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»Eins würde ich gern wissen, Kommissarin Marion.«

Marion betrachtete zerstreut den aufgeschnittenen Unterleib der auf dem Obduktionstisch liegenden Leiche. Wie im Traum hörte sie Dr. Marsals Worte. Sie fuhr zusammen.

»Wie bitte?«

Auf einen Schlag war sie in die deprimierende Atmosphäre des Leichenschauhauses zurückgekehrt.

»Ja, ja, ich hab’s ja schon immer gewußt, Sie interessieren sich nicht für das, was ich tue. Und für das, was ich sage, schon gar nicht.«

Der Gerichtsmediziner richtete sich seufzend auf und hielt Marion einen dunkelgrauen, blutverschmierten Gegenstand hin.

»Was meinen Sie, welches Kaliber? Acht Millimeter? Sehen Sie sich nur diesen Brei an.«

Marion beugte sich vor.

»Die Kugel hat den Körper nicht durchschlagen … Hohe Mündungsgeschwindigkeit?«

»Wenn Sie das sagen … Ich bin wirklich keine Expertin in diesen Dingen. Jedenfalls ein Volltreffer, mitten ins Herz. Da war ein guter Schütze am Werk.«

Marsal wandte sich wieder dem klaffenden Thorax zu, den Marcel mit Hilfe einer Schere geöffnet hatte, die so massiv war, daß man damit problemlos das Brustbein und die Rippen eines Menschen zerschneiden konnte. Der Gerichtsmediziner durchtrennte den Herzmuskel, klappte ihn auseinander und arbeitete sich bis etwa einen Zentimeter unterhalb des Aortenbogens weiter vor.

»Ah … Da ist ja noch eine!« rief er aus. »Soll ich die Projektile ins Labor schicken, damit die Ballistiker ihr Gutachten erstellen können?«

Marion sah keine Veranlassung, auf diese rhetorische Frage eine Antwort zu geben. Talon saß etwas abseits und hackte auf der Tastatur seines Laptops herum, ohne daß ihm ein Wort dessen entging, was Marsal in sein Diktiergerät sprach und später in seinem Bericht festhalten würde.

Die Kommissarin warf einen letzten kurzen Blick auf die Verwüstung, die der gute Schütze angerichtet hatte. Bei Obduktionen zugegen zu sein, war manchmal unumgänglich, generell hätte sie gern darauf verzichtet. Als Dr. Marsal ihr verkündete, daß der Tod sofort eingetreten sei, verspürte sie deshalb nicht das geringste Bedürfnis, seine Schlußfolgerung zu hinterfragen.

Der auf dem Obduktionstisch liegende Mann hieß Patrick Longe. Talon und seine Kollegen hatten noch in der Nacht herausgefunden, daß er Hauptfeldwebel bei den Landstreitkräften war, die in der Nähe von Landau in Garnison lagen. In Lyon war er nur auf der Durchreise gewesen, bei seinem Vater. Marsal verkündete, daß der Mann kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt habe, was angesichts des Lokals, vor dessen Tür man ihn zur Strecke gebracht hatte, niemanden erstaunte: Das Chambre Rouge war ein einschlägig bekannter Club im Zentrum von Lyon. Der Mord war in einer unbelebten Seitenstraße verübt worden; der einzige Zeuge, der das Geschehen beobachtet hatte, war ein runzliger Greis, der rund um die Uhr damit beschäftigt war, die Gäste des Lokals zu bespitzeln, und sich hin und wieder bei der Polizei mit Auskünften anbiederte.

Marion las laut vor, was auf dem Zettel stand, der am dicken Zeh der Leiche hing.

»Patrick Longe, zweiunddreißig Jahre, männlich.«

»Allerdings!« Marsal deutete mit einer ungezwungenen Geste auf das Geschlechtsteil des Toten, an dem er sich gerade zu schaffen machte.

»Talon, Sie sagten doch, er sei allein gewesen … Meines Wissens haben aber in diesem Etablissement nur Paare Einlaß.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Talon. »Ich werde mich dort noch mal umhören. Als ich diese Nacht am Tatort war, hatte der Laden schon zu. Vielleicht ist er früher als seine Frau gegangen.«

»Seine Frau?« wiederholte Marsal und schüttelte den struppigen Kopf. »Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß dieser Herr auch Männer auf seinem Speiseplan hatte. Jedenfalls war ihm Analverkehr nicht unbekannt. So, ich bin fertig.«

Er schnipste mit den Fingern und sah sich nach seinem duckmäuserischen Assistenten um.

»Du kannst ihn wieder zumachen, Marcel!«

»Das ist ja dann wohl ein Fall für die Sitte«, sagte Marion.

Talon wandte ein, daß die Leute von der Sitte die Ermittlungen doch nur in den Sand setzen würden und daß es sich um ein Gewaltverbrechen handele, der Fall also allein schon deshalb in den Händen des Kriminalkommissariats bleiben mußte. Marion entging nicht, daß in dem mürrischen Tonfall des Polizisten Verärgerung mitschwang.

»Was haben Sie denn plötzlich? Finden Sie nicht, daß wir schon genug Arbeit haben? Warum sollte ich auch noch das Feld meines Nachbarn beackern?«

Talon verbiß sich einen frechen Kommentar.

»Na los«, beharrte Marion schnippisch, »sagen Sie es doch ruhig, daß ich andererseits gerne meine Zeit mit dem banalen Selbstmord von Julie Rouvres verplempere. Und mit einer Vergewaltigung, die keine war.«

Talon klappte stöhnend seinen Macintosh zu und klopfte Marsal zum Abschied auf die Schulter. Während er und Marion auf die Tür zugingen, herrschte der Gerichtsarzt vom Waschbecken aus seinen Assistenten Marcel an.

»Bring mir das Desinfektionsmittel, du Idiot!«

»Ist alle, da muß ich erst los, neues holen.«

»Schwachkopf!« brummte Marsal. »Wenn ich mir jetzt einen Wundstarrkrampf hole, ist das deine Schuld!«

Marion hielt kurz inne, um noch einen Augenblick dem rituellen Schlagabtausch dieser beiden Junggesellen zu lauschen, die der permanente Umgang mit Leichen fast so zusammengeschweißt hatte wie ein zänkisches altes Ehepaar.

Auf der Treppe des gerichtsmedizinischen Instituts holte sie Talon ein. Im Laufe des Vormittags hatte ein Dauernieseln eingesetzt, und die dunklen, tiefhängenden Wolken waren nicht dazu angetan, gute Laune zu verbreiten.

Marion setzte sich ungefragt hinter das Steuer des schwarzen Peugeots und legte einen aufsehenerregenden Blitzstart hin, der eine Schar gurrender Tauben im Hof des Leichenschauhauses in Schrecken versetzte. Talon reagierte nicht, und Marion deutete seine Passivität als weiteren Vorwurf.

»Hören Sie, Talon, mir ist egal, was Sie denken. Der Staatsanwalt wird entscheiden, ob wir den Fall behalten oder nicht. Dieser Soldat …«

»… ist mir völlig Wurst«, fiel Talon ihr verärgert ins Wort.

Marion schwieg verdutzt.

»Warum ziehen Sie dann so ein Gesicht?«

»Meine Großmutter.«

»Wie bitte?«

»Meine Großmutter liegt seit gestern im Krankenhaus. Oberschenkelhalsbruch und dazu noch nervöse Störungen. Sie ist neunzig.«

»Tut mir leid, Talon«, seufzte Marion. »Aber Wunder gibt’s leider nicht, das wissen Sie selbst.«

»Ja, leider, Sie sagen es. Es kann sein, daß ich ganz plötzlich weg muß.«

»Natürlich, Talon, natürlich.«

Mit einemmal schlug sich Talon vor die Stirn.

»Ach ja, Chef, ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß gestern eine junge Frau angerufen hat, eine gewisse Diane Menu, sie wollte mit Ihnen über eine Freundin reden, die vergewaltigt worden ist.«

Marion warf ihrem Beifahrer einen Seitenblick zu und fragte in heuchlerischem Ton: »Warum sollte mich eine Vergewaltigung etwas angehen?«

»Sie sagt, daß sie in der Zeitung mehrere Artikel über den Fall Julie Rouvres gelesen und deshalb beschlossen hat, Sie anzurufen. Mehr weiß ich auch nicht.«

Er schwieg wieder, genauso mürrisch und verdrossen wie zuvor.

»Gibt’s sonst noch was?«

»Ja. Ich habe die vergrößerten Fotos des Brückengeländers und die Ergebnisse aus dem Labor bekommen.«

Er sah einem dicht vorbeifahrenden Militärlaster nach, der mit kahlgeschorenen, jungen Soldaten vollgestopft war.

Marion ahnte, daß jetzt ein Hammer kommen würde.

»Und?«

»Der Kugelschreiber aus der Pizzeria hat tatsächlich als Schreibwerkzeug gedient.«

»Ja, das wußte ich, danke.«

»Der Graphologe hat sein Gutachten noch nicht abgegeben, aber er ist sich zu achtzig Prozent sicher, daß es Julies Schrift ist. Und was den Inhalt der Kritzeleien betrifft … Das Labor meint, daß es drei Buchstaben sind.«

Als Talon wieder verstummte, wurde Marion ungeduldig. Am Ende der Straße tauchte bereits das graue, klobige Polizeipräsidium auf.

»Meine Güte, Talon, jetzt spucken Sie’s schon aus!« polterte sie. »Sie sind heute morgen wirklich anstrengend. Wie lauten die drei Buchstaben?«

»L. E. O.«

»L. E. O.« wiederholte Marion verständnislos. »Was soll das heißen?«

»Léo, das soll Léo heißen.«