Im Auto ließ Marion ihrem Zorn freien Lauf.
»Du kriegst von mir auch noch ein paar kleine Geheimnisse zu hören«, tobte sie, während sie die Uferstraße entlangraste. »Du wirst mich schon noch kennenlernen … Idiot! Horchst mich über meine Ermittlungen aus und funkst mir dann dazwischen, um dein eigenes Ding durchzuziehen, wie? Was ist das für ein mieser Plan, Léo? ›Vertrau mir, Marion!‹ Daß ich nicht lache! Vertrauen … Das würde dir so passen! Aber du wirst schon sehen, sobald du zurückkommst, machst du den Speicheltest. Dann kommt die Gegenüberstellung mit Carole, die wird schon irgendwann auspacken. Wir haben doch alle unsere kleinen Geheimnisse! Würde mich nicht wundern, wenn das Jugendamt doch recht hätte …«
Sie dachte kurz an Nina, die jetzt, mit Talon als Leibwächter, hoffentlich in Sicherheit war. Der Schraubstock um ihren Brustkorb zog sich noch enger zu, sie versuchte, tief durchzuatmen.
Sie jagte am Hotel Mercure vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen. Mit quietschenden Reifen nahm sie die nächste Kurve und fand sich in einer Straße wieder, die auf beiden Seiten selbst in zweiter Reihe zugeparkt war. Mit den vielen kleinen Geschäften, deren Verkaufsstände in der warmen Jahreszeit auf die Bürgersteige verlagert wurden, erinnerte diese Einkaufsstraße an das bunte Treiben auf einem Markt. Marion fluchte laut. Sie hatte sich völlig gedankenlos in dieses Chaos hineinmanövriert, und jetzt saß sie fest. Sie umklammerte das Lenkrad und zwang sich, die Ruhe zu bewahren.
Sie hatte Carole Véron in völlig aufgelöstem Zustand in ein Taxi gesetzt und ihr versprochen, sie nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Die junge Frau hatte panische Angst vor einer Gegenüberstellung mit Léo oder einem anderen Verdächtigen, aber Marion hatte sie beruhigt: Solange nicht in aller Form Anzeige erstattet wurde, würde sie nichts unternehmen. Das Wichtigste war, daß Carole sich ihrer Sache sicher war, daß sie wieder zu sich fand, nachdachte, zum Arzt ging … Sie hatte sich große Mühe gegeben, besänftigend auf die junge Frau – und auf sich selbst – einzuwirken.
»Und dann dieser andere Kerl, der mich wie ein Callgirl in sein Hotelzimmer bestellt! Für wen hält der mich eigentlich?«
Ein neuer Wutanfall jagte ihren Blutdruck in die Höhe, und unter den erstaunten Blicken der Passanten, die sich zwischen den Autos durchschlängelten, schimpfte sie weiter laut vor sich hin. Zornig drückte sie mit aller Kraft auf die Hupe, was sofort von ein, zwei Autofahrern hinter ihr und schließlich von der ganzen Schlange, die inzwischen bis zur Rhone reichte, nachgeahmt wurde. Daß Sam sie auf diese Weise zu sich zitierte, brachte sie in Rage. Dabei hätte sie, nachdem sie sich von Carole Véron verabschiedet hatte, seiner Aufforderung fast Folge geleistet. Wäre in großen Sprüngen die Treppe hinaufgeeilt, hätte die Tür aufgestoßen und … Sie zuckte zusammen. Was hätte sie dann getan? Ihre Wut auf Léo an ihm ausgelassen? Den unverschämten Kerl auf die nächste Polizeiwache geschleppt? Oder wäre sie auf sein Bett gesunken, um sich von ihm trösten zu lassen und in seinen liebestrunkenen Augen zu lesen, daß sie endlich einmal alles für einen Mann bedeutete?
Nein, nein und nochmals nein! Ich liebe Léo …
Entnervt über die Untätigkeit der anderen Autofahrer und die nicht absehbare Auflösung dieses Staus, kurbelte sie die Scheibe herunter, befestigte das mobile Blaulicht auf dem Dach und schaltete das Martinshorn ein. Das ohrenbetäubende Schrillen der Sirene vertrieb innerhalb weniger Sekunden nicht nur Marions ganzen Streß, sondern auch die Autos, die ihr den Weg versperrt hatten.