»Talon, wie sieht eigentlich ein Pädophiler aus?«
Der Beamte sah sie überrascht an und runzelte die Stirn.
»Ich weiß nicht, ich habe noch nie mit solchen Fällen zu tun gehabt«, sagte er ernst. »Aber Sie, Chef, Sie haben doch selbst mal in einem Kommissariat gearbeitet, das sich mit solchen Dingen befaßt hat.«
»Ja, eben, und jedesmal, wenn ich so einen Typen vor mir hatte, dachte ich: kein Wunder. Verstehen Sie?«
Er nickte und fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»Es kommt mir so vor, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen«, sagte sie, während Talon den Motor ihres Peugeots anließ.
Angesichts des Zustands, in dem Marion aus ihrem Büro gekommen war, hatte er die Dinge in die Hand genommen und sich ungefragt ans Lenkrad gesetzt.
»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie reden«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Sie erzählen mir ja nichts mehr …«
Marion sah ihn nachdenklich an, sie zögerte.
Du bist Talons Vorgesetzte. Du kannst ihm nicht alles sagen. Wie sollt ihr danach miteinander umgehen? Und überhaupt, welche Rolle spielt er eigentlich in der ganzen Sache? Dieser unverständliche Haß auf Léo …
»Das wäre auch nicht klug.«
»Dann vertrauen Sie sich dem Chef an. Sie können sich doch nicht weiter so quälen und sich in Gefahr bringen …«
Schweigend verfiel sie ins Grübeln und schien das Für und Wider abzuwägen. Mit Paul Quercy reden, ihm erzählen, was los war, ihn um Hilfe bitten und um ein weitsichtiges Urteil, klar, das wäre vernünftig. Er steckte in der Sache nicht so drin wie sie, er hätte den nötigen Abstand, und wenn es tatsächlich darauf hinauslief, daß es bezüglich Léo schwerwiegende Entscheidungen zu treffen gab, dann war es besser, Paul Quercy würde sie treffen.
»Sie haben recht«, seufzte sie mit einem Blick auf ihre Uhr. »Ich gehe zu ihm. Abends ist er sowieso immer bis neun oder zehn im Büro.«
Talon setzte den Blinker und hielt am Straßenrand an, hundert Meter hinter dem Polizeipräsidium. Dabei schien er sich zu fragen, ob Marion eigentlich wußte, was sie wollte.
»Sie sollten sich lieber vergewissern, ob er noch da ist, in seinem Büro war alles dunkel, als wir gegangen sind.«
Eine Minute später wußte Marion Bescheid. Paul Quercy war für einen Tag nach Korsika gefahren. Er würde erst am nächsten Abend zurückkommen. Verwirrt legte sie auf, während Talon den Wagen wieder anrollen ließ.
»Léo Lunis ist das Problem, oder?«
»Warum sagen Sie das?«
»Wir kennen doch alle seine Geschichte.«
Marion klammerte sich an ihrem Sitz fest, während das Funkgerät eine Nachricht ausspuckte, die sie sich mechanisch anhörte.
»Alle? Alle, nur ich nicht! Warum haben Sie mir nichts davon gesagt, Talon? Das ist verantwortungslos und kriminell!«
»Ich dachte, sie wüßten es! Die Sache hat bei uns immerhin einiges Aufsehen erregt. Und außerdem wollten Sie doch sowieso nichts hören! Wenn es um Lunis ging, kam man doch gar nicht an Sie ran, Sie waren ja wie benebelt … Sie hätten mich als Lügner beschimpft, und die anderen auch.«
»Als Sie mir gestern sagten, daß das Ganze eine abgekartete Sache sein könnte, da haben Sie also gelogen? Sie sind im Grunde vom Gegenteil überzeugt.«
»Absolut nicht. Ich stehe hinter dem, was ich gesagt habe, aber mir fehlen die Anhaltspunkte. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen helfe, Chef! Sie können so nicht weitermachen!«
»Da habe ich mich selbst reingeritten, jetzt muß ich auch sehen, wie ich selbst wieder rauskomme«, gab Marion trotzig zur Antwort.
Der sonderbare, etwas heisere Klang ihrer Stimme deutete allerdings darauf hin, daß sie Talons Hilfe nicht glattweg ausschlug. Falls wirklich alles schiefging, würde sie sie annehmen, aber erst dann.
»Hat ansonsten alles geklappt … ich meine …?«
Sie traute sich nicht mehr, Ninas oder Lisettes Namen in den Mund zu nehmen. Angespannt ließ sie ihren Blick durch die Straßen schweifen, in die Talon einbog, und drehte sich unentwegt um, als wollte sie sichergehen, daß ihnen niemand folgte.
»Es ist schrecklich, aber ich habe das Gefühl, als würden alle Telefone, die ich benutze, angezapft und als wären überall Wanzen angebracht, im Büro, bei mir zu Hause, überall.«
»Da kann ich Sie beruhigen«, behauptete Talon. »Zumindest in Grenoble bei der Großmutter habe ich alles kontrolliert und nichts gefunden. Und wenn es doch so wäre, würde das bedeuten, daß Sie es mit einer Riesenorganisation zu tun haben, die über enorme technische Möglichkeiten verfügt, und davon würden wir früher oder später etwas Wind bekommen.«
»Ja, aber trotzdem, es gibt da jemanden, der über jeden Schritt, den ich tue, unterrichtet ist.«
»Das ist Ihr subjektiver Eindruck, Chef.«
Während Talon lediglich versuchte, beschwichtigend auf sie einzuwirken, fühlte Marion sich von ihm in Frage gestellt.
»Talon, ist Ihnen so etwas schon mal passiert?«
Er zuckte die Achseln.
»Nein, aber ich kann Sie verstehen, Sie fühlen sich verfolgt und gehetzt, das sind eigentlich typische Merkmale einer manisch-depressiven Störung.«
Marion hob mit einer ohnmächtigen Geste die Hände.
»Ich leide an Verfolgungswahn, ich bin manisch-depressiv, ich habe Halluzinationen, ich höre Stimmen. Ich sollte mich vielleicht gleich in die Psychiatrie einweisen lassen.«
Talon spürte, wie verzweifelt sie war, und kam noch einmal auf das Thema Grenoble zurück.
»Ninas Omi hat übrigens gut mitgespielt, obwohl sie mich gar nicht kannte. Sie wird so tun, als wäre Nina noch immer bei ihr in Grenoble.«
»Hatte sie keine Angst?«
»Um die Kleine schon, doch, natürlich. Aber ich habe ihr versichert, daß Nina keine Gefahr droht.«
Marion sah ihn kurz an, ehe sie wieder ihren Blick auf den Seitenspiegel heftete.
»Und Nina?«
»Wir haben alles so gemacht, wie Sie es mir aufgetragen haben, das Ganze also als Spiel aufgezogen. Richtig verstanden hat sie’s nicht … Ich denke, Sie erklären ihr am besten alles selbst. Nina wartet auf Sie.«
»Gut, fahren wir hin, aber passen Sie auf.«
Auf der Avenue Berthelot erstrahlte ein riesiger Baumarkt im blinkenden Licht unzähliger Leuchtreklamen. Talon brachte den Wagen vor dem Geschäft zum Stehen.
»Los, gehen Sie!« sagte er zu Marion. »Ich rühre mich eine Stunde lang nicht vom Fleck.«
Er deutete auf den gigantischen Laden, vor dem sich in Einzelteile zerlegte Tore, Schubkarren, Zementsäcke und Bruchsteine stapelten.
»Heute abend ist länger auf, wir haben jede Menge Zeit. Und wenn uns wirklich irgendein Idiot verfolgt hat, wird er hier auf seine Kosten kommen.«
Marion ging in aller Ruhe an den Zäunen und Toren vorbei und betrat den breiten Mittelgang des Geschäfts. Sie sah sich die Badezimmerabteilung an, die Armaturen und Lampen und blieb dann längere Zeit vor den Tapeten stehen.
Die mit den gelben und beigefarbenen Streifen ist hübsch … Und die da, oh, kleine Häschen für Nina! Schau bloß gut hin, du Arschloch, wenn du hier irgendwo auf der Lauer liegst…
Sie sah sich in alle Richtungen um, als suchte sie in dem Wirrwarr von Artikeln nach einer bestimmten Sache. Die Kunden in ihrer Nähe – der Laden war ziemlich gut besucht – kamen ihr einer normaler vor als der andere.
Dann entdeckte sie, was sie gesucht hatte: eine grüne Leuchtanzeige, die den Weg zum Notausgang wies. Sie trat hinter einen großen Stapel aus Parkettbrettern und verschwand in den Lagerräumen.
Auf der anderen Seite der breiten, wenig befahrenen Straße, hinter den Lastwagen, die mit neuen Lieferungen für das Warenlager eingetroffen waren, erblickte Marion das dreistöckige Wohnhaus, in dem Lavot mit seiner Familie lebte. In der obersten Etage waren alle Fenster erleuchtet, und Marion wurde es warm ums Herz. Die Straße war menschenleer, aber aus Vorsicht machte sie noch einen langen Umweg, ehe sie das Haus der Lavots betrat.
Mathilde, eine hübsche, blonde Frau mit klaren, offenen Augen, hatte sie kaum begrüßt, da kam schon ein kleiner Wirbelsturm angesaust und fiel ihr um den Hals.
»Mama!« rief Nina.
Aufgewühlt schloß Marion das Kind in die Arme, so fest, daß Nina kaum noch Luft bekam.