Diesmal hatte Marion vor, nicht lange zu fackeln. Sie hatte noch Zeit gehabt, heiß zu duschen und einen gemütlichen Jogginganzug und ihre dicken Socken überzustreifen. Sie hatte sich erholt, war wieder einigermaßen energiegeladen und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
»Ich weiß, du findest mich unerträglich, aber ich bitte dich, mir zu glauben, daß das Ganze nichts mit uns beiden zu tun hat. Ich habe meine Gefühle nicht überschätzt, und ich habe vor niemandem Angst.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Langsam, mit verschlossener Miene, blies er den Rauch aus. Marion gab sich einen Ruck.
»Heute morgen habe ich mit dir über Julie Rouvres geredet und darüber, wie ihr Verlobter die Gefühle einschätzt, die sie dir entgegenbrachte. Du hast mir deine Sicht der Dinge erklärt, und ich habe dir geglaubt, weil ich dich liebe und weil ich davon ausgehe, daß du mir gegenüber ehrlich bist.«
Léo hatte ein paar Gläser getrunken, aber er hielt sich gerade, fast kerzengerade, und sein Blick war genauso klar wie seine Stimme.
»Muß ich mich dafür bei dir bedanken?«
»Aber trotzdem«, fuhr Marion fort, ohne auf seine schroffe Bemerkung einzugehen, »darf ich dich daran erinnern, daß du ›vergessen‹ hast, mir von dem Abend des Busstreiks zu erzählen, an dem du Julie heimgefahren hast. Laß mich ausreden!« sagte sie immer noch relativ beherrscht, als Léo ihr ins Wort fallen wollte. »Jetzt möchte ich etwas anderes von dir wissen: Kennst du eine junge Frau namens Carole Véron?«
Wie in Zeitlupe streifte er die Asche seiner Zigarette an einem Aschenbecher ab, den ein Werbeaufdruck zierte. Er runzelte die Stirn, als konzentrierte er sich darauf, die richtige Antwort zu finden.
»Ich weiß nicht, worum geht es denn?«
»Sie ist in ihrer Tiefgarage vergewaltigt worden, und auch wenn wir nicht genau wissen, was Julie Rouvres kurz vor ihrem Tod widerfahren ist, gehe ich jede Wette ein, daß es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden Fällen gibt.«
»Tut mir leid, ich verstehe kein Wort. Könntest du dich ein bißchen klarer ausdrücken?«
»Wie du willst. Julie Rouvres kannte dich und war, wie Johan behauptet, in dich verliebt. Nach einem mysteriösen Geschlechtsverkehr ist sie gestorben, und sie hat deinen Vornamen auf das Brückengeländer geschrieben. Carole Véron wohnt in der Rue Voltaire Nummer Vier, du in Nummer Zwei, und die Tiefgarage, in der sie ihre unschöne Begegnung hatte, gehört zu beiden Wohnhäusern. Das, was die beiden Fälle gemein haben, bist du, Léo.«
Léo ließ sich auf das Sofa fallen und schob einen Zeigefinger hinter den Kragen seines Polohemdes, dessen Blau genau zur Farbe seiner Augen paßte. Marion hielt inne, um seine Reaktion zu beobachten. Doch Léo verzog keine Miene. Sie holte kurz Luft.
»Ich gebe ja gern zu, daß du in dieser Stadt und ihrer Umgebung nicht der einzige Mensch bist, der Léo heißt. Aber so eine Kette von Zufällen ist schon merkwürdig: Julie hat ›Léo‹ auf das Brückengeländer geschrieben, und der Typ, der Carole Véron vergewaltigt hat, hat sie gezwungen, ›Ich liebe dich‹ zu sagen.«
Léo warf ihr einen Blick zu, mit dem er ein »Ja und?« andeutete.
»Er hat sie gezwungen, ›Ich liebe dich‹ zu sagen«, fuhr Marion fort. »›Ich liebe dich, Léo, ich liebe dich.‹«
»Das ist absurd.«
»So eine Geschichte kann sich die Frau nicht ausgedacht haben. Außerdem bin ich von mir aus zu ihr gegangen, weil sie gar nicht die Absicht hatte, wegen dieses … Zwischenfalls irgendwelche rechtlichen Schritte einzuleiten.«
»Hast du sie denn auch zu diesem geheimnisvollen Léo befragt?«
Marion rief sich das verstockte Gesicht von Carole Véron in Erinnerung, als sie die Worte des Mannes wiedergab, der sich an ihr zu schaffen gemacht hatte: »Sag, ich liebe dich, sag, Léo, ich liebe dich«. Carole hatte versichert, daß sie keinen Mann kannte, der Léo hieß, und in ihrer Bestürzung hatte Marion nicht weiter nachgehakt.
Sie schüttelte langsam den Kopf, und Léo stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Marion, glaubst du nicht …?«
»Ich weiß nicht, Léo, ich weiß gar nichts mehr. Das alles macht mich ziemlich fertig.«
Léo seufzte wieder, diesmal als Ausdruck seiner Zustimmung, und stand auf. Die Hände in den Hosentaschen, trat er ans Fenster und begann, wie Marion eine Stunde zuvor, nach draußen zu starren. Dann fiel sein Blick auf den Anrufbeantworter, auf dem noch immer eine rot leuchtende Dreizehn prangte.
»Hat er wieder angefangen?«
»Ja«, nickte Marion.
»Angerufen und gleich wieder aufgelegt?«
Sie beschloß, ihm später von den beiden letzten Anrufen zu erzählen, bei denen sie abgehoben hatte.
»Du mußt dein Telefon überwachen lassen«, sagte er und ging einen Schritt auf sie zu.
Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.
»Um mich total zu blamieren, oder was? Kommissarin Marion wird von einem Triebtäter belästigt … Ich sehe die Gesichter von den Leuten bei France Télécom schon vor mir, und erst den Kollegen, der meinen Antrag entgegennimmt. Innerhalb von einer Stunde weiß die ganze Kripo Bescheid!«
»Dann laß dir eine Fangschaltung installieren!«
»Die kann der Anrufer austricksen, wenn er schlau ist. Außerdem ist dieser Typ meiner Meinung nach viel zu gewieft, um von zu Hause aus anzurufen. Der geht bestimmt in eine Telefonzelle.«
Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, nur ein Meter trennte sie voneinander. Léo tat einen Schritt nach vorn, dann noch einen und nahm Marion in seine Arme. Sie ließ es geschehen, steif wie ein Brett. Léo streichelte über ihr Haar und ihren verspannten Nacken, den er vorsichtig zu massieren begann.
»Weißt du, Marion, die Art und Weise, wie du mich ausfragst, finde ich wirklich schwer zu ertragen.«
»Ich muß meine Ermittlungen voranbringen. Ich mache meinen Job.«
»Komische Art, seinen Job zu machen … Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen, und deshalb stehe ich dir Rede und Antwort. Am Tag, als Julie Rouvres gestorben ist, war ich mit Lavot zusammen. Es war der erste Abend, an dem wir die Typen wegen des Überfalls observiert haben.«
Das wußte Marion bereits. Unter dem Vorwand, alle in ihrem Team geleisteten Überstunden erfassen zu müssen, hatte sie Lavot dazu befragt, der ihr dasselbe wie Léo gesagt hatte. Bis auf ein Detail.
»Um wieviel Uhr habt ihr aufgehört?« fragte sie mit belegter Stimme.
»Um zwei. Ich selbst habe beim Wachdienst angerufen, um Bescheid zu geben.«
»Und ihr wart die ganze Zeit zusammen?«
Léos Hand, die über Marions Wirbelsäule strich, hielt inne.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will gar nichts sagen, ich stelle dir die Fragen, die der Untersuchungsrichter dir und auch Lavot stellen wird. Und die Antwort von Lavot darauf kenne ich.«
»Hast du ihn schon verhört?«
Marion ließ sich auf einen Stuhl sinken, der in der Mitte des Raums stand – man fragte sich, was er dort eigentlich verloren hatte. Die Tatsache, daß er sich direkt unter der Deckenbeleuchtung befand, legte die Vermutung nahe, daß er vielleicht dazu gedient hatte, die Lampe anzuschließen.
»Nein«, seufzte sie müde. »Ich habe ihn nicht verhört, ich habe ihn unter einem verwaltungstechnischen Vorwand gebeten, mir den Abend zu beschreiben. Er behauptet, du seist gegen dreiundzwanzig Uhr weggegangen und erst eine Dreiviertelstunde später zurückgekommen.«
Léo runzelte die Stirn, sichtlich bemüht, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Plötzlich fiel es ihm wieder ein.
»Ach ja! Das stimmt. Ich wußte nicht mehr, daß das an diesem Abend war. Er hatte einen Mordshunger, ich bin los und habe Sandwiches gekauft. Komisch, das hatte ich total vergessen …«
Lavot konnte sich aber gleich daran erinnern … Da sieht man mal wieder, wie vorsichtig man mit Zeugenaussagen umgehen muß, der Mensch hat eine ausgeprägte Fähigkeit, Dinge zu vergessen. Ausgerechnet während der knappen Stunde, in der dein Zeitplan ein Loch aufweist, ist Julie vergewaltigt worden und gestorben. Vielleicht bist du ja in die Pizzeria Ponti gefahren, um dir etwas zu essen zu besorgen? Die ist nicht weit von eurem Einsatzort entfernt. Als du dort ankommst, ist Julie auch da, sie bittet dich, sie nach Hause zu fahren, du spurst. Während der Fahrt macht sie dir schöne Augen. Du schaffst es nicht, nein zu sagen. Und danach, tja … Auf dem Rückweg fährst du jedenfalls bei irgendeiner Kneipe vorbei und besorgst etwas zu essen für Lavot.
Léo war schon beim nächsten Punkt, die Sache mit Julie Rouvres und die Frage nach seinem Alibi hielt er offenbar für geklärt.
»Was den zweiten Fall betrifft, da war ich doch hier bei dir. Wir haben Ninas Geburtstag gefeiert. Ich habe ihr die Häschen-Pantoffeln geschenkt, weißt du noch?«
Marion fuhr zusammen. Nicht wegen der Häschen-Pantoffeln.
»Wie kannst du wissen, an welchem Tag Carole vergewaltigt worden ist? Und um welche Uhrzeit es passiert ist?«
»Das hast du mir doch gesagt.«
Dann muß ich an Alzheimer leiden, ich kann mich nicht entsinnen, diesbezüglich Genaueres erläutert zu haben.
Léo redete weiter drauflos.
»Nina hat am 1. April Geburtstag, daran gibt es nichts zu rütteln, und die Frau, ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, die ist am gleichen Tag …«
»Ich habe dir das Datum nicht genannt, Léo!« Marion hatte das Gefühl, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. »Ich kann es dir gar nicht genannt haben, ich weiß es ja selbst nicht!«
Léo streichelte über die zarte Haut an ihrem Rücken bis hinunter zu den Hüften, hielt kurz inne und fuhr dann mit einer schüchternen und zugleich besitzergreifenden Geste über ihren muskulösen Po. Marion rollte sich rücklings auf das Bett. Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete sie. Die quälenden Sorgen des Tages, der viele Alkohol und die Müdigkeit schlugen sich in dunklen Ringen unter seinen Augen nieder. Auch sie wollte ihn streicheln, seine Lust wecken, wollte, daß er sie begehrte. Doch je näher sie ihm kam, desto mehr wich er zurück. Ihre ausgestreckten Hände griffen ins Leere. Léo war nur ein Bild, eine leere Hülle, ein Wesen so wenig greifbar wie ein Windstoß über dem Meer.
Marion zuckte zusammen und richtete sich auf. Die Nachttischlampe brannte, und sie trug noch immer ihren weißen Jogginganzug. Sie mußte am frühen Morgen irgendwann eingeschlafen sein und hatte von merkwürdigen erotischen Begegnungen geträumt. Durch die Fensterläden drang Tageslicht, es war acht Uhr. Léos Platz neben ihr war leer. Er war mitten in der Nacht gegangen und nicht zurückgekehrt.
Die Erinnerung an die vergangene Nacht brach sofort wieder über sie herein. Zuerst die Auseinandersetzung wegen Carole Vérons Vergewaltigung. Marion war sich absolut sicher, daß sie niemals eine Information preisgegeben hätte, ohne sich später daran zu erinnern, und hatte Léo, der sich zunehmend aufregte, hartnäckig die Stirn geboten. Schließlich hatten sie sich auf einen Waffenstillstand geeinigt: Marion würde das Datum überprüfen, vielleicht hatten Carole oder ihre Freundin Diane Menu ihr den genauen Tag ja doch gesagt, vielleicht hatte sie ihn unbewußt abgespeichert und Léo aus Versehen verraten, ohne sich selbst daran zu erinnern. Je länger sie alles durchkaute, desto mehr gerieten die Daten und Ereignisse der beiden Fälle durcheinander bis sie schließlich das Gefühl hatte, in vollkommenem Dunkel zu tappen, eine Dunkelheit so bleiern wie der Kloß, der ihr auf den Magen drückte.
Später hatte Léo eine CD eingelegt, und zumindest eine Zeitlang hatten die Dire Straits, begleitet von einigen zaghaften, etwas verkrampften Küssen, einen provisorischen Frieden wiederhergestellt. So provisorisch, daß Marion es nicht lassen konnte: Sie wollte ihre Gedanken unbedingt ordnen und jeden Zweifel ausräumen.
»Ich mußte gerade an etwas denken.«
Léo griff genervt nach der Fernbedienung des CD-Players und unterbrach die Musik.
»Na los! Spuck aus, was du dir jetzt wieder ausgedacht hast!«
»Wenn Johan Laplante dich belastet, könnte es passieren, daß der Untersuchungsrichter ein Gutachten fordert.«
»Du läßt wohl nie locker, was?«
Die Müdigkeit und die Bestürzung standen ihm ins Gesicht geschrieben, auf dem schon wieder wie ein dunkler Schatten der Bart zu sprießen begann. Marion wußte, was sie in diesem Moment aufs Spiel setzte: ihre Liebe, ihr Leben mit Léo und ihre gemeinsame Zukunft. Aber sie konnte nicht anders.
»Immer kriegst du alles in den falschen Hals«, hatte sie mit zugeschnürter Kehle gesagt. »Dabei würden wir Zeit gewinnen, wenn du freiwillig einen DNA-Test machtest.«
»Du meinst, daß du dann keine Angst mehr haben müßtest, mit einem Vergewaltiger ins Bett zu gehen! Marion, ich ertrage deine Anschuldigungen nicht mehr. Ich werde keinen DNA-Test machen, lieber gehe ich und lasse mich von dir vorladen wie ein richtiger Verdächtiger.«
Er war aufgestanden und hatte begonnen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, sich wieder anzuziehen, streifte zuletzt die alte Lederjacke und die verblichenen Boots über. Vor der Haustür stellte Marion sich ihm in den Weg.
»Ja, das kannst du gut! Wegrennen, einfach abhauen, wenn man dir mal was ins Gesicht sagt. Mein Gott, Léo!«
Dann hatte sie alles rausgelassen: der mysteriöse Mann am Telefon, der seinen Namen genannt hatte, der zweite Anruf, bei dem er sich wiederholt hatte, um sicherzugehen, daß Marion ihn richtig verstanden hatte. Denn er selbst wußte offensichtlich, mit wem er sprach, er schien ebenfalls darüber informiert zu sein, daß Léo bei ihr wohnte und zum Zeitpunkt des Anrufs nicht zu Hause war. Léo war plötzlich wie versteinert stehengeblieben. Dann war er fuchsteufelswild geworden, hatte Gift und Galle gespuckt, gegen einen bösen Unbekannten gewettert und war losgestürzt, um ihn zu suchen. Das Knallen der Tür hatte noch lange in Marions Ohren gehallt.
Mit schmerzenden Gliedern stand sie auf und schleppte sich ins Badezimmer, wo sie minutenlang unter der heißen, voll aufgedrehten Dusche stehenblieb. Als sie wieder herauskam, war der Raum in einen dichten Nebel aus Wasserdampf getaucht. Eingewickelt in ihren Bademantel und wie betäubt durch die Wärme und den fehlenden Schlaf, wartete sie, an das Waschbecken gelehnt, bis sich der Nebel auflöste. Dann verteilte sie Zahnpasta auf ihrer Zahnbürste. Erst als sie den Kaltwasserhahn aufdrehen wollte, fiel ihr Blick auf den Zigarettenstummel, den Léo tags zuvor dort liegengelassen und den auch sie in der Zwischenzeit vergessen hatte. Sie betrachtete ihn lange, bis ihr eine Idee kam. Wenn ihr Geliebter schon ein Chaot war, sollte es ihr wenigstens dieses eine Mal nützlich sein.