisch keines. Immerhin, Kev hatte anstelle seiner völlig ruinierten alten Jacke einen von Runa gewebten Mantel bekommen, so hatte es sich für ihn doch gelohnt, sich mit der Frau gutzustellen und dem Gör ein Schäfchen nach dem anderen zu schnitzen. Und selbst Tymur hatte von Runa eine kleine Tasche bekommen und eine Kapuze, damit man ihn nicht so schnell erkannte. Ansonsten hatten sie nur, was sie am Leibe trugen. Tymur versuchte, nicht daran zu denken. Natürlich musste man Abstriche machen, wenn man unterwegs war, ein Hemd ein paar Tage länger tragen und sich damit begnügen, es nachts zum Lüften ans offene Fenster zu hängen. Jetzt fehlte es ihnen an allem.

»Was würdest du zu einer Rast sagen?«, fragte er nach einer Weile. Vor ihnen, wo die Straße einen kleinen Bach querte, sah er ein anheimelnd aussehendes Fleckchen, und die Pferde konnten eine Pause ebenso vertragen wie ihre Reiter.

Kev nickte erleichtert. Tymur lag schon ein Lob auf den Lippen, dass der Kerl seit ihrem Aufbruch nicht einmal das Wort Rache in den Mund genommen hatte, aber er wollte ihn nicht auf dumme Gedanken bringen. Die Knie schlotterten Kev sichtbar, als er absaß, und er ließ sich ins Gras fallen, ohne zu schauen, ob es überhaupt trocken war. Das war es nicht, Tymur hockte sich lieber auf einen Findling, aber jeder musste zusehen, wie er es am liebsten hatte.

»Du und ich«, sagte Tymur und nahm einen Zug aus seiner Wasserflasche. »Wer hätte das gedacht?«

Kev zuckte die Schultern. »Es war deine Idee zu tun, als ob wir Freunde wären.«

»Solange Zuschauer da sind«, erwiderte Tymur. »Ich hätte nicht erwartet, dass du mitkommen willst.«

»Kann nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.« Kev zerrte sich die Schuhe von den Füßen, wackelte mit den Zehen und streckte sie in den Bach. Tymur sagte ihm nicht, dass das eine ganz schlechte Idee war. Der Bach war vielleicht nicht mehr gefroren, aber noch lange nicht warm genug zum Planschen.

»Danke«, sagte Tymur. »Oder so.« Er lachte leise. »Wir arbeiten gut zusammen, das stimmt schon. Nichts gegen Lorcan, aber mit dir kann ich die Dinge einfacher angehen.«

»Was ist dein Plan?« Kev klapperte mit den Zähnen, als er die Füße aus dem Bach zog, und streckte sie dann langsam doch wieder hinein. »Ich nehme an, du hast einen?«

»Mein Plan reicht bis Neraval«, antwortete Tymur. »Wenn wir da sind, müssen wir schauen. Alles hängt davon ab, wie die Stadt aussieht. Ob sie überhaupt noch steht.«

»Ich habe Angst davor«, murmelte Kev. »Weil, wenn nicht …«

Tymur nickte. »Dann kommen wir zu spät«, sagte er. »Ich weiß. Die Burg stürmen, das ist eine Sache, aber wenn die ganze Stadt gefallen sein sollte, dann reicht uns auch der beste Tross nicht mehr oder die beste List. Aber so weit mag ich nicht denken.« Er fragte sich, ob das etwa Angst war, dieses drückende Gefühl, diese Ungewissheit, auf die er keinerlei Einfluss hatte. »Wenn ich eines gelernt habe über die Alfeyn, dann, dass sie es nicht eilig haben. Und das muss auch dann gelten, wenn wir sie Dämonen nennen.«

»Gar nichts muss«, antwortete Kev. »Ich glaube nicht, dass es so was wie die Wahrheit überhaupt noch gibt. Fühle mich plötzlich wie der ehrlichste Mann auf der ganzen Welt …« Er lachte glucksend. »Wenn wir ankommen, und die Stadt ist nicht mehr, tötest du mich dann von vorn?«

»Was?« Tymur schüttelte den Kopf. »Bist du betrunken?«

Kev schüttelte den Kopf. »Wenn die Stadt gefallen ist und nichts mehr zu retten, dann sterbe ich lieber gleich. Und wenn du mich von vorn tötest, dann ist zumindest das Letzte, was ich sehe, ein anderer Mensch.«

»Bist du sicher, dass ich einer bin?«

Kev nickte. »Ich sage nicht, dass du ein guter Mensch bist. Bin mir auch nicht sicher, ob ich selbst einer bin. Aber Menschen sind wir. Und wenn wir uns gegenseitig töten, dann sterben wir als Menschen und bleiben es auch. Ich mag die Vorstellung nicht, dass da einer mit meinem Gesicht rumrennt, und es bin nicht ich.«

»Man sollte meinen, ausgerechnet du wärst daran gewöhnt.« Tymur bereute den Satz noch im selben Moment. Er sollte sich freuen, dass sie hier sitzen und miteinander reden konnten, ohne dass einer von ihnen mit dem Mord an Kaynor Florel anfing …

Kev schüttelte nur den Kopf. »Heute nicht«, sagte er. »Bitte. Ich bereue auch so schon, mitgekommen zu sein.«

Tymur lächelte. »Weil du nüchtern bleiben musst?«

Kev erwiderte das Lachen nicht, er zuckte nur die Schultern. »Weil wir pleite sind«, sagte er. »Bin vielleicht besser dran gewöhnt als du, aber ich hätte zumindest fragen können, wie du dir das denkst. Wir müssen irgendwas essen bis Neraval, wir können nicht jeden Tag unter freiem Himmel schlafen, dafür ist das Wetter zu beschissen. Nehme an, du hast das durchgerechnet. Und jetzt komm ich, häng mich an dich dran, und ich kenne dich – wir werden jetzt nicht das bisschen, das du hast, brüderlich teilen, du wirst dein Geld genauso benutzen, wie du das geplant hast, und ich schlafe derweil draußen in der Gosse.«

Tymur blickte an ihm hinunter. »Woran du gewöhnt sein dürftest«, sagte er. »Und ich – wie kommst du darauf, dass ich überhaupt vorhabe, ganze Nächte zu schlafen? Ich komme mit so wenig Schlaf aus, es wäre vergeudete Zeit, die ganze Nacht zu rasten.«

»Hör auf«, knurrte Kevron. »Mir ist das ernst. Ich weiß, dass du nicht die Nacht durchreitest, du willst nicht, dass dir das Pferd unterm Arsch krepiert, nachts ist es zu dunkel, und es ist von Räubern bis Wölfen alles unterwegs.«

Tymur schüttelte den Kopf. Da saß Kev, sah so verloren aus, dass man ihn schon fast gernhaben musste, und machte sich Gedanken über solche Sachen. Es wäre Tymur eine Genugtuung gewesen, drinnen Lammbraten zu speisen und zu wissen, dass Kev draußen im Stall rohen Hafer kaute, den er den Pferden aus dem Trog gestohlen hatte, aber wofür die Mühe, wenn er Kev mit kleineren Gesten viel nachhaltiger demütigen konnte?

Er öffnete seine neue Tasche. Der Stoff hatte für Tymurs Geschmack zu viele Farben, war aber immerhin ganz hübsch anzusehen. Nicht der Stil eines Tymur Damarel, aber Tym, der Niemand, konnte so etwas tragen. »Hier«, sagte er und zog den Beutel mit den Silberstücken heraus, ihre Kriegskasse, gnädige Gabe von Askir. »Wenn wir nicht darauf bestehen, zu leben wie die Prinzen, reicht das für uns beide.«

Ein Beutel voller Silber wog längst nicht so viel wie ein Beutel voller Gold und bedeutete auch kein solch angenehmes Leben. Askir hätte nur mit den Fingern schnipsen müssen, und wirklich, von einem Beutel würde die Zivilisation schon nicht zusammenbrechen, aber Tymur konnte froh sein, überhaupt etwas bekommen zu haben aus der Schatzkiste der Akademie.

Kev starrte auf den Beutel, als hätte er noch nie im Leben Geld gesehen. Tymur setzte sein strahlendstes Lächeln auf. Der Todesstoß konnte später erfolgen. »Dafür sind Freunde da«, sagte er. »Und ob du es glaubst oder nicht, ich bin froh, dich dabeizuhaben.«

Zumindest konnte er so sicher sein, dass ihm die Reise unterwegs nicht langweilig wurde.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Königsstraße erreichten. Sie teilte das Land von Norden nach Süden, nahm unterwegs die Hauptstadt mit und ermöglichte ein angenehmes Reisen. Es war lange her, dass man sie angelegt hatte, zu einer Zeit, als den Königen von Neraval das Land noch etwas bedeutete und sie nicht vergessen hatten, dass es mehr als ihre Hauptstadt gab. Selbst jetzt war die Königsstraße über weite Strecken noch in gutem Zustand, wenn man sich nicht zu weit von der Stadt entfernte.

Die Wirte der Gasthöfe, die ungefähr im Abstand einer Tagesreise auch dort standen, wo gerade kein Dorf war, machten durch die Reisenden genug Umsatz, um über die Runden zu kommen. Ausnahmen gab es natürlich, ab und zu fanden sich nur noch die Grundmauern eines verlassenen Hauses, doch alles in allem konnte man auf der Königsstraße die Tage rückwärts zählen, bis man die Hauptstadt erreicht hatte.

Wenn man nicht auf der Königsstraße reiste, sah das anders aus. Dann waren die kleinen Städte und Dörfer untereinander verbunden oder auch nicht – zwischen zwei eigentlich nah beieinanderliegenden Ortschaften gab es dann keinerlei nutzbare Straßen, weil die Bewohner der Dörfer seit einer Blutfehde vor zweihundert Jahren nicht mehr miteinander redeten und über die alten Wege der Wald gewachsen war. Oder man stieß auf einen Sumpf, den trockenzulegen und urbar zu machen niemandem in den Sinn gekommen war. Zumindest einen Knüppeldamm hätte man anlegen können, aber nein, um den Sumpf ritt man herum, und selbst diese Vorstellung wurde mit einer gehobenen Augenbraue aufgenommen, wo doch jeder wusste, dass man mit denen auf der anderen Seite ohnehin nichts zu tun haben wollte.

Tymur wusste zwar um das löchrige Straßennetz, aber es trieb ihn zur Verzweiflung. Natürlich musste niemand in der Hauptstadt wissen, wie genau man nun in das Dorf Larsim kam, aber umgekehrt sollte man in Larsim wissen, wie es zur Hauptstadt ging. Spätestens, wenn man einen König stürzen wollte, musste man irgendwie dort hinkommen. So schlängelte sich Tymurs Weg durchs Nirgendwo, die Königsstraße war weit, und der einzige Trost war, dass Lorcan und seine Männer denselben Weg würden zurücklegen müssen, nur zu Fuß.

Die ersten Tage über eilten ihnen noch die Nachrichten voraus. Tymur und Kev behielten für sich, was sie wussten, und machten die nötigen großen Augen, wenn man sie mit einem ›Habt ihr schon gehört?‹ oder ›Ist es denn wahr?‹ oder ›Was, zum Henker, ist da los?‹ begrüßte. Sie ließen sich nichts anmerken, Lorcan sollte brav in jedem Ort seine Rede halten, bis sie ihm zu den Ohren herauskam, und einsammeln, was es an Bauern und Mistgabeln einzusammeln gab. So eifersüchtig Tymur am Anfang auch auf Lorcan gewesen war, mit jedem Tag, den er sich vom Tross entfernte, war er froher darum, diese Leute nicht am Hals zu haben. So langsam vorankommen und immer dasselbe Sprüchlein aufsagen … Eine gute Aufgabe für Lorcan. Tymur hatte Besseres zu tun.

Was das Reisen mit Kev anging, musste Tymur zugeben, dass es ganz in Ordnung war. Kev war immer noch weit davon entfernt, ein exzellenter oder auch nur guter Reiter zu sein, aber er hielt sich im Sattel, selbst im Trab, und Tymur verstand, was in der Zwischenzeit mit Kev passiert war. Er hielt sich aufrechter, nicht nur beim Reiten, sondern auch den Rest des Tages über, und das hatte nichts mit der Frage zu tun, ob er nüchtern war.

Je länger sie unterwegs waren, desto mehr traten ihre Animositäten in den Hintergrund. Manchmal tauschten sie noch eine Spitze aus, meist aber hatten sie Besseres zu tun, als einander zu hassen. Solange sie ritten, redeten sie nur wenig, zum einen, weil schon so vieles gesagt war, und zum anderen, weil es anstrengend war, einem anderen Reiter durch den Wind etwas zuzubrüllen, was ebenso gut bis zum Abend warten konnte. Die meiste Zeit ritten sie hintereinander, auch wenn die Straßen breit genug gewesen wären: Es war kalt, und keiner von ihnen hatte wirklich warme Kleider; wer vorn ritt, bekam den Wind ab, der hintere freute sich über ein bisschen Deckung. Kev ritt inzwischen gut genug, dass sie sich abwechseln konnten.

Wenn es sich ergab, übernachteten sie in einem Gasthaus. Ritten sie schon am frühen Nachmittag durch ein Dorf, kauften sie vielleicht ein paar Vorräte oder freuten sich über einen Teller warmen Eintopf, aber es war wichtiger, Boden zu gewinnen, als den halben Tag an eine Rast zu verlieren. Dann hatten sie für die Nacht eben kein Dach über dem Kopf. Schließlich hatte das in Ailadredan auch funktioniert.

Sie bekamen nicht viel Schlaf in diesen Nächten, es war zu kalt, um auf dem nackten Boden oder im Gras zu schlafen, und selbst wenn sie jeder eine Decke besaßen, war das nicht mit einem richtigen Zelt und Schlafsack zu vergleichen. Sie konnten ein kleines Feuer machen und die Nacht damit zubringen, in die Decken gewickelt danebenzuhocken, während die Pferde, die ein Fell hatten und ohnehin härter im Nehmen waren, den Schlaf bekamen, den sie brauchten. Ausgeruhte Tiere waren wichtiger als ausgeruhte Reiter.

»Wir zwei mal wieder!«, sagte Kev und stocherte mit einem Zweig in dem nicht gerade prachtvollen Feuer. »Wenn wir in Neraval sind, müssen wir zwei Tage durchschlafen, am Stück, sonst kommen wir nicht heil zurück.«

Tymur lachte und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du hast dir inzwischen bei mir abgeschaut, wie man drei Tage ganz ohne Schlaf auskommt! Und ich wollte dich schon loben, dass du so ein gelehriger Schüler bist.«

»Wenn ich schlafe, träume ich von dir«, antwortete Kev. »Und das lässt mich dann gern zwei Nächte ohne aushalten.«

»Lorcan und Enid träumen auch von mir«, erwiderte Tymur, »und die beiden sehen dann immer besonders gut erholt aus.«

»Davon träumst höchstens du«, sagte Kev und lachte knarzend. »Enid träumt von Zahlen, und Lorcan … Ich will dich nicht eifersüchtig machen, aber ist dir nicht aufgefallen, wie er Estral anschaut? Und dass die beiden den ganzen Tag miteinander verbringen?« Er schüttelte den Kopf. »Ach, Tymur. Jetzt habe ich dein Herz gebrochen.«

In Momenten wie diesem waren sie Freunde. Vielleicht hätte jeder andere nach einem treffenderen Wort gesucht, aber für Tymur war es Freundschaft, vielleicht die ehrlichste, die er jemals geführt hatte. Tymur war an Freundschaften gewöhnt, in denen der eine – üblicherweise er selbst – dem anderen etwas vorspielte, und hier hatten sie das weit hinter sich gelassen. Sie waren Freunde auf Augenhöhe, machten beide kein Hehl daraus, was sie vom anderen hielten, und mussten über dem Ganzen anerkennen, dass sie einander ähnlicher waren, als sie es selbst zugeben mochten.

Mit jedem Tag war Tymur froher, dass er Kev dabeihatte – nicht nur, weil es ganz ohne Gesellschaft sonst doch arg langweilig geworden wäre, sondern weil sie, wenn das Thema Mord und Rache einmal vom Tisch war, über Dinge reden konnten, über die Tymur sonst mit niemandem redete. Sogar über seine Freundschaft mit Damar.

»Weißt du, was ich mich manchmal frage?« Tymur blickte Kev über das niedergebrannte Feuer hinweg geradewegs in die Augen. Es war ein anderer Abend, ein anderes Feuer, aber sie konnten da weitermachen, wo sie aufgehört hatten, eine Unterhaltung für die Schlaflosen unter dem Sternenhimmel. »Das, was Ililiané mit mir getan hat – war ich der Erste? Oder hat sie vor mir jedem einzelnen Damarel, meinen Brüdern, meinem Vater, meinem Großvater, das Gleiche vorgespielt? Bin ich anders als die anderen? Oder wäre ich das nur gern?«

»Die anderen sind jetzt Dämonen«, antwortete Kev.

»Eben«, sagte Tymur. »Ich bin keiner. Dabei finde ich, ich hätte von ihnen allen den vortrefflichsten Dämon abgegeben. Und ich kenne den Grund nicht.«

»Tymur«, sagte Kev leise. »Hör auf zu lügen.«

Tymur schüttelte den Kopf. »Ich lüge nicht. Ich versuche, es zu verstehen.«

Kev sah ihn an, schien durch Tymur hindurchzustarren und brauchte lange, um etwas zu sagen. »Ich weiß Bescheid, Tym. Und ich gehe davon aus, dass du es auch längst weißt.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest?«

»Deine Unverwundbarkeit.« Kev grunzte. »Glaubst du denn, dass du sonst noch am Leben wärst? Dass ich nicht die erstbeste Gelegenheit genutzt hätte, dich abzustechen, wenn du nicht so verdammt schwer zu töten wärst?«

Tymur fühlte sich erbleichen. »Du … du hättest nicht wirklich …«

In den Schatten auf der anderen Seite hing Kevs Grinsen in der Luft wie eine einsame Mondsichel. »Freue mich, wenn ich dich noch mal überraschen kann. Woher sollte ich es sonst wissen?«

Tymur versuchte zu lachen. »Du bist ein guter Beobachter, Kev. Der beste, den ich kenne, wenn es um Details geht. Du hast es auf die gleiche Weise gemerkt wie ich auch: All die Male, die mir nichts passiert ist, während du dich hast vermöbeln lassen.«

»Das auch.« Kev gluckste. »Und das eine Mal, wo ich dir einen Dolch in den Leib gestoßen habe.«

»Warum sagst du mir das?«, hörte Tymur sich tonlos fragen.

»Weil ich will, dass du es weißt«, antwortete Kev ruhig. »Wenn sich herausgestellt hätte, dass du doch noch keine Ahnung davon hast … Für meine Rache, ich gebe es zu, stellt das ein ziemlich unüberwindbares Hindernis dar, und jetzt, wo es heraus ist, kann ich dir nicht mal mehr drohen. Aber im Kampf gegen die Dämonen, da ist das gerade der dickste Trumpf, den wir im Ärmel haben, und es wäre eine Schande, das nicht zu nutzen.«

Tymur wusste nicht, was er sagen sollte. Die Vorstellung, dass Kev vielleicht länger als er selbst über seine Unverwundbarkeit Bescheid wusste … »Es wäre leicht, mich deswegen jetzt in Sicherheit zu wiegen«, sagte er endlich. »Wenn ich ihnen in die Hände falle, haben sie noch ganz andere Optionen, als mich umzubringen. Sie wissen, und du weißt es auch, dass ich mich immer noch selbst verletzen kann, sie müssen mich nur in eine Situation bringen, in der ich keinen anderen Ausweg sehe …« Lächelte Kev bei diesen Worten? Es sah nicht danach aus. »Sie können mich aushungern, foltern – das Einzige, das uns dann noch bleibt, ist, dass sie mich wohl niemals durch einen Doppelgänger ersetzen können, und selbst darin können wir nicht sicher sein. Wir wissen nicht, ob sie jemanden töten müssen, um dessen Gestalt anzunehmen.« Tymur schüttelte den Kopf, er hätte sich jetzt gern an etwas Tröstlichem festgehalten, doch er hatte sich selten so wenig siegessicher gefühlt wie in diesem Moment. »Immerhin wissen wir, dass sie das mit dir nicht machen werden«, sagte er und versuchte sich an einem Lachen. »Wer sollte jemals du sein wollen?«

Kev tat ihm den Gefallen und lachte mit. »Wenn wir das Eissilber haben«, sagte er, »dann musst du mir erlauben, dich damit zu verletzen. Zumindest sollten wir es versuchen. Wir wissen nicht, ob du bist wie die Dämonen. Wenn sie durch Eissilber verwundet werden können und du auch, dann ist unser Vorteil dahin.«

»Ich kann mich selbst verletzen«, erwiderte Tymur. »Dämonen können das nicht. Wie dieser Alfeyn, der die Klinge, an der wir uns schneiden sollten, durch seine eigene Haut geführt hat, ohne dass etwas passiert ist. Das kann ich nicht.«

»Du bist ja auch kein Dämon.« Kev nickte so selbstverständlich, als sprächen sie über ein Handwerk, ein Backrezept, den Schnitt einer Weste. »Aber du musst dich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass du dämonisches Blut in dir hast. Wenn ich ein Dämon wäre und würde tausend Jahre lang daran arbeiten, Damars Haus zu unterwandern, ich würde mein Blut da einkreuzen, weil ich es kann. Du bist nicht besessen, klar, wissen wir. Aber bist du deshalb wirklich ein Mensch?«

»Ich bin der Sohn meines Vaters!«, sagte Tymur mit einer Heftigkeit, über die er sich selbst wunderte. »Und die Frau, die mich geboren hat, willst du etwa sagen, das war Ililiané?«

Kev schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Aber vielleicht deine Urgroßmutter? Alle paar Generationen mal jemand, ab und zu ein frischer Schuss Dämonenblut, wie ein Köter, der immer wieder gegen denseben Baum pinkelt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tymur. »Und werde es auch nie erfahren.«

»Du kannst Ililiané fragen«, erwiderte Kev. »Wenn du sie wiedertriffst. Bevor du sie tötest. Mach nicht den gleichen Fehler wie letztes Mal. Lass sie diesmal lang genug reden, bis du sicher sein kannst, die Richtige vor dir zu haben. Da gibt es bestimmt das ein oder andere Neue, was sie dir noch verraten kann.«

»Zum Beispiel?« Manchmal waren Kevs Gedanken und die Fragen, die er stellte, brillant.

»Wo ist La-Esh-Amon-Ri?«, sagte Kev. »Und hat es ihn jemals wirklich gegeben?«

Je weiter sie sich von Ildenwik entfernten, desto geringer wurde der Anteil der Leute, die auch nur gerüchtehalber von Lorcan und seiner Horde gehört hatten. Wenn Tymur erwartet hatte, dass ihnen die Nachricht wie ein Lauffeuer vorauseilen würde, hatte er sich geirrt – selbst große Neuigkeiten wälzten sich hier nur langsam über das Land. Es konnte Tymur recht sein, aber er war nicht dumm. Nur weil die Dorfdeppen von Haloran noch nichts von der Revolution gehört hatten, hieß das nicht, dass die Herren von Neraval nicht schon lange Bescheid wussten. Früher oder später mussten und würden sie reagieren.

Durch ihre Gestalt würden sie sich nicht verraten, doch das Land selbst ließ sich nicht belügen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Zeichen für jeden sichtbar sein würden. Tymur wusste, worauf er zu achten hatte. Die Spuren von damals hatte er auf dem Hinweg gesehen: verderbte, vernarbte Landflecken, nach tausend Jahren immer noch böse. Jetzt waren die Dämonen zurück – wie lange mochte es dauern, bis sich das zeigte? Mit Adleraugen musterte Tymur die Umgebung, jeden krummen Baum, jeden Wald, in dem die Sonne niemals schien, jedes Rudel unnatürlich angriffslustiger Eichhörnchen. Kev tat dasselbe, spähte nach links und rechts, studierte die Form jedes Schattens, suchte wie Tymur Zeichen dafür, dass es eben doch einen Unterschied machte, ob auf dem Königsthron ein Mensch saß oder ein Unhold. Beide sahen dasselbe: nichts. Natürlich, sie waren noch nie auf der südlichen Königsstraße gewesen, sie hatten keinen Vergleich zum Vorher, doch das Einzige, das besorgniserregend war, war der oft schlechte Zustand der Straße. Bäume mochten krumm sein oder morsch, aber das wären sie auch überall sonst gewesen. Ein Hirsch, der auf die Straße trat, schaute sie aus verwirrt wirkenden schwarzen Augen an, schüttelte den Kopf und verschwand wieder im Unterholz.

Und nicht nur ihren Augen wurde nichts geboten, sondern auch ihren Ohren. Nachrichten von einem Aufstand am fernen Ende der Landkarte, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, mochten langsam sein. Doch wer Tymur und Kev auf der Straße entgegenkam, der trug die Nachrichten aus der Hauptstadt mit sich. Und von dort gab es nichts zu berichten.

Wenn man Enid reden hörte, seitdem sie versucht hatte, ihr Portal zu öffnen, dann war die Stadt nicht mehr da, spurlos verschwunden, ein Stück Nichts, wo eben noch Zehntausende Menschen gewohnt hatten. Oder alles eingeschlossen in undurchdringlichen Kristall, dem keiner entkommen und in den keiner eindringen konnte. Das eine wie das andere hätte sich längst herumsprechen müssen. Doch nichts dergleichen geschah.

Reisende, mit denen sie im Gasthaus ins Gespräch kamen, bei einem Topf Suppe oder einem Becher Wein, waren nicht anders als Reisende, die sie auf ihrem Hinweg getroffen hatten, genauso uninteressante, überflüssige Menschen, die nichts zu sagen hatten.

»Es ist schwer vorstellbar, nicht wahr?«, sagte Kev, als sie eines Abends über einem Krug Wein saßen. Sie teilten ihn sich auf die übliche Weise, Tymur trank einen Becher, Kev den Rest. In diesem Haus waren sie die einzigen Gäste, es sah aus, als ob der Wirt es schon vor Jahren besser geschlossen hätte, um die Verluste erträglich zu halten. Es wäre schändlich gewesen, hier keinen Umsatz zu machen, und so tranken sie den Wein für die gute Sache.

»Dass immer noch niemand was gemerkt hat, niemand außer uns …« Kev schüttelte den Kopf. »Da frag ich mich schon – bilden wir uns das alles nur ein? Am Ende gibt es keine Dämonen, hat es sie nie gegeben?«

»Du bist derjenige mit dem Keller voller Leichen«, erwiderte Tymur. »Wir sind nur deinetwegen hier. Enid hat ein paar Grafen tanzen sehen, und wenn du einmal so ein Fest bei Hofe gesehen hast, die tanzen immer so. Aber du hattest die Leichen, und jetzt meinst du, du hast sie dir nur eingebildet?«

»Sie waren echt, da bin ich mir sicher. Nur, warum hat dann niemand außer mir etwas gesehen? Ist der Schulze von Trastell der einzige Dämon, der so dämlich ist, seine Leichen irgendwo zu lagern? Wo ist der Rest? Wenn die Dämonen im großen Stil Leute umbringen, wo sind die dann?« Er schüttelte sich. »Wenn du jemanden umbringst, was machst du dann mit dem? Du lässt den doch auch rumliegen, oder?«

»Gesetzt den rein theoretischen Fall, ich würde jemanden umbringen«, sagte Tymur schnell, bevor der Wirt noch auf dumme Ideen kam, »dann gäbe es bestimmt Mittel und Wege, mich der Beweise zu entledigen.« Tatsächlich hatte sich Tymur um die Auffindbarkeit der Leichen selten Gedanken gemacht. Eine tote Frau, nackt in einer Seitengasse – so etwas kam vor. Ein Halunke mit aufgeschnittener Kehle – hatte das Ende bekommen, was er verdiente. Ein Fälscher, erstochen im eigenen Haus – hat sich mit den falschen Leuten eingelassen. Leute starben, Leute wurden umgebracht, das war der Lauf der Welt, und solange nichts direkt auf Tymur hinwies, konnten ihm die Toten gleichgültig sein.

»Wo ist die Leiche deines Vaters? Wo sind die deiner Brüder? Du kennst die Burg besser als jeder andere, sagst du. Wo verstaut ihre eure Toten?« Tymur schwieg, und Kev redete weiter: »Was ist mit unserer Theorie, dass die nicht erst seit drei Wochen Dämonen sind, sondern vielleicht schon jahrelang? Dann hättest du sie doch finden müssen, auf deinen Erkundungsgängen durch die Burg.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Tymur gedehnt.

Kev leerte seinen Becher, es war der vierte, und langsam machte sich das bemerkbar. »Ich will nur sagen, wir können unseren Augen nicht trauen. Vielleicht hat es Neraval nie gegeben. Vielleicht ist das alles hier nur ein beschissener Alptraum, und wir sind zu blöd, daraus zu erwachen.«

Er lachte und wischte sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Inzwischen war sein Haar so lang, dass er es mit einer Kordel zusammenbinden musste, und sein Bart hatte den Namen endlich verdient. Tymur konnte nur hoffen, dass seine eigenen Versuche, sich selbst nicht mehr allzu ähnlich zu sehen, von vergleichbarem Erfolg gekrönt waren. Auf der Landstraße interessierte das keinen, aber wenn sie einmal in Neraval waren, dann gab es Leute, die erkannten einen Damarel auch dann, wenn er einfache Kleider trug.

»Fällt mir jedenfalls leichter zu glauben«, redete Kev weiter, »als dass die Welt voller Dämonen ist, und kein Schwein merkt etwas davon.«

»Du solltest dich freuen«, sagte Tymur und setzte mit leiser Spitze hinzu: »Und weniger trinken. Wäre es dir lieber, sie würden uns quer durchs Land jagen, uns nicht lebend in die Stadt lassen, die ganze Welt ein einziger Anderwald?«

»Wenn das so wäre«, sagte Kev bitter, »dann wüsste jeder, dass die Dämonen da sind. Dann würden diejenigen, die es können, aufstehen und sich drum kümmern. Und die Rettung der Welt würde nicht ausgerechnet an uns hängen bleiben.«

Tymur legte Kev eine Hand auf den Arm. Der Wirt guckte bereits komisch. Er hatte zwar die meiste Zeit über nicht den Eindruck gemacht, als ob ihn die ersten Gäste seit Ewigkeiten irgendwie interessierten, aber je lauter Kev von Dämonen und Weltrettung faselte, desto mehr machten sie auf sich aufmerksam. Und was für den einen Wirt ein paar Verrückte waren, die zu viel getrunken hatten, waren für den anderen zwei Menschen, die zu viel wussten und den anderen Morgen nicht mehr erleben durften.

Kev war still und wusste es besser, als auch nur in die Richtung des Mannes zu schielen. Wenn der Wirt einer von denen war … Tymur nickte bei sich. Wenn die Dämonen über das, was im Königreich vor sich ging, auf dem Laufenden sein wollten, dann waren Wirte die beste Wahl.

Der müde aussehende Mann, der die meiste Zeit über in einer Ecke gesessen und Körbe geflochten hatte, als ob das Wirtshandwerk allein nicht mehr ausreichte, um die Butter aufs Brot zu holen oder das Brot unter die Butter, sah so harmlos und unscheinbar aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Gab es bessere Tarnung? Reisende stiegen ab, legten sich zur Ruh – und am anderen Morgen stieg einer mit dem gleichen Gesicht auf ein Pferd, das sich vielleicht über den veränderten Geruch seines Reiters wunderte, aber niemandem diese Beobachtung mitteilen konnte …

Was blieb jetzt? Flucht in die Nacht? Wenn sie noch mehr auf sich aufmerksam machen wollten – nur zu! Draußen war es bereits dunkel, die Pferde waren müde, und wie gut Kev noch reiten konnte, nachdem er den größten Teil des Weinkrugs in sich hineingeschüttet hatte, mochte Tymur nicht wissen.

Tymur nickte dem Wirt zu und hob den leeren Krug. »Guter Mann, könnten wir noch einen von der Sorte haben?« So war es gut, sich verhalten wie ganz normale Gäste. Natürlich durfte man im Suff von den Dämonen fabulieren, es war immer noch Neraval, und dieses Haus trug, warum auch immer, den Namen ›Siegesrast‹, als wären Damar und seine Gefährten auf dem Rückweg von La-Esh-Amon-Ris Festung hier eingekehrt, statt einer nach dem anderen zu sterben.

Eigentlich war es egal. Wenn dieses Haus ein Dämonennest war, kam es nicht darauf an, ob die Gäste bei ihrer letzten Mahlzeit über Dämonen geredet hatten oder über einen putzigen Wurf junger Hunde, sie würden die Nacht nicht überleben. Tymur hatte keine Angst. Es war die Gelegenheit, seine Unverwundbarkeit herauszufordern. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass es Kev erwischte, und die Frage, wie Tymur das dann Lorcan erklären sollte …

»Ich glaube, ich habe genug«, sagte Kev leise.

»Genug!«, rief Tymur, so laut, dass der Wirt ihn hören sollte. »Wenn du dich hören könntest! Wir sitzen hier im Warmen, haben ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit im Bauch, und wer weiß, wann wir die nächste Gelegenheit bekommen. Du kannst mir nicht sagen, dass du schon genug hast – ich jedenfalls habe es noch lang nicht.«

Dann stand der Wirt an ihrem Tisch und schaute mit skeptischer Miene auf sie herab. »Geht es euch gut?«

Tymur nickte. »Das tut es, in der Tat. Es ginge uns aber noch viel besser, wenn wir noch einen Krug von diesem exzellenten Wein bekommen könnten.« Sollten die Dämonen denken, dass ihre Gäste tief in betrunkenem Schlummer lagen, nichts ahnend und arglos …

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Hört mal, ihr beiden, ich denke, es reicht für heute. Ihr seid die einzigen Gäste heute Nacht, ich kann es nicht brauchen, wenn ihr zwei voll seid und Ärger macht.«

»Wir machen keinen Ärger«, sagte Tymur. »Versprochen. Wir sind nur zwei durstige Reisekameraden, selbst wenn wir eine Schlägerei anzetteln wollten, was wirklich nicht unsere Art ist, wäre niemand da, um zurückzuhauen, und dann können wir uns das Ganze auch schenken.« Der Wirt sollte sich freuen, dass sie es ihm so leicht machten. »Wir haben Geld, und Euer Haus sieht aus, als ob Ihr das gut brauchen könntet.«

Er legte den Beutel mit dem Silber auf die Tischplatte. Es klimperten noch immer genug Münzen darin, auch wenn er schon merklich dünner geworden war. Es musste nur bis Neraval reichen, dort gab es genug Möglichkeiten, an Geld zu kommen.

»Also gut«, sagte er Wirt. »Von mir aus. Aber schreit nicht so rum. Der Schlafsaal ist die Treppen rauf, den findet ihr schon, ihr zahlt jetzt, und ich gehe zu Bett.«

»So machen wir das«, sagte Tymur mit einem Lächeln. »Ich gebe Euch mein Wort, dass wir uns betragen und euch nicht ausplündern, und wir erhoffen uns dasselbe von Euch.«

Der Wirt verschwand hinter seiner Theke, kam nach einiger Zeit tatsächlich mit einem Krug voll Wein zurück, stellte ihn auf den Tisch und wartete, bis Tymur bezahlt hatte. Er machte seine Sache gut, verhielt sich ganz wie ein gewöhnlicher Wirt, der sich um seine Gäste sorgte, aber um den eigenen Nachtschlaf noch mehr. Und dann ließ er sie tatsächlich allein.

»Was sagst du jetzt?«, flüsterte Tymur, nachdem knarzende Schritte über ihnen verrieten, dass der Wirt in seiner Stube angekommen war oder sie dies zumindest glauben machen wollte.

»Du meinst, das ist einer?«, flüsterte Kev zurück.

»Ich bin mir sicher«, antwortete Tymur. »Ich konnte sein Gesicht sehen, als du von den Dämonen angefangen hast. Deswegen hatte er es auch so eilig wegzukommen, er hat Angst, dass wir ihn durchschaut haben.«

Er hob den Krug, der ihm schwerer vorkam als der erste, und füllte Kevs Becher. »Lass es dir schmecken. Die Gelegenheit bekommst du so schnell nicht wieder.«

Kev schüttelte sich. »Zwei solche Krüge, das ist so viel wie drei Flaschen, Tymur.«

»Und du schaffst keine drei Flaschen?« Tymur lachte leise. »Du musst ja nicht alles austrinken. Aber ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du noch Platz für mehr hast. Sie ist noch kein bisschen rot.«

Er schenkte auch sich selbst ein. Nicht dass er vorhatte, mehr als einen Schluck davon zu nehmen, aber Kev trank besser, wenn er sich dabei in Gesellschaft wähnte. »Er hatte keine Gelegenheit, ihn zu vergiften. Wenn du den ersten vertragen hast, dann auch diesen hier.«

Kev zögerte, mit Schweißtropfen auf der Stirn. »Was hast du vor, Tym? Wenn der Wirt ein Dämon ist, tue ich gut daran, keinen Tropfen mehr anzurühren.«

Tymur schüttelte den Kopf. »Wenn du noch nüchtern wärst, würde ich dir sofort recht geben. Aber du bist halb betrunken. Wenn wir gleich in unseren Betten liegen, wirst du an nichts anderes denken können als an die Dämonen und dass sie dich töten und dir alle Säfte und die Erinnerung aussaugen werden. Tu uns den Gefallen, betrink dich anständig, dann bist du ruhig, und vertrau mir, dass ich uns beide heil hier herausbringe.«

»Dir vertrauen.« Kev hüstelte und schob den Becher von sich. »Sind wir wieder da angekommen, wo ich dir mein Vertrauen beweisen soll, indem ich mich besinnungslos trinke? Damit ich eine prachtvolle Ablenkung darstelle, wenn du dich aus dem Staub machst?«

Tymur schob ihm den Becher zurück. »Und genau darum sage ich, trink weiter. Du stehst ja völlig neben dir. Weißt du, wie viele Gelegenheiten ich unterwegs gehabt hätte, dich zu töten? Ich tue es nicht, ich brauche dich, ich betrachte dich als unentbehrlich und, was das betrifft, als Freund. Ich bringe uns hier raus, an einem Stück, lebend. Aber dazu gehört, unsere Gegner in Sicherheit zu wiegen. Damit sie denken, wir schlafen tief und fest, und entweder mimst du mir jetzt den besten Betrunkenen, den es gibt, oder machst es richtig.«

Kev leerte den Becher, dann stellte er ihn mit der Öffnung nach unten auf den Tisch. »Ich hab genug. Wirklich. Rette mir das Leben, ich beschwer mich nicht darüber. Aber wenn es schiefgeht und wir wegrennen müssen, will ich dazu in der Lage sein. Was immer ich dir auch zutraue, tragen kannst du mich nicht.«

»Wie du willst.« Tymur zuckte die Schultern. Seinem Plan konnte es egal sein. »Gehen wir schlafen. Warten wir. Und dann schlagen wir sie mit ihren eignen Waffen.«

Es war zu schade, den Wein auf dem Tisch stehen zu lassen. Kev schüttete den letzten Rest Wasser aus seiner Trinkflasche und füllte den Wein um, damit er am anderen Tag etwas davon hatte, und als er dann Tymur zugrinste, waren Zwietracht und Misstrauen wieder vergessen und sie wieder zwei Verbündete, unterwegs, es den Dämonen heimzuzahlen.

Der Schlafsaal war kalt und muffig, als ob ihn lange niemand benutzt hätte. Tymur sog witternd die Luft ein, wartete auf diese bestimmte metallische Note, die verriet, ob an einem Ort viel Blut vergossen worden war, doch er roch nichts davon. Es musste nichts heißen, Kev hatte derart ausgedörrte Leichen beschrieben, dass es schien, als ob die Dämonen keinen Tropfen des kostbaren Blutes vergeudeten, ihre Opfer bis zum Letzten aussaugten und alles, was diesen Menschen einmal ausgemacht hatte, auf den Dämon überging.

»Na dann, gute Nacht«, sagte Kev und ließ sich auf die nächstbeste Bettstatt fallen, schob sich im Liegen die Schuhe von den Füßen, drehte sich auf die Seite und begann zu schnarchen. Tymur hatte ihn schon überzeugender betrunken spielen sehen, aber es musste auch so gehen, und jeder andere wäre es nach dieser Menge auch wirklich gewesen.

Tymur streckte sich aus, zog sich die Decke bis zum Kinn und wartete. Er lauschte in die Stille, oder zumindest die Stille, die einkehrte, nachdem Kev das falsche Schnarchen einstellte und einschlief, um nur noch leise vor sich hin zu grunzen. Nichts rührte sich, egal, wie lange Tymur wartete. Dann, langsam und leise, glitt er aus dem Bett.

Auf Zehenspitzen schlich Tymur durch das Haus. Er brauchte kein Licht, fand sich auch so zurecht. Kannte man eines von diesen Gasthäusern, kannte man sie alle, und die Wirtsleute hatten ihre Zimmer praktisch auch immer an der gleichen Stelle.

Der erste Raum, den Tymur öffnete, war voller Körbe. Hatte der Wirt also tatsächlich ein zweites Standbein? Es sollte Tymur recht sein, Körbe störten ihn nicht, selbst wenn sie nur halbfertig waren und ihn aus dem Dunkel anstarrten wie stachelige Gerippe. Im Raum daneben schlief der Wirt.

Der Dolch, den Tymur aus Trastell mitgebracht hatte, war ein wenig zu grob für seinen Geschmack, wirklich mehr für Briefe gedacht als zum Morden, aber dafür hatte er einem echten Dämon gehört. Und vielleicht war er ja gar nicht so schlecht, wenn er erst einmal Blut getrunken hatte.

Tymur zog die Decke weg, zielte und stieß dem Schlafenden die Klinge tief in die Brust: die einfachste Möglichkeit, herauszufinden, wer Dämon war und wer Mensch. Der Dolch tat, was er sollte. Der Mann rührte sich nicht, machte nur das übliche überraschte Geräusch eines Sterbenden, der nicht mehr wusste, wohin mit der letzten Luft seiner Lungen. Blut sprudelte aus seiner Brust, auf Decke und Bett und Leichnam.

Kev hatte recht. Es war besser, einmal zu oft den Falschen zu verdächtigen, als sich überrumpeln zu lassen. Tymur wischte Hände und Dolch an der Bettdecke ab. Zeit, sich schlafen zu legen. Zumindest in diesem Haus konnte ihnen heute Nacht nichts mehr passieren.