SECHZEHNTES KAPITEL

Rein in die Burg, raus aus der Burg … Tymur wusste, was er da tat, er hatte langjährige Übung darin, unbemerkt zu kommen und zu gehen, und mehr als nur ein Eisen im Feuer. Angst hatte er keine. Was sollte schon passieren? Selbst wenn er seinem ärgsten Feind in die Arme laufen sollte – was wahrscheinlich sein Bruder Vjasam war –, konnte der ruhig versuchen, Tymur etwas zu tun! Unverwundbar und unsterblich, und mit einem neuen Dolch aus Eissilber in der Tasche, gab es nichts mehr, was ihn aufhalten konnte.

Die Dunkelheit bot Tymur Schutz und Deckung, als er sich den Burgberg hinaufarbeitete. Er wusste genau, wo er zu gehen hatte, wann auf der linken Seite des Weges und wann auf der rechten, um nicht bemerkt zu werden. Die Leute mochten denken, dass Tymurs schwarze Kleidung nur eine Marotte war, in Wirklichkeit jedoch fiel er in den dunklen Sachen am wenigsten auf, wenn er sich nachts aus der Burg und wieder zurück schlich.

Arbeit blieb es trotzdem. Wer auf Burg Neraval lebte, der verließ sie nicht ohne triftigen Grund und nicht nur für ein paar Minuten. Der Berg, zu hoch und zu steil zum Reiten und erst recht für Kutschen, musste zu Fuß bezwungen werden. Der reguläre Weg mit seinen Serpentinen war lang und ging gehörig auf die Knie, die schmalen Stiegen dazwischen verkürzten die Strecke zwar, machten sie dafür aber umso anstrengender.

Tymur schwitzte nicht gern, und noch weniger gern kroch er schmutzige Leitern hinauf, deshalb nahm er üblicherweise den langen Weg. Über Generationen hinweg hatten die Damarels ihren Urvater verflucht, der seine Burg ausgerechnet dorthin hatte setzen müssen, wo Menschen und Handelswaren nur unter allergrößter Anstrengung hingelangten und der Platz so beengt war, dass man hoch und höher bauen musste, mit immer noch mehr verhassten Treppen, bis die unproportionierte Burg einen völlig grotesken Anblick bot, wie sie da auf ihrem Felsen saß wie eine gerupfte Krähe auf einem Stein.

Jetzt natürlich musste Tymur zugeben, dass die Burg dafür auch nahezu uneinnehmbar war. Selbst wenn Lorcan und seine Leute unten die Vorburg überrannten und sich an den Aufstieg machten, konnten die Roten Flammen froh sein, wenn ein Zehntel von ihnen lebendig oben ankam, die königlichen Bogenschützen mussten einfach nur Salve um Salve in den Tross feuern, der sich schnaufend den Berg hinaufwälzte. Aber die Roten Flammen würden trotzdem genau das sein, was Tymur von ihnen erwartete: das perfekte Ablenkungsmanöver.

Wenn alle Augen auf Lorcan gerichtet waren, den abtrünnigen Steinernen Wächter mit seinen Horden, fiel niemandem auf, dass der wahre Feind schon längst im Innern der Burg war, unbemerkt hereinspaziert durch ein kleines Tor, von dem viele nicht einmal wussten, dass es existierte. So gut versteckt lag die Ausfallpforte, der ein strategisch platziertes Gebüsch einen guten Sichtschutz bot. Natürlich konnte man sich denken, dass es so eine Pforte irgendwo geben musste. In einer uneinnehmbaren Burg saß sonst die Königsfamlie bei einem Angriff prompt in der Falle. Durch die Ausfallpforte konnte man wichtige Leute aus der Burg schleusen oder versuchen, mit einem kleinen Trupp den nahenden Feind an der Flanke zu erwischen … Und für einen Prinzen, der unbemerkt im Schutz der Nacht in die Stadt wollte und wieder zurück, war sie geradezu perfekt.

Es war nicht der einzige Weg in die Burg, den Tymur bei seinen Ausflügen benutzt hatte. Oft genug war er auch einfach durch das Hauptportal spaziert – es hätte doch sehr viel Verdacht erregt, hätte sich der für seine Neugierde bekannte Prinz nicht regelmäßig bei Erkundungstouren blicken lassen. Jetzt jedoch kam ihm die verborgende Ausfallpforte genau richtig, und erst recht die Tatsache, dass er noch einen Schlüssel für sie hatte.

Ein kleines eisernes Schlüsselchen, passend für eine kleine, unscheinbare Tür – es nahm so wenig Platz weg, dass Tymur es zusammen mit seinem Siegelring und ein paar anderen Schätzen die ganze Zeit über an seinem Gürtel getragen hatte. Und selbst wenn er Messer, Schriftrolle, Gepäck und weite Teile seines Stolzes unterwegs verloren hatte, führte er doch noch immer diesen Schlüssel mit sich. Nicht leicht errungen, ein Liebespfand von einem, der nicht Tymur liebte – aber es hatte sich gelohnt, und wenn es nur für diesen einen Augenblick war.

Gredon, getreue Nachtwache an der Ausfallpforte – ein ewiger Platz in Tymurs Herzen sollte ihm gewiss sein. Er hatte sicher eine der undankbarsten Aufgaben der Burg, hockte hinter einem Eingang, an den nie jemand klopfte, und verbrachte seine Zeit mit Lesen. Und so war es weniger Tymurs Herz, an dem er interessiert war, als die Aussicht, an das ein oder andere Buch aus der königlichen Bibliothek zu kommen. Tymur sollte es recht sein – manchmal war es doch ganz erfrischend, sich nicht verstellen zu müssen. Gredon selbst wusste nur zu gut, dass sich niemand ausgerechnet in einen Langweiler wie ihn verlieben würde. Der Grund, warum man ihn hierher verbannt hatte, war wohl der, dass ihn auch sonst niemand ertragen mochte. So verband ihn mit Tymur die für beide Seiten angenehmste aller Zweckgemeinschaften: Der Mann war bereit, Tymurs Kommen und Gehen zu ignorieren, wenn der sich mit seinem eigenen Schlüssel hereinließ und ihn derweil nicht beim Lesen störte.

Tymur hielt den Schlüssel in der einen Hand, seinen Dolch in der anderen, als er leise die Zweige des Gebüschs beiseiteschob. Bis jetzt hatte ihn niemand entdeckt, das war gut: Die drei Wachposten, an denen er sich vorbeigeschlichen hatte, sahen dann jetzt auch nicht mehr als früher. Dämonen, Alfeyn, Menschen – es konnte Tymur egal sein.

Auf der anderen Seite der Tür brannte ein Licht, eine kleine Laterne nur, deren Schein von etwas verdeckt wurde – vielleicht von einem Wächter, vertieft in ein Buch. Die Ausfallpforte war gut versteckt und durfte sich nicht durch zu viel Licht verraten, aber immerhin, eine Laterne war der armen Wache vergönnt. Tymur indes nicht.

Seine Finger wussten, wo die Tür war, genauso wie seine Füße den Weg dorthin kannten. Der Schlüssel glitt ins Loch, ließ sich drehen wie immer, und Tymur lauschte mit gespitzten Ohren auf jedes Geräusch. Er hielt sich geduckt, falls jemand durch das kleine vergitterte Guckloch hinausschauen sollte, aber spätestens jetzt war klar, dass jemand da war. Jemand, der einen Schlüssel hatte. Alles war in Ordnung …

Die Tür glitt auf und der Schlüssel zurück in Tymurs Ärmel. Ein Spalt nur, und er war hindurch, doch da hatte er bereits eine Hand auf der Schulter liegen. »Wer ist da?«

Tymur gluckste. »Keine Sorge, Gredon, ich bin das nur, Tymur Damarel.« Er hätte es schlimmer treffen können, mit fremden Wachen, die zuschlugen, statt zu fragen, aber warum hätte man den treuen Gredon ersetzen sollen? Und einen Dämon auf diesen Mann zu verschwenden, wäre Unsinn gewesen – oder etwa nicht?

»Prinz Tymur?« Gredon ließ ihn los und leuchtete ihm mit der Laterne direkt ins Gesicht. »Aber Ihr seid … Man sagt, Ihr wäret verschollen!«

»Sehe ich so verschollen aus?« Tymur schüttelte den Kopf. »Ich war nie fort, ich war die ganze Zeit über unten in der Stadt und habe es mir gutgehen lassen; einmal mein eigener Herr sein …«

»Das soll ich Euch glauben?«

Tymur seufzte. »Wir hatten einen Pakt, Ihr erinnert Euch? Ich bringe Lektüre mit, und Ihr stellt keine Fragen. Aber ich bin selbst schuld, ich habe nichts zu lesen für Euch dabei. Ich bin ein Feigling, jetzt ist es heraus. Die Truppen dieses Bauernaufstands stehen vor dem Tor, rennen uns morgen die Stadt ein – ich hänge an meinem Leben, und wenn ich irgendwo sicher bin, dann hier auf der Burg. Ich verspreche, ich esse niemandem etwas weg, ich suche mir ein stilles kleines Versteck, bis alles wieder vorbei ist, aber ich habe nie kämpfen gelernt und mag nicht dran denken, was mir passiert, wenn mich unten in der Stadt einer dieser blutrünstigen Bauern in die Fänge bekommt.«

»Und das ist alles?«, fragte Gredon. »Ihr kommt nicht, den König zu warnen, mit einer wichtigen Botschaft?«

Tymur lachte. »Wenn ich so etwas hätte, würde ich mich nicht zur Hintertür hineinschleichen, nicht wahr? Ich bin wirklich nur auf der Suche nach einem Unterschlupf. Verratet keinem, dass Ihr mich gesehen habt, und mein erster Weg führt mich in die königliche Bibliothek und zurück mit einem Buch, das ihr noch nicht kennt – Tierkunde und Botanik ist Euch das Liebste, das weiß ich ja.«

Er beobachtete den alten Wachmann, während er sprach. Der Gredon, den er kannte, konnte mit Botanik nichts anfangen, er wollte unterhalten werden, Heldengeschichten hatten es ihm angetan. Wusste ein Dämon, der sich seiner bemächtigt hatte, dieses Detail? Aber Gredon sagte nichts und schien seinerseits Tymur im Auge zu behalten …

Es war egal. Tymur war nicht um Gredons willen hier, der Mann hatte seine Schuldigkeit schon vor Langem getan und lebte nur noch deshalb, weil Tymur schon vor Jahren erkannt hatte, dass der Moment kommen würde, in dem er Gredon als Wache hinter der Ausfallpforte brauchte und keinen anderen. Dieser Moment war jetzt. Und dann musste Tymur es auch nicht mehr drauf ankommen lassen. Gredon war gerüstet, natürlich. So ein Kürass schützte gegen Schwerthiebe, selbst ein Rapier rutschte daran ab, aber gegen einen heimtückischen Mörder schützte es erstaunlich wenig.

Tymur musste nicht immer aufs Herz zielen. Ein glatter Schnitt durch die Kehle tat es auch, und die Kehle war lächerlich ungedeckt mit einem Kürass. Tymur musste nur schnell genug in Gredons Rücken kommen, Kehlen griff man von hinten an, und dann – dann zeigte sich, wie scharf so ein Dolch aus Eissilber wirklich war.

Gredon war wohl wirklich kein Dämon, sonst hätte er anders reagiert, als Tymur hinter ihn schlüpfte; er ließ ihn gewähren, wie es kein Dämon getan hätte. Tymur zögerte nicht, als er Gredon die Kehle durchschnitt. Niemand durfte wissen, dass er in der Burg war und wo.

Gredon starb ohne einen Schrei – Tymur wusste, was er tat. Die Leichtigkeit des Eissilbers machte das Schneiden zur Freude, es ging so spielerisch von der Hand, dass Tymur, auch wenn alle Dämonen besiegt waren, auf Waffen aus Eissilber setzen würde. Wenn ihm der Dolch nur nicht vorher schon zerbrach! Tymur hätte Askir bitten sollen, ihm noch ein paar Messer in Reserve zu machen – aber so war es nun einmal, er hatte diesen einen Dolch und diese eine Nacht.

Im Tod gelang Gredon sogar, was er im Leben nicht geschafft hatte: Er wurde unterhaltsam. Sein Blut spritzte auf die Wand, vielleicht sogar bis zur Tür, und Tymurs Hand bekam ihren Teil ab, aber bis auf seinen Ärmelaufschlag blieben seine Kleider sauber. So sollte es sein. Man konnte ein Mörder sein, ohne gleich wie einer auszusehen. Tymur nickte zufrieden, als er den Dolch an seinem Schnupftuch abwischte und sich die Hand abtupfte.

Leise schloss er die Ausfallpforte hinter sich ab. Bis sie am anderen Morgen die tote Nachtwache fanden, war es zu spät. Tymur war in der Burg. Und bis Lorcan eintraf, sollte nicht mehr viel für ihn zu erledigen übrig sein.

Hastig blickte Tymur sich in der Wachstube um. Auf dem kleinen Tisch stand Gredons Leselampe, nicht dazu gedacht, herumgetragen zu werden. Ein zerfleddertes Buch lag daneben – eine Sammlung von Heldensagen, und nach ihrem Zustand zu urteilen hätte Gredon sie längst auswendig kennen müssen. Auf einem Zinnteller lag die Nachtvesper des Mannes: ein Stück Brot, etwas Käse, ein Apfel vom letzten Jahr. Da Gredon nichts mehr davon brauchen würde, nahm Tymur das Essen mit, nur den Krug mit Wein, so stark verdünnt, dass nicht mal mehr ein Hauch von Aroma blieb, ließ er stehen.

Von der Wand nahm Tymur eine Fackel, im Keller war es sonst zu dunkel, und dafür waren sie schließlich da. Neben dem Halter sprang ihm etwas ins Auge – eine Furche in der Wand. Er lächelte, als sein Blick ihr nach oben folgte. Da saß ein Fallgitter, Tymur konnte sich nicht erinnern, es jemals unten gesehen zu haben, aber wenn der Feind versuchte, zur Ausfallpforte einzudringen, konnte man das Gitter herunterlassen und verhindern, dass etwas hereinkam. Oder aber hinaus …

Lorcan würde ihm noch danken! Da war der Hebel in der Wand, mit dem man das gute Stück herunterlassen konnte. Tymur dachte gerade noch dran, auf die richtige Seite des Gitters zu treten, bevor er den Hebel zog. Wenn er den Mechanismus so sabotierte, dass sich das Gitter nicht mehr ohne Weiteres wieder hochziehen ließ … Dann saß zwar auch er in der Burg fest, aber er würde derjenige sein, der am Abend mit den Siegern blutbefleckt aus dem Haupttor schreiten würde.

Womit Tymur aber nicht gerechnet hatte, war der Krach, den das Ding im Herunterkommen machte. Es ratterte, während sich irgendwo in der Wand eine Kette abrollte, dann knallte das Gitter auf den Steinboden, als wollte es noch eine Etage weiter unten landen. Tymur unterdrückte einen Fluch, doch es war zu spät – schwer vorstellbar, dass nicht die halbe Burg das Getöse gehört haben sollte! Er hielt die Luft an und lauschte, die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Dann zählte Tymur die Sekunden: Wenn eine Minute lang nichts passierte, würde es das auch nicht mehr, aber er war noch nicht bei dreißig angekommen, als eine entfernte Stimme durch den Keller hallte. »He! Alles in Ordnung da unten?«

Tymur atmete durch. »Alles in Ordnung!«, rief er dann und gab sein Bestes, Gredons Stimme zu imitieren. »Ich hab nur das Gitter runtergelassen, falls morgen wer versucht, hier reinzukommen. Sicher ist sicher!« Er biss sich auf die Zunge. Nicht zu viel reden. Wachmänner quatschten keine Bücher – wobei, Gredon vielleicht schon.

»Kann das nicht bis morgen warten?«, kam die Stimme zurück. »Du weckst die halbe Burg auf!«

»Tschuldigung!«, brüllte Tymur zurück, und als dann alles still war, nickte er zufrieden. Es war doch ganz gut gewesen, so viel Zeit mit der Dienerschaft verbracht zu haben. Aber wenn er jetzt nicht machte, dass er fortkam, beschrie er sein Glück zu sehr.

Hilflos starrte Tymur den Hebel an der Wand an und hatte keine Ahnung, wie er den Mechanismus blockieren sollte. Kev, natürlich, der hätte jetzt das passende Werkzeug hervorgezogen und mit zwei, drei Handgriffen das Fallgitter außer Gefecht gesetzt, natürlich nicht ohne zu murren, dass er ein Fälscher war und kein Uhrmacher oder Schmied oder wer immer Fallgitter baute, aber Kev war nicht da. Dann musste es eben so bleiben. Ja, das Gitter würde sich wieder hochziehen lassen, aber das sollte jeden, der in diese Falle lief, so viel Zeit kosten, dass man ihn dort einfach einsammeln konnte.

Tymur zündete die Fackel an der Laterne an und schlich davon, schloss die Tür hinter sich, damit der Tote nicht so schnell auffiel, und machte sich aus dem Staub. Sein Plan war einfach: Noch ehe es Tag wurde, wollte er seine Brüder töten, alle vier, und zum Schluss noch den König. Vier Brüder, vom jüngsten zum ältesten, so lange hatte Tymur sich schon darauf gefreut …

Aber während er sich auf Zehenspitzen durch den Keller arbeitete und versuchte, die Fackel so zu halten, dass sein Schatten immer hinter ihm blieb, verstand er, dass er noch etwas zu tun hatte. Es gab eine Sache, um die er Kev beneidete. Der Fälscher hatte ihm einen ganzen Keller voller Leichen voraus, und Tymur war felsenfest überzeugt, dass es so etwas auch auf der Burg Neraval geben musste.

Zwar schmälerte es die Freude, seine Brüder zu töten, wenn er wusste, dass die schon längst tot waren – aber das wusste er auch so, und er wollte sehen, wer sonst noch dabei war. Und für den Fall, dass es hinterher Ärger wegen des Königsmordes geben sollte und die Leute Tymurs Anrecht auf den Thron nicht anerkennen wollten, war es gut, sie zu diesen Leichen zu führen, schon um den Beweis zu erbringen, dass er selbst nicht darunter war.

Die Keller der Burg Neraval waren ausgedehnt, ein Labyrinth von Fluren und Räumen. Das Wenigste davon wurde genutzt, ein Teil diente der Kaserne, ein Teil waren Lager, aber es gab genug Räume, in die niemand jemals einen Fuß gesetzt hatte – Platz, um Dutzende von Toten zu stapeln, ohne dass jemand darüber stolpern würde.

Tymur versuchte, seiner Nase zu folgen. Der Geruch des Todes sollte ihn doch anziehen wie der Unrat die Fliegen! Hier unten gab es so wenige andere Dinge, die nach viel gerochen hätten – Holz, Stein, Feuchtigkeit, das Übliche eben, aber Tod – Tod überlagerte alles. Es gab gut über hundert Leute in der Burg, die man alle getrost töten konnte – wo steckten die?

Die Burg Neraval hatte Tymur zurück, im Guten wie im Schlechten. In den dunklen, menschenverlassenen Kellergängen verwandelte sich Tymur zurück in den abenteuerlustigen kleinen Jungen, der jeden einzelnen Winkel der Festung erkunden musste in der Hoffnung, dass sie irgendwann anfing, sich wie ein Zuhause anzufühlen. Er versuchte sich zu erinnern, was hinter welcher Tür lag, aber sie sahen sich alle viel zu ähnlich, und hinter allen, die er ausprobierte, gähnten leere oder zumindest langweilige Räume. Auch wenn er sich einbildete, dass da irgendwo in der Ferne etwas seine Nase kitzelte, fand er doch nie diesen Hauch des Todes, nach dem er suchte. Es half nichts, Tymur musste sich damit abfinden, dass er kein Hund war. Reichte es nicht aus, dass die ganze Burg nach Tod riechen würde, wenn er mit ihr fertig war?

Als er sich daran machte, die Kellertreppe hochzuschleichen, begriff Tymur, dass er die Zeit völlig aus den Augen verloren hatte. Er hatte keine Ahnung, ob gerade die erste Stunde geschlagen hatte oder die vierte, und das war nicht gut. Er war selbst schuld, er hatte sich in einer Fantasie verloren, statt sich an die Wirklichkeit zu halten, und nun war die Zeit knapp. Konnte er noch alle Brüder schaffen? Was war mit deren Frauen? Tymur musste zugeben, dass er gegen seine Schwägerinnen eigentlich nichts hatte. Allerdings auch nichts für sie. Sie hatten ihre Gemächer, ihre Zofen, ihre Kämme und ihre Spiegel, waren schmückendes Beiwerk, für die nicht vorgesehen war, ein Leben außerhalb ihrer Kemenaten zu führen und eigentlich auch nicht innerhalb. Sie traten zu festlichen Anlässen als Zierden ihrer Gatten auf, und ob sie über all dem glücklich oder unglücklich waren, konnte Tymur gleich sein.

Seit sein Bruder Vjasam geheiratet hatte, war alle zwei Jahre eine weitere Prinzessin in die Burg gezogen und irgendwo in ihren Tiefen verlorengegangen, hübsche junge Frauen, mit denen Tymur kaum jemals einen Satz gewechselt hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, dass sein Vater ihn nie verlobt oder auf Brautschau geschickt hatte, aber vielleicht schauderten sie auch einfach alle bei der Vorstellung, ausgerechnet Tymur würde Nachwuchs zeugen.

Ohne von einer einzigen Wache gesehen zu werden, schaffte Tymur es in den Wohntrakt der Burg. Es war an der Zeit, die Fackel loszuwerden – durch die schmalen Fenster fiel zumindest ein wenig Nachtlicht herein, und hier oben war die Dichte an Wachleuten um Längen größer als unten. Tymur erstickte die Fackel und steckte sie in einen ungenutzten Wandhalter, wo sie niemandem auffallen würde. Er musste mehrmals zwinkern, um überhaupt wieder die gröbsten Umrisse ausmachen zu können, aber ihm blieben immer noch seine Ohren, und da, wo es dunkel war, da stand er sicher – die Wachen hatten Lampen, damit verrieten sie sich ihm. Der Dolch lag gut in seiner Hand.

So leise bewegte sich Tymur, dass selbst er seine eigenen Schritte nicht hören konnte. Nur sein Herz klopfte lauter, als ihm lieb sein konnte. War das etwa Angst? Oder Vorfreude? Tymur kannte die Antwort. Er fürchtete sich vor nichts. Er durfte nur keine Fehler machen. Seine Brüder lagen in ihren Betten und ahnten nichts, aber jeder Einzelne von ihnen hatte zwei Wachen vor seiner Tür stehen. Zwei, das war nicht so gut. An eine konnte Tymur sich heranschleichen, aber er konnte nicht zwei gleichzeitig töten, und es reichte, wenn einer Alarm schlug.

Tymur seufzte. Sein Plan sah zwar großzügig vor, jeden in der Burg zu töten, doch die Wirklichkeit verlangte, dass er ein paar Abstriche machte. Hatte er wirklich erwartet, dass es so einfach ginge? Auf leisen Sohlen suchte Tymur die Gemächer des einzigen Prinzen auf, der keine Wachen vor der Tür stehen hatte: seine eigenen. Dort war der beste Ort, sich zu verstecken, dort würde ihn wirklich niemand suchen. Und wenn er wieder zwischen seinen Schätzen saß, kam ihm vielleicht eine Idee, wie er an seine Brüder herankam.

Tymur fand die Tür unbewacht und unverschlossen. Das eine freute ihn, das andere gab ihm zu denken. Wer immer in der Zwischenzeit dort gewesen sein mochte, hätte zumindest wieder abschließen können! Leise öffnete er die Tür. Es war dunkel, doch der Geruch, der ihm entgegenschlug, war falsch – Tymur mochte es, sich mit angenehmen Düften zu umgeben, ein Hauch von Lavendel hier, eine dunkle Rose da – aber alles, was er roch, war Staub. Und durch das Licht, das zum Fenster hereinfiel, sah er auch, warum: Das Zimmer war leer.

Die Möbel standen noch da, natürlich – das Himmelbett allein hätte niemand durch die Tür bekommen, man musste damals die Burg darum herumgebaut haben. Doch alles, was dieses Zimmer einst zu Tymurs gemacht hatte, fehlte nun. Er fand eine Kerze neben einer Dose Zündhölzer und nutzte sie auch, hier konnte er sich wieder ein bisschen Licht erlauben, und sah seinen ersten Eindruck bestätigt.

Die Bilder, mit denen er die kahlen Wände verschönert hatte, waren fort, ebenso die Wandbehänge. Die Tür seines Ankleidezimmers stand offen und versprach gähnende Leere. Dass hier inzwischen nicht längst ein anderer wohnte, war auch schon alles. Es hätte Tymur zornig machen sollen, aber stattdessen fühlte er sich so leer wie das Zimmer. Er war gekommen, seine Familie zu töten, aber vorher hatten sie ihn aus der Burg getilgt, als hätte es ihn nie gegeben.

Nicht einmal den Wandspiegel hatten sie ihm gelassen, damit es für den unwahrscheinlichen Fall seiner Rückkehr nicht das kleinste Abbild von ihm an diesem Ort mehr geben würde. Tymur bleckte die Zähne zu einem Lächeln, von dem er beinahe froh war, es nicht sehen zu müssen. Man hatte ihm nur die Arbeit abgenommen, seine persönlichen Besitztümer selbst ins königliche Schlafgemach transportieren zu müssen. Dies war das Zimmer eines Prinzen, und wenn die Sonne das nächste Mal unterging, war Tymur keiner mehr.

Das Bettgestell sah aus wie ein Skelett ohne seine Vorhänge, doch immerhin hatte man ihm die Matratze gelassen. Tymur zögerte kurz, dann legte er sich hin, mit Kleidern und Schuhen und allem. Er hatte nicht vor zu schlafen, aber dafür hatte er dieses Bett auch kaum jemals genutzt. Zum Nachdenken hingegen war es exzellent. Zum Planen.

So viele schlaflose Nächte hatte Tymur dort gelegen und in den Betthimmel gestarrt, auf die Bilder einer bewölkten Nacht mit fünf blitzenden Sternen, und sich genüsslich seinen Mordplänen hingegeben, lange bevor er den ersten davon in die Tat umgesetzt hatte. Von Tymur mochte es keine sichtbaren Spuren in diesem Zimmer mehr geben, aber die Geister seiner bitterbösen Träume hingen noch immer in diesem Betthimmel, und wenn sie ihm einmal zur Inspiration gereichten, war das nur gerecht.

Tymur hatte versprochen, Lorcan das Burgtor zu öffnen, das von mehr als zwei Männern bewacht war, und wenn er sich noch nicht einmal an die Nachtwachen auf dem Flur herantraute, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen, zu Lorcans Lager zurückzuschleichen und zu gestehen, dass er versagt hatte. Und Versagen stand nicht zur Debatte.

Schritte auf dem Flur. Blieben stehen. Zögerten. Witterten. Tymur hielt die Luft an. Draußen war ein Wächter, der bemerkt hatte, dass jemand in diesem Zimmer war. Und nichts hätte Tymur gelegener kommen können.

Tymur glitt aus dem Bett mit einer Geschmeidigkeit, die er an genau diesem Ort erworben hatte, blies die Kerze aus und schlich zur Tür, den Dolch in der Hand. Unter dem staubigen Teppich lagen alte Holzdielen, von denen einige wirklich ächzen konnten, nicht jedoch unter Tymurs Füßen. Neben der Tür blieb er stehen, und das keinen Augenblick zu früh: Die aufmerksame Wache kam herein.

Tymur hielt still, um sich nicht durch Atmen oder Rascheln zu verraten, bis die Wache die Tür halb aufgeschoben hatte und sich hindurch. Der Mann hatte eine Laterne mitgebracht. »Hier ist doch jemand –«, fing er noch an und hätte es besser wissen müssen. Lernten die denn in ihrer Ausbildung gar nichts mehr? Der erste Ort, an dem man nachschauen musste, war hinter der Tür. Dass der Mann das nicht wusste, kostete ihn nun das Leben.

Tymur fing die Laterne auf, bevor noch ein Unglück passierte, und ließ den Mann umfallen – es ging nicht anders, er hatte zu wenig Arme. Der Teppich dämpfte das Geräusch der zusammenbrechenden Wache und sog allzu begierig das sprudelnde Blut aus der klaffenden Kehle auf. Schade darum war es nicht: Wäre der Teppich auch nur von irgendeinem Wert gewesen, man hätte ihn zusammen mit dem Rest abtransportiert. Jetzt war er zur rechten Zeit am rechten Ort. Tymur lauschte durch die offene Tür, doch der Flur war still. Gut. Trotzdem, der Tote konnte da nicht liegen bleiben. Tymurs einstiges Zimmer war eine vortreffliche Falle, ein Spinnennetz, das in dieser Nacht noch viele Fliegen fangen sollte, aber die Tür musste frei bleiben. Tymur seufzte, als er den Mann beim Arm packte und tiefer in den Raum schleifte.

Es gab leichtere Aufgaben, als Tote durch die Gegend zu wälzen. Er zog den Mann, so weit er konnte, und ließ ihn dann liegen. Alles, was er von dieser Wache brauchen konnte, war die Lampe. Rüstung, Waffen, all das war egal. Mit der Laterne leuchtete er dem Mann ins Gesicht und versuchte sich an den Namen und den Klang seiner Stimme zu erinnern. Es fiel ihm nicht ein, doch es musste auch so gehen.

Er trat an die Tür, leuchtete in den Flur und lächelte. »He!«, rief er. »Schnell! Ich brauche Verstärkung!«

Dann wartete er. Er wusste nicht, wer seinen Ruf alles hören würde – mindestens die Wachen vor der Tür seines Bruders Antal, vielleicht auch die von Davron. So ein Ruf, da mussten sie nachschauen, was los war – zugleich aber durften sie ihren Prinzen nicht unbewacht lassen. Deswegen waren sie ja zu zweit: Einer ging nachsehen, der andere blieb auf seinem Posten. Mit zwei einzelnen Wachen kam Tymur zurecht. Und dann – dann hielt ihn nichts mehr davon ab, sich auch um seine Brüder zu kümmern.

Einen nach dem anderen. Geduldig hinter der Tür warten, angreifen, töten. Alles, was sich Tymur in seinem Leben beigebracht hatte, kam in diesem Moment zusammen. Er hatte noch nie so viele Menschen an einem einzigen Tag umgebracht – es fühlte sich großartig an, er fühlte sich großartig, aber er wusste, eine Nacht wie diese durfte sich nicht wiederholen. Ein einmaliger Höhepunkt seines Lebens, nur in dieser einen Nacht konnte er mit so vielen Morden durchkommen, und auch nur deshalb, weil am Morgen darauf Lorcan und seine Truppen so oder so ein Blutbad anrichten würden.

Gleich sein erster Lockruf brachte den gewünschten Erfolg. Tymur hatte zwar kaum Zeit, die erste Wache aus dem Weg zu räumen, als bereits die zweite auftauchte, aber wenn das seine einzige Sorge war! Drei erledigte Wachen in solch kurzer Zeit – Tymur konnte stolz auf sich sein.

Es war leicht, sich die Burgwachen als stumpfe Tropfe vorzustellen, aber das waren sie sicher nicht. Vor den Türen zweier Brüder stand jetzt nur noch jeweils eine Wache, und die wunderte sich, wo ihr Partner blieb. Wie wenig wachsam sie sonst um diese Zeit auch sein mochten, jetzt waren sie aufmerksam und misstrauisch und nicht so leicht zu überrumpeln – aber hatte Tymur jemals eine Herausforderung gescheut? Drei Tote hatte er in seinem Zimmer liegen, aber auch wenn noch viel Platz für mehr blieb, war es an der Zeit, diesen Raum zu verlassen. Während er sich ein letztes Mal umsah, mit gekräuselter Nase ob des jetzt doch sehr deutlichen Geruchs von Blut, fielen ihm auch nicht viele Gründe ein, jemals wieder hierher zurückzukehren.

Tymur schlich, wie er noch nie geschlichen war. Seine Füße schienen kaum noch den Boden zu berühren, und er fühlte sich, als ob er schwebte. Mit jedem Mord in dieser Nacht hatte er ein Stück seiner aufgesetzten Menschlichkeit abgeschüttelt, und darunter kam seine wahre Natur zum Vorschein, ein höheres Wesen, nicht gebunden durch weltliche Moralvorstellungen oder auch nur die Gesetze der Natur.

Seine Schritte führten ihn zu Davrons Zimmer, das am nächsten an Tymurs Gemächern lag und am weitesten von den anderen entfernt, und selbst wenn Tymur sich nicht entscheiden konnte, welchen Bruder er nun mehr hasste als die anderen: Davron, als der Jüngste der vier, hätte der Erste von ihnen sein müssen, ihn Bruder zu nennen. Es war nur gerecht …

Die Wache vor Davrons Tür war in der Tat wachsam, blickte immer wieder in die Richtung, in der sein Partner verschwunden war, und von da kam auch sein Mörder. Es ging nicht anders. Egal wie schwebegleich Tymur sich auch fühlen mochte, er konnte es sich nicht leisten, gesehen zu werden. Wenn der Mann nun Alarm schlug … Tymur musste ihn von hinten erwischen, so wie die anderen. Eine weitere Kehle von zu vielen in dieser Nacht …

Mit angehaltenem Atem pirschte Tymur sich so nah an sein Opfer heran, wie er sich das irgendwie erlauben konnte, ohne bemerkt zu werden. Er hatte den Flur im Blick, sein Ziel unübersehbar beleuchtet von einer Laterne, deren Lichtkegel gerade eben nicht bis zu Tymur reichte. Tymur biss sich auf die Zunge, als er seinen Siegelring aus der Tasche zog. Werfen konnte er gut. Der Ring flog durch das Dunkel, in hohem Bogen über den Wachmann und sein Licht, um auf der anderen Seite des Flures klirrend zu Boden zu fallen. Der Mann fuhr herum. »Wer ist da?«

Tymur lächelte, als er aus den Schatten vorwärtssprang. Der älteste Trick war eben immer noch der beste, und sein Dolch noch immer scharf. Es gab keinen Laut. Wer in dieser Nacht starb, starb leise. Am anderen Tag würde es ein großes Brüllen geben, ein Hauen und Stechen, doch das war nicht Tymurs Welt. Sein Meisterwerk sollte in dieser Nacht vollbracht werden. Und Davrons Gemächer waren jetzt unbewacht.

Die Tür quietschte kaum vernehmbar, als Tymur sie öffnete. Er verharrte einen Augenblick lang reglos und lauschte. Dann, immer noch auf Zehenspitzen, trat er ein. Die Prinzengemächer waren in einem seltsamen Sinn von Gerechtigkeit, der in dieser Welt eigentlich keinen Platz hatte, so angelegt worden, dass sie sich von Grundriss und Einrichtung her ähnelten. Vjasam, als der Älteste, hatte vielleicht ein etwas prachtvolleres Reich als die anderen bekommen, aber Davrons Räumlichkeiten waren Tymurs doch arg ähnlich. Der einzige Unterschied bestand darin, dass hier nicht nur Davron allein lebte. Auch seine Gattin musste in diesen Gemächern Platz finden, aber ob sie da war oder nicht, machte kaum einen Unterschied.

Die Frau teilte, wie Tymur schnell, mehr mit den Ohren als den Augen, herausfand, ein Bett mit ihrem Ehemann, doch zu sehr viel schien das nicht zu führen. Tymurs Brüder, einer wie der andere, waren so kinderlos geblieben, als ahnten sie bereits, dass Tymur plante, alles, was zwischen ihm und dem Thron stand, aus dem Weg zu räumen, und ob er vor einem Kind haltmachen würde …

Davron hingegen hatte lang genug gelebt. Und Tymur, froh, keine Leichen gefunden zu haben, wollte allzu gern glauben, dass der, der ihn sein Leben lang gepiesackt hatte, immer schon ein Dämon gewesen war. Jetzt schlief er also, so tief und friedlich, als könne er kein Wässerchen trüben, ahnte nicht, wer neben seinem Bett stand, auf ihn herabblickte, und lächelte. Es war zu dunkel, um Davrons Züge ausmachen zu können, er war nicht mehr als eine dunkle Gestalt, aber Tymur konnte sich die fehlenden Details denken, Davrons Gesicht, in dem er früher die Ähnlichkeit zu seinem eigenen gesucht hatte. Jetzt sollten sich ihre Wege, die nie eins gewesen waren, für immer trennen.

Vorsichtig schlug Tymur die Decke zurück, ohne Bruder oder Schwägerin dabei zu wecken. Er schluckte, als er erkannte, dass Davron mit vor der Brust verschränkten Armen schlief – nicht deshalb, weil er so schwerer an das Herz kam, sondern weil er wusste, dass er selbst genauso lag. Es war zu spät für brüderliche Ähnlichkeiten. Davron schlief tief und friedlich, das war Unterschied genug.

Tymur beugte sich vor, bis seine Lippen beinahe Davrons Ohr berührten und er die Haare seines Bruders im Gesicht fühlte. Davron schwitzte nicht einmal. »Mein Bruder«, flüsterte Tymur. »Mein heißgeliebter kleinster großer Bruder. Ihr wolltet nie mit mir spielen. Und habe ich euch das übelgenommen? Ach was! Sieh nur, jetzt spiele ich mit dir.«

Davron verzog im Schlaf das Gesicht, rümpfte die Nase, schürzte die Lippen und schlief weiter. Ganz sacht, damit der Schlafende nichts davon mitbekam, schob Tymur ihm den Arm beiseite. Einen letzten Moment sah er zu, wie sich die Rippen hoben und senkten, er nahm Maß mit den Augen, dann stieß er zu. Tymur prüfte die Klinge mit dem Finger, um zu sehen, wie das Eissilber sich hielt. Die Wachen, die er getötet hatte, waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, aber Davron stand schon so lange auf Tymurs Liste, nahm ihm der Dolch das etwa persönlich? Es schien alles in Ordnung zu sein. Drei Brüder waren übrig, und der Dolch wusste das.

Tymur nickte. Er warf einen letzten Blick auf Davrons Frau, die nichts von alledem mitbekommen hatte. Erst wollte Tymur auch sie töten, doch er ließ es bleiben. Irgendjemand musste diese Nacht ja auch überleben, und ihm gefiel die Vorstellung, wie sie am anderen Morgen wach werden würde, nass vom Blut ihres Ehemannes, und dann schreien und schreien und schreien … So ging er, ebenso leise und tödlich, wie er gekommen war.

Als Tymur in das Gemach seines Bruders Antal eindrang, fiel ihm auf, dass er besser sehen konnte, als er es sollte. Der Himmel hatte seine Farbe verändert, und das hieß, der Sonnenaufgang war nicht mehr fern. Tymur hatte zu viel Zeit verloren, um sich auch noch um Sandor und Vjasam kümmern zu können. Bis Lorcan das Stadttor durchquerte, war es nicht mehr lange hin, und dann hatte Tymur nicht nur am Burgtor zu sein, sondern musste es auch öffnen können.

Nun gut. Zumindest Antal sollte er noch schaffen. Antal hatte ohnehin keinen langen Tod verdient. Der mittlere Sohn, so überflüssig wie alles, was er anfasste. Er versuchte, den Mittelweg zu bestreiten – sprach den beiden älteren Brüdern nach dem Mund, tat alles, um zu den Großen gezählt zu werden, und hatte über all der Speichelleckerei vergessen, selbst so etwas wie eine Persönlichkeit zu entwickeln. Sogar wenn er Tymur triezte, fand er keine eigenen Beleidigungen, sondern plapperte nur nach, was andere vor ihm gesagt hatten. Wenn er jetzt starb wie Davron, ein billiger Tod aus zweiter Hand, passte das nur zu gut.

Da lag er in seinem Bett, so friedlich, so nichtsahnend wie Davron, machte es Tymur zu einfach, aber der beschwerte sich nicht … Dann verstand Tymur, dass etwas anders war. Antal lag in seinem Bett allein. Der Platz neben ihm, wo seine Ehefrau hätte liegen sollen, war leer. Die Decke war zerwühlt, sie verriet, dass dort noch vor Kurzem jemand geschlafen hatte, und Tymur wurde es mulmig zumute. Die Prinzessin am Leben lassen, darauf war er vorbereitet, aber er musste wissen, wo zum Henker sie steckte. Wenn sie nicht im Bett lag, war sie wach, irgendwo hier in den Gemächern … Sie musste zuerst sterben, es half nichts.

Die Frau war selbst schuld, sie hätte ja nicht aufstehen müssen. Wenn sie etwas gehört hatte, ahnte, dass etwas nicht stimmte – konnte sie dann nicht einfach liegenbleiben und sich schlafend stellen, wie sich das gehörte? Antal hatte eine Grafentochter geheiratet, wie seine Brüder, es gab zu viele Grafen in diesem Land und zu viele Brüder, aber Taranis brachte immerhin das an Charakter mit, was ihrem Mann fehlte. Tatsächlich hatte sich Tymur ein-, zweimal mit ihr unterhalten, sie war eine durchaus interessante Person und geradezu verschenkt an einen Mann wie Antal. Sollte es ihm nicht genügen, dass sie gerade nicht im Zimmer war? Tymur trat zum Bett, den Dolch in der Hand. Antal lag auf der Seite, drehte Tymur den Rücken zu, vielleicht wollte er die Klinge von hinten in die Rippen, Herz war Herz –

Diesmal flüsterte Tymur nicht. Taranis sollte wiederkommen und sich zurück zu ihrem Mann ins Bett legen, ohne zu merken, dass der nicht mehr lebte. Vielleicht schnappte sie gerade etwas frische Luft, sah am Fenster zu, wie der Himmel heller wurde, all die Dinge, die man tat, wenn man den Versuch, schlafen zu wollen, für einen Moment sein ließ und das Glück außerhalb des Bettes suchte …

So leise er konnte, schob Tymur die Decke beiseite – doch da fuhr Antal herum und packte Tymur beim Handgelenk, schneller, als der das kommen sah. Tymur verfluchte sich. Er war zu lange auf den Beinen, schwelgte zu sehr in seinen mörderischen Erfolgen, das hatte ihn nachlässig gemacht. Jetzt war es zu spät. Tymur versuchte, sich freizuwinden, aber dafür hätte er den Dolch loslassen müssen, und das kam gar nicht infrage.

»Da bist du ja«, sagte Antal. »Wir haben auf dich gewartet.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Tymur eine Bewegung hinter sich, in den Schatten, und biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Hinter der Tür. Taranis hatte in den Schatten hinter der Tür auf ihn gewartet, wo die Idioten niemals nachschauten. Tymur war ein Idiot.

»Was denn?«, sagte Antal. »So still? Kommst du nicht in mein Zimmer, um mich zu Hilfe zu rufen, kleiner Bruder?«

»Sei nachsichtig mit ihm«, sagte Taranis. »Er hatte eine lange Reise, und niemand ist da, um ihn zu begrüßen – wie einsam muss er sich da gefühlt haben!« Sie lachte auf eine Weise, wie Tymur noch nie jemanden hatte lachen hören außer Ililiané.

Tymur atmete durch. Man durfte ihn für einen Idioten halten oder einen Mörder, aber niemand sollte jemals von ihm sagen können, dass er um Worte verlegen war. »Wenn du weißt, weswegen ich hier bin«, sagte er, so ruhig er konnte, »dann kannst du mich ja jetzt wieder loslassen. Ich verschwinde in der Nacht, und du siehst mich niemals wieder.« Ahnte Antal, dass Tymur bereits Davron getötet hatte?

»Aber das Geschenk, das du mir mitgebracht hast!«, rief Antal. »Ich sehe es doch in deiner Hand. Dass du an mich gedacht hast, so fern der Heimat – das ehrt mich, das rührt mich!« Sein Griff war kräftig, seine Augen waren hellwach. Antal und Taranis hatten ihm aufgelauert, ihm eine Falle gestellt, und Tymur war prompt hineingetappt.

»Du bist nicht mein Bruder«, sagte Tymur. »Schenken wir uns die Lügen. Du bist nicht Antal, du warst es nie.«

Antal lachte leise und drehte Tymurs Handgelenk langsam und unbarmherzig nach außen. Es tat seltsam weh dafür, dass Tymur unverwundbar war, aber er gab keinen Laut von sich, zumindest keinen, der nach Schmerzen geklungen hätte.

»Ach, Tymur!«, sagte Antal. »Du änderst dich wohl nie. Denkst du nicht, du solltest dir langsam etwas Neues einfallen lassen?«

Tymur lächelte nur zurück. Er fragte sich, ob er Antal in Ailadredan begegnet war, und wer er dort gewesen sein mochte – sicher nicht der Hochfürst, Antal war und blieb ein kleines Licht. Vielleicht einer der Wachposten, der Wächter des Roten Tores oder gar der Hauptmann, der sie zu Ililianés Turm begleitet hatte?

Er fühlte eine Bewegung hinter sich, einen fließenden Schatten, und versuchte, den Dolch noch irgendwie freizubekommen, da hatte Taranis ihn Tymur auch schon aus der Hand gepflückt mit der anmutigen Bewegung einer geborenen Mörderin. Tymur war neidisch. Und entwaffnet.

»Was haben wir denn hier?«, fragte sie und lachte. »Eissilber, so? Lieber Schwager, das wäre doch nicht nötig gewesen!«

Tymur versuchte sich zu ihr umzudrehen, er musste den Dolch zurückbekommen. Antal ließ ihn nicht los, aber Taranis war eine zierliche Frau, wenn Tymur jemals jemanden überwältigen konnte, dann sie … Er schaffte es herumzufahren, aber darauf musste sie nur gewartet haben.

»Wo doch jedes gewöhnliche Messer für dich ausreicht«, sagte Taranis, als sie ihm die Klinge ins Herz stieß. Oder dorthin, wo andere Menschen ihr Herz trugen. Menschen, die sterben konnten …

Tymur schnappte keuchend nach Luft. Er hatte dieses Geräusch oft genug gehört, um zu wissen, wie es zu klingen hatte, und packte den Griff des Dolches, der aus seiner Brust ragte, als wäre es das Letzte, was er im Leben berühren würde. Antal ließ ihn los, als Tymur die Beine wegklappten und er zu Boden ging, und niemals war es Tymur schwerer gefallen, nicht laut loszulachen. Sie wussten es nicht. Taranis war nicht Ililiané. Da taten die beiden, als wären sie engste Familie, und wussten nicht, dass Tymur unverwundbar war – selbst gegen Eissilber. Niemals zuvor hatte ein Irrtum so köstlich geschmeckt.

Einen Augenblick lang lag Tymur da wie ein Toter, aber schon im nächsten Moment war der Dolch in seiner Hand statt in seiner Brust, ohne dass die beiden etwas davon gemerkt hätten. Tymur hielt die Luft an – sie konnten ihn doch nicht einfach so liegen lassen, mussten sich doch überzeugen, dass er wirklich tot war, und dachten sie etwa gar nicht an ihren guten Teppich? Da, Taranis beugte sich über ihn, das war sein Moment –

Mit einem Triumphschrei stieß Tymur ihr den Dolch in die Brust, zeigte ihr, wie das gemacht wurde. Was Tymur tötete, das starb auch wirklich. Dann stürzte er sich auf Antal.

Tymur stach und hackte auf seinen falschen Bruder ein, so wild und planlos und übertrieben, wie er noch nie zuvor jemanden getötet hatte. Er durfte nicht zulassen, dass Antal ihn noch einmal zu greifen bekam, sich zur Wehr setzte, den Kämpfer herauskehrte – es reichte Tymur aus, in dieser Nacht einmal gestorben zu sein, und das nicht wirklich. Man durfte sein Glück nicht beschreien.

Er ließ nicht ab, bis Antal auch wirklich dreimal tot war, aber danach tat sein Arm weh, und die Farbe der Nacht ließ keinen Zweifel mehr daran, dass ihr Ende gekommen war. Sandor und Vjasam hatten Glück, fürs Erste, und ahnten doch nichts davon. Jetzt war es an der Zeit, Lorcan in die Burg zu lassen und die Roten Flammen mit ihm.