51

Als Marion das spitz zulaufende Ende der Insel sehen konnte, klatschten die ersten Tropfen auf den grasbewachsenen, ohnehin schon aufgeweichten Weg. Ihre Schuhe waren bald durchnäßt, und die Feuchtigkeit kroch unter der marineblauen Tuchhose kalt an ihren Beinen hoch. Der Anlegeponton schwankte im aufgepeitschten Wasser, dicke Tropfen prasselten auf das Holz. Hastig zog sie die Jacke ihrer Uniform aus, um ihren Kopf zu bedecken. Ihr Hut fiel dabei in eine Pfütze.

Scheiße, das hatte mir gerade noch gefehlt!

Sie hob den Dreispitz wieder auf, schüttelte ein paar nasse Grashalme ab und rannte weiter, ohne auf den hochspritzenden Schlamm zu achten. Die weiße Uniformbluse klebte an ihrem Oberkörper, so daß sich der weiße Stoff ihres Spitzen-BHs exakt abzeichnete. Als erstes wollte sie den Teil der Insel inspizieren, wo sie Sam zum erstenmal begegnet war, ohne ihn zu erkennen, dann zum anderen Ende laufen, wo ein Angelverein einen zehn Meter langen Steg hatte bauen lassen, die das sumpfige Ufer überragte.

Etwa drei Meter vom Ufer entfernt, zwischen Spazierweg und Ponton, entdeckte sie einen von Efeu überwucherten Steinbau und trat vorsichtig näher. »Partisanenbunker« nannten ihn die Anwohner, da er im Zweiten Weltkrieg verschiedenen Widerstandsgruppen als Versteck gedient hatte. Marion konnte zwischen den dichten Efeuranken, von denen einige so dick wie Baumstämme waren, keinen Eingang erkennen. An die massive Steinwand gepreßt, sah sie um sich und tastete dabei instinktiv nach ihrer Waffe, die da in ihrem Hosengürtel steckte.

Von Sam keine Spur. Der Anlegesteg war leer, weit und breit keine Menschenseele. Angesichts dieses sintflutartigen Regens hatte sich kein Pärchen hinausgewagt, und plötzlich spürte Marion mit jeder Faser die Feindseligkeit dieses Ortes. Sie zitterte am ganzen Körper.

Sie fuhr mit der Hand über ihr Gesicht, in dem bestimmt schon die ganze Wimperntusche verschmiert war. Sie mußte an Quercy denken, der wahrscheinlich vor Wut kochte. Mit einemmal kam sie sich nicht mehr so allein vor, sie hatte doch ein Handy! Was sie beim Empfang in der Präfektur unterlassen hatte, nämlich ihren Chef zu informieren, konnte sie also nachholen – trotz der Bedrohung durch Sam. Der Gedanke an den Mann mit der sternförmigen Narbe jagte ihren Puls in die Höhe, und wie schon so oft hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie trat drei Schritte vor, um sich zu zeigen.

Sieh her, du Arschloch, ich bin gekommen.

Dann ging sie um den steinernen Unterstand herum, schutzsuchend vor dem Regen, der jetzt einen dichten Vorhang bildete, durch den man kaum noch die Wasseroberfläche erkennen konnte. Es mußte einen Eingang geben, und wenn sich jemand auf der Insel versteckt hielt – Sam oder Léo oder alle beide –, dann konnte es nur hier sein.

Schließlich fand Marion eine fast waagerechte Falltür, um die herum allerhand Abfall und Steine lagen und von Unkraut überwuchert wurden. Die dicke, verrostete Metallplatte stand weit auf, ein klaffendes, schwarzes, feuchtes Loch, das in die Tiefe führte. Mit fieberhafter Aufregung beugte sich Marion vor, um einen Blick ins Innere zu werfen. Nichts geschah. Niemand sprang ihr an die Gurgel, kein böses Tier griff sie an. Es war so finster wie in einem Tunnel, und während sie wartete, daß sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, schlug ihr der Geruch nach feuchter Erde, Schimmel und kaltem Zigarettenrauch entgegen. Nach einer Weile konnte sie am anderen Ende der Höhle etwas Längliches auf dem Boden erkennen – wahrscheinlich eine Matratze oder eine Decke – außerdem lagen leere, schimmernde Glasflaschen, Konserven- und Bierdosen verstreut herum, was darauf hindeutete, daß dieser einst von Widerstandskämpfern genutzte Unterschlupf heute für weniger rühmliche Aktivitäten herhalten mußte. Offensichtlich war diese feuchte Kammer im Moment jedoch menschenleer.

Der Regen wurde noch heftiger und prasselte zischend, wie heiße Öltropfen, auf die Efeublätter. Marion war kurz davor, die Fassung zu verlieren und fragte sich, was sie jetzt tun sollte: in das ekelerregende Loch hineinsteigen, um sich unterzustellen, oder die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich ins Polizeipräsidium zurückkehren? In diesem Moment leuchtete das Display von Paul Quercys Handy auf, während gleichzeitig hinter der Schutzhütte ein anderes Geräusch das Plätschern des Regens übertönte. Ein Schaben, ein Rascheln, ganz in ihrer Nähe. Marion fuhr herum, halb blind durch das Wasser, das ihr von den Haarspitzen in die Augen tropfte.

Aus dem Gebüsch löste sich eine Silhouette, und den Bruchteil einer Sekunde später preßte Léo Marion an sich.

»Ah!« schrie sie unwillkürlich auf.

»Psst«, flüsterte Léo ihr ins Ohr. »Sag nichts! Komm!«

Er zog sie rasch mit sich zu dem Unterstand, dessen Eingang durch dicke Steine versperrt war, über die sie klettern mußten.

»Léo«, sagte sie mit klappernden Zähnen, »wo warst du?«

Er war genauso durchnäßt wie sie, und mit dem dunklen Bart, der sein Gesicht bedeckte, sah er aus wie ein gefährlicher Gangster. Er drückte Marion gegen die Wand und beugte sich aufgeregt und mit besorgter Miene nach draußen, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand gefolgt war.

»Ich werd’s dir erklären«, sagte er schnell. »Ist er da?«

»Ich weiß es nicht, ich habe nichts gesehen! Ich habe niemanden gesehen!«

»Er ist da!« sagte Léo, wie um sich selbst davon zu überzeugen. »Ich weiß es, ich spüre es. Er wird dir etwas zuleide tun, ich will das nicht, Marion …«

Das Geräusch von Schritten auf den Brettern des Stegs drang zu ihnen herüber. Marions Körper, völlig taub vor Kälte und Angst, begann plötzlich unkontrolliert zu zucken. Dann erkannten sie die Stimme von Sam, der ihren Namen rief.

»Marion, huhu, ich bin da!«

»Mistkerl«, knurrte Léo mit flackernden Augen. »Er hat gewußt, daß du kommen würdest und daß ich bei dir sein würde.«

»Was will er? Mich umbringen? Wie Gina?«

»Mich will er.«

Léo preßte Marion an sich. Im gleichen Atemzug tastete er nach dem Griff der Smith & Wesson und zog sie aus Marions Gürtel.

»Aber was machst du denn da?« fragte sie beunruhigt.

»Mach dir keine Sorgen! Bleib hier, ich komme zurück!«

Und ehe sie sich’s versah, war er schon aus dem Loch geklettert, die Waffe in der Hand, und zog am Griff der schweren Metallplatte, um sie mit einem Ruck herunterzuklappen. Bevor er losließ, sah er noch einmal durch den verbleibenden Spalt, durch den noch ein wenig schmutziges, hinter den Wolkengebirgen erlöschendes Tageslicht drang.

»Mach dir keine Sorgen«, wiederholte er. »Ich habe den anderen Bescheid gesagt, sie werden bald hiersein … Ich liebe dich, Marion.«

Die Klappe schlug mit einem Scheppern zu, dessen klagendes Echo durch die in die Erde eingegrabenen Steine drang und Marion ganz benommen machte. Sie warf sich gegen das rostige Metall, was ihr einen Bluterguß an der Schulter einbrachte, während ihr das Handy aus der Hand rutschte und gegen die Wand prallte. Dann hörte sie draußen ein anderes Geräusch, wie ein zynisches Lachen, das begleitet wurde von einem dumpfen Poltern auf der Metallklappe.

Er schließt mich ein, er legt Steine drauf, damit ich nicht raus kann!

Sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Noch einmal stemmte sie sich gegen die Tür, schlug mit den Fäusten dagegen, nichts rührte sich.

Plötzlich wurden Stimmen laut, hastige Schritte waren zu vernehmen. Dann, ein Schrei. Wie in einem Alptraum sah sie die glänzenden Bilder des Erkennungsdienstes wieder vor sich, die Fotos von Gina Lunis, die Löcher, die ihr aus dem kalten Körper der Frau entgegenstarrten, die Polizeiuniform. Die Uniform! Marion gefror das Blut in den Adern. Sam wußte, daß sie heute ihre Uniform trug, genauso wie Gina. Léo wußte es auch, und er hatte bestimmt begriffen, was Sam wollte: Marion herbeilocken, sie umbringen, um Léo zu bestrafen, um ihn zugrunde zu richten.

In diesem Moment sprang ihr ein grünliches Licht ins Auge, auf dem Boden, einen Meter vor ihr. Wie ein beruhigendes Signal aus der tiefen Dunkelheit. Quercys Handy war immer noch an, es funktionierte! Marion bückte sich. Die Hose klebte an ihren Beinen, die steif vor Kälte waren, und auch ihre Hände waren so klamm, daß sie Mühe hatte, das Gerät aufzuheben. Auf einmal wurde ihr der jämmerliche Zustand bewußt, in dem sie sich befand, ihr unkontrolliertes Zittern, ihr triefendes Haar.

Für einen kurzen Augenblick verfiel sie in Selbstmitleid, doch dann wurde ein anderes Bild vor ihrem inneren Auge lebendig. Das leuchtende, friedliche Bild eines fröhlichen Kindes. In diesem dunklen, schmutzigen, übelriechenden Loch lächelte ihr Nina zu, Nina, die ihr befahl, das zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatte, und dann nach Hause zu kommen.

Sie nahm das Telefon an sich und beschloß beim Polizeipräsidium anzurufen, wo sie zwangsläufig von irgend jemandem erhört werden würde. In der Dunkelheit herauszufinden, wie dieses Ding funktionierte, kostete sie unglaublich viel Zeit, und sie mußte Quercy zustimmen, daß es schwachsinnig war, sich gegen ein so verbreitetes Kommunikationsmittel derart zu sträuben.

Sie wartete ungeduldig auf ein Freizeichen und prüfte schließlich, ob sie die richtige Nummer eingegeben hatte. Auf dem Display erschien eine Meldung: kein Empfang.

Draußen waren die Geräusche verstummt.

Marion untersuchte noch einmal die Klappe und versuchte erneut, sie anzuheben. Aber sie fand keinen Halt, war nicht groß genug, um sich mit den Füßen abzustützen und gleichzeitig mit den Schultern dagegenzudrücken, zumal ihre Bemühungen durch das Gewicht der Steine ohnehin zum Scheitern verurteilt waren. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die Wände schweifen und bemerkte, daß auf der Seite, die zum Anlegesteg zeigte, Efeu bis ins Innere gewuchert war, während die anderen Wände nackt waren. Die langen Zweige hatten sich bis zur Decke hochgerankt, und als Marion genauer hinsah, entdeckte sie die Stelle, durch die der Efeu eingedrungen war: eine schmale, vertikale Spalte mit unebenen, zerklüfteten Rändern, die wahrscheinlich während der Résistance dazu gedient hatte, zu beobachten, was draußen vor sich ging. Eine Art Schießscharte, welche die Widerstandskämpfer davor bewahren sollte, plötzlich in der Falle zu sitzen, und ihnen die Möglichkeit gab, aus ihrem Versteck heraus auf den Feind zu schießen. Schade nur, daß das mit dem Schießen für Marion ein Problem war, denn sie hatte keine Waffe mehr. Dabei hatte Léo doch seine eigene. Warum hatte er ihr bloß ihre Smith & Wesson abgenommen? Um sie auszuschalten, sie daran zu hindern, ihre Waffe einzusetzen?

Durch hartnäckiges Zerren an den Blättern und Zweigen gelang es ihr schließlich, eine mehrere Zentimeter große Öffnung freizulegen, durch die sie das Ende des Anlegestegs und einen Teil des Flusses erkennen konnte, der genauso finster aussah wie der Himmel. Gleichzeitig drangen Schritte an ihr Ohr, Schritte auf Holz, und ein gedämpftes Gespräch. Eigentlich ein Monolog, gesprochen von einem Mann, dessen Stimme Marion Sam zuordnete. Plötzlich herrschte Stille, aber so sehr sie sich auch den Hals verrenkte, außer dem leeren Stegende konnte sie nichts sehen.

Mutlos und vor Kälte zitternd, verspürte Marion plötzlich den Drang, ihre Verzweiflung und ihren Zorn auf diese beiden Männer, die sie eingeschlossen hatten, hinauszuschreien. So laut sie konnte, brüllte sie die beiden Vornamen, aber sie hätte ebensogut mitten in der Wüste gegen den Wind anschreien können: Das durch Steine und Efeu gedämpfte Echo warf ihr nur den Klang ihrer eigenen Stimme zurück.

Dann waren wieder Schritte zu hören, und endlich tauchte Sam in Marions Gesichtsfeld auf. Er war völlig durchnäßt, die Haare klebten ihm am Schädel. Hinter ihm zeichnete sich eine andere, nicht minder durchnäßte Silhouette ab. Léo.

Hintereinander schritten die beiden Männer bis zur Spitze des wackeligen Pontons, wo sie Auge in Auge stehenblieben, eingehüllt in den inzwischen nur noch nieselnden Regen, der wie ein irrealer Nebel ihre Umrisse verwischte. Sie kamen Marion vor wie zwei von der Außenwelt abgeschnittene Liebende. Sam ließ sich auf die Knie fallen. Mit beiden Armen umklammerte er Léos Beine und lehnte seine Stirn daran.

Er spürt den Stoff von Léos Hose, das Hämmern in seinem Kopf läßt nach. Léos Wärme durchdringt ihn, verdrängt allmählich den Schmerz. Mit aller Kraft konzentriert er sich darauf, seine Liebesbotschaft zu vermitteln – ein stummes, leidenschaftliches Bittgesuch. Eine ausgelassene Freude nimmt plötzlich von seinem Körper Besitz, entlädt sich in seine Hände, diese Hände, die Léo nicht ignorieren kann. Diese Hände, die Léo Jahre zuvor wie in Hypnose versetzten, ihn geradezu verrückt machten. Léo ist wieder da, er kann ihn berühren, das Wunder wird von neuem geschehen.

»Léo«, sagt Sam mit dünner Kinderstimme. »All diese Jahre, diese lange Zeit, das viele Blut … Ich will alles vergessen, wieder von vorn anfangen … Ich werde dich lieben, du wirst sehen, wie ich dich lieben werde …«

Léo rührt sich nicht. Sam spürt nur ein leichtes Zittern in seinen Beinen. Eine Erregung, die schließlich auf seinen ganzen Körper ausstrahlt. Ob Marion ihn und Léo vom Partisanenbunker aus sehen kann? Ob sie diese Nähe spüren kann, die sie alles um sich herum vergessen läßt? Ob sie weiß, daß Léo ihn gleich in seine Arme schließen wird? Ihn fortbringen wird, weit weg von diesem wackeligen Steg, und daß sie die beiden niemals wiedersehen wird?

Langsam hebt Léo seinen Arm. Sam spürt, wie die Hand seine Schulter streichelt, wie der Daumen seine Wange berührt und über den Rand des sternförmigen Kraters fährt. Er schließt die Augen, gibt sich ganz diesem friedlichen Moment hin, der die vergangenen Schrecklichkeiten vergessen läßt.

Dann plötzlich der kalte Gegenstand an seiner Schläfe, genau im Zentrum des Sterns.

»Ich kann nicht, Sam. Ich liebe dich nicht. Wenn du eine Frau wärst, hätte ich dich lieben können, vielleicht, früher.«

Sam fährt zusammen, der beißende Wind läßt ihn zu Eis erstarren. Eine Explosion in seinem Kopf zerreißt ihn fast.

Léo redet, redet immer weiter.

»Marion nimmst du dir nicht. Ich liebe sie, sie gehört mir …«

Aber was ist das? Léo weint, ein rauhes, abgehacktes Schluchzen. Oder ist es nur der eisige Wind, der in Sams Ohren heult? Sam hebt den Kopf, heftet seinen leidenschaftlichen Blick auf ein verschlossenes Gesicht, das in die Ferne sieht, weit in die Ferne, dorthin, wo nur noch Schatten umherlaufen, wo es weder Regen noch Wind gibt.

In Landau hat Léo ihn umgebracht. Auf dem Anlegesteg bringt Léo ihn wieder um.

Verwundert und entsetzt beobachtete Marion, daß Léo einfach nur dastand, unbeweglich wie ein Klotz, mit herabhängenden Armen, die Waffe wie ein lästiger, unnützer Gegenstand in der schlaffen Hand. Noch schlimmer war, daß sie fast hören konnte, wie er mit sich selbst kämpfte, um nicht doch noch die Hand auf Sams Haar zu legen, ihn nicht fester an seine Beine zu drücken, ihn nicht hochzuziehen, zu umarmen.

Léos Hand, die Marions Revolver hielt, hob sich langsam. Die Spitze des Revolverlaufs streifte die sternförmige Narbe, als wollte sie sich ihrer vergewissern. Eine Liebkosung, eine Abschiedsgeste.

»Neeeiin!« brüllte Marion. »Léo, neeeiin!«

Sam zuckte zusammen, und noch ehe Léo zu Ende führen konnte, was er begonnen hatte, schnellte er zurück, fuhr mit der Hand in seine Tasche und zog eine Waffe hervor, einen großen Revolver, dessen Lauf im Regen glänzte.

»Du hast mich doch schon umgebracht! Warum tust du das, Léo? Warum?« hörte Marion ihn brüllen, während ein Schuß krachte.

Léo wich zurück und krümmte sich, die Hand an den rechten Oberschenkel gedrückt, oberhalb des Knies. Ohne rechte Überzeugung richtete er die Waffe auf sein Gegenüber, doch Sam war schneller. Sein zweiter Schuß traf Léo an der Schulter.

»Hört auf!« schrie Marion erneut.

Aber es war, als hätten sich die beiden Männer in eine schalldichte Zelle begeben, deren hermetisch verschlossene Türen sie gegen Geräusche von außen abschirmten.

Anstatt zurückzuschießen, drehte sich Léo abrupt um und stürzte davon, Richtung Unterstand, womit er Sam den Rückweg zum Ufer versperrte. Trotz seiner Verletzungen kam er schnell voran, während der andere noch immer wie angewurzelt dastand, unschlüssig, weil es ihm vielleicht widerstrebte, dem Geliebten in den Rücken zu schießen.

Noch ehe Marion oder Sam begriffen hatten, was Léo vorhatte, war er schon vor dem Partisanenbunker angelangt. Er stolperte und fiel auf die Metallklappe, an der er sich, für Marion unsichtbar, zu schaffen machte. Wollte er die Klappe öffnen, sich in Sicherheit bringen?

»Mach auf, Léo!« brüllte Marion, die kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. »Mach auf, verdammt! Verteidige dich, Léo, Scheiße, er wird dich umbringen!«

Mit Blick auf die regungslose Silhouette von Sam, wählte Marion hektisch nochmals die Nummer des Kommissariats.

»Léo, hörst du mich? Was machst du?«

»Ich kann nicht«, stöhnte Léo. »Ich habe keine Kraft mehr.«

Wieder erschien die entmutigende Meldung auf dem Display: kein Empfang. Mit lautem Schluchzen warf Marion das nutzlose Gerät hinter sich, wobei ihr absurderweise Lavot in den Sinn kam, der, um von der eigenen Unfähigkeit abzulenken, gern den Spruch zum Besten gab, daß die Technik ein falscher Freund sei, auf den man sich doch nicht verlassen könne.

Sam hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, scheinbar lautlos, übertönt von einem dumpfen Trampeln und undeutlichen Rufen aus der Ferne. Wie in einem Alptraum sah Marion Sams Hand sich langsam heben und seinen Zeigefinger ohne zu zittern auf den Abzug drücken. Ein nicht enden wollendes Krachen, dann der dumpfe Aufprall eines Körpers auf der Klappe. Von Léo war nichts zu hören, kein Schrei, kein Schuß aus seiner Waffe. Hinter der Falltür näherten sich hastige Schritte.

»Léo!« brüllte Marion ohnmächtig. »Sag doch was! Was ist los? Léo!«

Sams Zeigefinger krümmte sich erneut um den Abzug des Revolvers, doch diesmal wurde er gebremst. Er schien vom Boden abzuheben, noch ehe sein Hirn die Explosion registrierte, die so heftig war wie ein Donnerschlag. Sam ließ die Waffe fallen, machte eine halbe Umdrehung und kippte. Als wollte er seine Gegner provozieren, streckte er das Kinn herausfordernd in die Höhe. Als ein zweiter Schuß aus einer großkalibrigen Waffe krachte, bäumte er sich auf und fiel mit einem eleganten Salto vom Anlegesteg. Er platschte in den Fluß, eine beeindruckende Wasserfontäne ergoß sich über das verwitterte Holz – das letzte Geräusch, das Marion hörte. Sam wurde auf der Stelle verschluckt, ausgelöscht unter immer größer werdenden Kreisen auf dem Wasser.

Sie stürzte wieder zur Klappe und rief nach Léo, flehte ihn an, ihr zu antworten. Befahl ihm, ihr zu antworten. Aber Léo schwieg. Für einen kurzen Augenblick hegte Marion die Hoffnung, daß er gegangen sei.

Dann hörte sie Stimmen, ganz nah. Sie erkannte die von Paul Quercy, von Talon und noch von einigen anderen. Sie waren gekommen. Ihre Männer waren da.