19

Als Marion im vierten Stock, in dem sich ihre Abteilung befand, den Flur entlangging, an dessen Ende ihr Büro lag, spürte sie, daß auch hier irgend etwas nicht stimmte. Obwohl es in der Abteilung gewohnt lebhaft zuging – man plauderte, Schreibmaschinen ratterten –, fühlte sie sich unwohl. Sie betrat ihr Refugium, in dem das Chaos von Tag zu Tag bedrohlichere Formen annahm, zog ihren Blouson aus, warf ihn auf einen Stuhl, auf dem sich schon hohe Papier- und Aktenberge türmten, ließ sich auf ihren schwarzen Ledersessel fallen und vergrub den Kopf in den Händen.

»Alles in Ordnung?« Talon hatte offenbar schon auf sie gewartet.

»Ja, ja, ich habe bloß ziemliche Kopfschmerzen.«

Das war richtig, sie hatte eine hartnäckige Migräne, aber als Entschuldigung reichte das nicht. Marion mußte sich eingestehen, daß das, was hier in der vierten Etage im Kriminalkommissariat nicht stimmte, sie selbst war. Sie war fix und fertig nach einer durchwachten Nacht, die sie und Léo sich mit aufreibenden Diskussionen um die Ohren geschlagen hatten, und allmählich entglitt ihr die Kontrolle über die Ereignisse.

»Und Sie?« fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen. »Ihre Großmutter?«

Aber der Beamte ignorierte die Frage. Er hatte sein Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht aufgesetzt, das er gern zur Schau trug, wenn es Kritik und Vorwürfe hagelte.

»Ich habe mich schon gefragt, wo Sie abgeblieben sind.«

Marion fixierte ihn, als hätte sie ihn erst jetzt wirklich wahrgenommen. Ihre Pupillen verengten sich. Sie neigte den Kopf zur Seite.

»Wie bitte? Können Sie das wiederholen?«

Talon versuchte schnellstens zurückzurudern.

»Ich wollte nur erst mit Ihnen reden … Ich habe mitbekommen, wie sich Lavot und Garcia darüber ausgelassen haben, wie Sie wohl Ihre Nachmittage verbringen …«

Er wirkte verlegen und mißmutig.

»Und was haben Sie damit zu schaffen?« fragte Marion barsch. »Im übrigen hat mir jemand einen üblen Streich gespielt, und ich würde gern wissen, wer das war. Außerdem habe ich einen Pager, falls Sie das vergessen haben.«

»Warum erzählt Lavot dann so etwas?«

»Ich habe mich mit einem Informanten getroffen. Sind Sie jetzt zufrieden? Seit wann geht Sie das eigentlich etwas an, ich kann ja wohl tun und lassen, was ich will! Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?«

Talon ließ sich von Marions Aggressivität nicht täuschen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie alles andere als stolz auf sich war und einen Schutzwall errichtet hatte. Was genau sie dahinter verbarg, durchschaute er noch nicht.

»Doktor Marsal hat angerufen. Er hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Er wirkte ein bißchen verärgert, anscheinend waren Sie nicht besonders freundlich zu ihm.«

»Er hat Sie angerufen, um sich über meine mangelnde Freundlichkeit zu beschweren?«

Talon zog mit unbewegter Miene einen Zettel aus der Hosentasche und rückte die Brille auf seiner Nase zurecht.

»Den genetischen Fingerabdruck hat er nicht ermitteln können, aber er hat die Blutgruppe: A Rhesus positiv. Die Gruppe, die es am häufigsten gibt. Dann noch ein interessanter Hinweis: Die Tatsache, daß er die Blutgruppe ermitteln konnte, deutet darauf hin, daß ›er‹ vom Typ ›Ausscheider‹ ist. Ich zitiere wortwörtlich, was Doktor Marsal mir gesagt hat, und gebe zu, nicht das geringste verstanden zu haben. Darf ich wissen, um welchen Fall es hier geht?«

Marion richtete sich in ihrem Sessel auf. Dr. Marsal, den sie um Diskretion, wenn nicht sogar Geheimhaltung gebeten hatte, hatte einfach mit Talon darüber gesprochen. Weil sie ihm den Hörer hingeknallt hatte? Oder weil er sich dafür rächen wollte, daß Marion ihm nicht verraten hatte, wofür sie seine Erkenntnisse brauchte?

»Nein«, sagte sie leise. »Das dürfen Sie nicht wissen.«

»Ich nehme an, eine Privatangelegenheit?«

»Talon, bitte. Ich muß Ihnen nicht alles sagen.«

»Sicher.« Er kniff die Lippen zusammen, um seinen Ärger zu verbergen. »Ich habe noch einen Anruf für Sie entgegengenommen, vor einer Stunde.«

»Hier, in meinem Büro?«

Er nickte. Marion sah ihn scharf an, und ihre dunklen Augen funkelten schon wieder ironisch.

»Sie überwachen mein Büro und mein Telefon? Das ist aber lieb von Ihnen. Ich dachte, Sie seien auch so schon völlig überlastet.«

»Das bin ich auch, aber manchmal tue ich trotzdem jemandem einen Gefallen.«

Er legte den Zettel vor sie hin, auf dem er die Anrufe notiert hatte. Unter der Notiz, die den Gerichtsmediziner betraf, las Marion: »Lisette Lemaire. Wegen Nina zurückrufen.«

Fünf Worte, die sie trafen wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Ninas Großmutter hatte angerufen, hier im Büro! Die alte Dame, die sehr schüchtern war und noch nicht bereit, Marion wirklich als die Mutter ihrer Enkelin zu betrachten, vermied es normalerweise, von sich aus anzurufen. Meistens wartete sie darauf, daß Marion sich meldete und ihr berichtete, wie es dem Kind ging. Was für ein dringender Grund mochte sie dazu bewegt haben, Marion an ihrem Arbeitsplatz zu behelligen?

Sie runzelte die Stirn.

»Sonst hat sie nichts gesagt?«

Sie war dabei, die Nummer der alten Dame zu wählen. Sie warf Talon, der sich noch nicht vom Fleck gerührt hatte, einen besorgten Blick zu, während in einem kleinen Häuschen im Departement Isère das Telefon klingelte. Der Beamte wirkte verlegen.

»Ich glaube, daß Sie noch bei den Kollegen vorbeischauen sollten.«

Es hatte sich eingebürgert, daß Marion mindestens einmal am Tag eine Runde durch alle Büros drehte. Dieser Kontakt war notwendig für die einzelnen Teams, weil er sie zwang, sich immer wieder den jeweiligen Stand ihrer Ermittlungen vor Augen zu halten, notwendig aber auch für Marion, die Anweisungen erteilen, über Einsätze und geeignete Maßnahmen entscheiden mußte. Außerdem war es für sie die einzige Möglichkeit, die Stimmung unter ihren Leuten einzuschätzen und Verärgerung oder sich anbahnende Proteste im Keim zu ersticken.

»Die Jungs haben seit mehreren Tagen nichts von Ihnen gehört, wenn man mal von dem Umtrunk neulich absieht. Die brauchen dringend Rücksprache wegen der laufenden Fälle.«

Er blickte zu Boden, und Marion begriff, daß die laufenden Fälle ein Vorwand waren. Talon wollte ihr durch die Blume zu verstehen geben, daß ihre Truppe mal wieder an Weltschmerz litt. Gerade als sie ihn fragen wollte, ob Léo schon aufgetaucht sei, nahm in Grenoble, wo Nina ihre Ferien verbrachte, Lisette Lemaire den Hörer ab. Marion bedeutete dem Beamten, sie allein zu lassen.

»Guten Tag, Madame Lemaire … Ich bin’s, ja …«

Lisette war am Apparat, im Hintergrund hörte Marion das Geplapper von Nina, die wahrscheinlich am Rockzipfel ihrer Großmutter zog, um der Mama in spe als erste von ihren kleinen Abenteuern zu berichten. Marion spürte, wie ihr die Tränen kamen, sie atmete tief durch.

»Ja, ja, mein Schatz, ich bin’s. Ich hör dir zu …«