Die interkulturelle Literaturwissenschaft bezieht sich zunächst auf Konzepte von Fremdheit und Alterität, um die Begegnung mit dem Anderen und Fremden theoretisch zu erfassen (vgl. Hofmann 2006, S. 9–26). Dabei ist von Bedeutung, dass vor allem in den gegenwärtigen Gesellschaften und Konstellationen die Konzepte des Eigenen und Fremden ihre Konturen verlieren, indem das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden erkennbar wird und so Zustände des Übergangs und der offenen Identität in den Blick kommen (1). Dass sich Konzepte der Totalität, durch welche die Tradition des westlichen Denkens geprägt ist, verändern und tendenziell auflösen, bedenkt die philosophische Strömung der Dekonstruktion, die aber zu den Bemühungen der Hermeneutik in einem komplexen Spannungsverhältnis steht (2). Denn während einerseits starre Konzepte etwa kultureller Identität aufgelöst werden, orientiert man sich andererseits grundsätzlich immer (noch) auch an Konzepten des Verstehens, die nach Identität und Synthese des Mannigfaltigen streben. Allerdings ist jederzeit zu berücksichtigen, dass in vielen Fällen vermeintlich fraglose Konzeptbildungen und Begriffe auf einem Denken beruhen, das im Rahmen des Kolonialismus europäische Herrschaft begründet oder zumindest begleitet hat. So muss die interkulturelle Literaturwissenschaft die postkoloniale Reflexion einer Herrschaftsbezogenheit der europäischen Konzepte mit bedenken (3). Dabei stellt sich heraus, dass die kolonialen Machtasymmetrien sehr häufig mit Ungleichheiten in der Geschlechterordnung zusammengehen, sodass sich die Genderforschung als ein unhintergehbares Moment der interkulturellen und postkolonialen Literaturwissenschaft erweist (4).
Alterität
Unter ‚Alterität‘ lässt sich das Andere verstehen, das nicht unmittelbar ‚fremd‘ sein muss (lat.: ‚alter‘: ‚der andere von zweien‘, ‚alter‘ vs. ‚alius‘, ‚alienus‘). Identität konstituiert sich aber zunächst in Abgrenzung vom Anderen (im individuellen wie im kollektiven Bereich). Das menschliche Bedürfnis nach Identitätsbildung ist elementar; es muss aber nicht zu einer starren Identität und zu einer Zurückweisung des Anderen führen, sondern kann prozessual und offen gedacht werden. Für die Philosophie der Alterität (Lévinas, Waldenfels) stellt die Begegnung mit dem Anderen eine ursprüngliche Erfahrung dar, ohne die eine Konstitution des Ich gar nicht denkbar ist.
Fremdheit
Die Bedeutung des Wortes ‚fremd‘ lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Als ‚fremd‘ gilt häufig all das, was sich außerhalb des eigenen Bereichs befindet, was einem anderen gehört; allgemein auch das, was unvertraut erscheint und deshalb möglicherweise ‚befremdet‘. Aber: ‚Fremde sind wir uns selbst‘ (Julia Kristeva): das Fremde ist nicht nur außer uns. Das Unbewusste ist das fremde Eigene; der Tod ist das prinzipiell Fremde. So ist die Erfahrung von Fremdheit komplex und ambivalent. Die Bezeichnung eines Anderen als Fremdem beruht häufig auf einer Verdrängung des abgespaltenen ‚peinlichen‘ Eigenen und auf einer Projektion unangenehmer Eigenschaften und Verhaltensweisen auf das ‚Fremde‘ (dies ist eine Grundperspektive des Antisemitismus und des Rassismus).
Facetten des Fremdverstehens
Folgende Facetten des Fremdverstehens sind nach Ortfried Schäffter zu unterscheiden (vgl. Schäffter 1991):
1) das Fremde als Resonanzboden des Eigenen: Beschäftigt man sich intensiv mit dem ‚Fremden‘, so erkennt man viele Momente des Eigenen in ihm, sodass Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbar wird. Diese Erfahrung artikulierte Goethe, als er die Gedichte des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis kennenlernte und diesen als seinen „Zwilling“ bezeichnete.
2) das Fremde als Gegenbild: Hier wird das Eigene definiert in Abgrenzung zum Fremden, wobei feste Identitäten hypostasiert werden, deren Konstruktionscharakter eine kritische Kulturwissenschaft aufdecken kann.
3) das Fremde als Ergänzung: Hier wird der Kontakt mit dem Fremden positiv als Erweiterung des Eigenen aufgefasst. Das Eigene wird durch die Fülle der fremdkulturellen Erfahrungen reicher und verändert sich und seine eigene Vorstellung kultureller Identität.
4) das Fremde als das Komplementäre: Hier wird vor allem in der Erfahrung einer deutlichen Unterscheidung der Kulturen die Idee aufrecht erhalten, dass das Fremde fremd bleiben kann und dass man somit die Fremdheit in bestimmten Fällen nicht überwinden kann, beispielsweise weil man daran scheitert, alle auf der Welt gesprochenen Sprachen zu lernen. In solchen Fällen kann die Distanz zum Fremden gewahrt bleiben und dennoch das Fremde in seiner Fremdheit anerkannt und respektiert werden.
Grenzphänomene der Fremdheit
Grenzphänomene der Fremdheit (aus europäischer Sicht etwa: Kannibalismus, weibliche Genitalverstümmelung usw.) führen zu der Frage, ob kulturelle Differenz immer toleriert werden kann, das heißt ob in jedem Fall die Normorientierung des Anderen/Fremden respektiert werden muss oder ob es kulturübergreifende Werte gibt, die für jede Kultur gelten und deren Überschreitung nicht mit einer kulturellen Besonderheit erklärt werden kann. So stellt sich das Problem, ob kulturelle Fremdheit durch einen Universalismus des Humanen zu begrenzen ist und ob der Mitmensch in seinem Menschsein prinzipiell als der nicht Fremde zu verstehen ist, der bestimmte Grundüberzeugungen des Humanen mit mir teilt. Der Einspruch gegen diese Position verweist darauf, dass in der Geschichte des westlichen Denkens das Humane fast immer als das Europäische verstanden wurde und dass deshalb die Subsumierung nicht-europäischer Kulturen unter ein problematisches menschliches Allgemeines Teil eines Herrschaftsdenkens ist, das lediglich europäische Werte zu universellen machen würde. Auf der anderen Seite ist schwer zu vermitteln, woher der ethische Impetus der Interkulturalität mit seiner Respektierung des Fremden kommen könnte, wenn nicht von einem universalen Respekt vor der Selbstbestimmung jedes Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft, aus der heraus sich die Vielfalt der Kulturen entwickelt. In diesen Kontext gehören die Debatten um universale Menschenrechte, aber auch um das Konzept der Humanität, das in der deutschen Kulturgeschichte gerade für Herder und Goethe zentral war.
Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida
Sowohl Hermeneutik als auch Poststrukturalismus interessieren sich für interkulturelle Literatur. Zum Poststrukturalismus gehören Ansätze wie die Psychoanalyse Jacques Lacans (Lacan 2006), die Machttheorie und Diskursanalyse Michel Foucaults (Foucault 1991) und die Dekonstruktion Jacques Derridas (Derrida 1999, S. 31–56). Den drei Herangehensweisen ist gemeinsam, dass sie sich mit dem letztlich unbegründeten und paradoxen Charakter aller Unterscheidungen in der Sprache sowie mit der Uneinlösbarkeit des Anspruchs, ‚Wahrheit‘ sprachlich zu repräsentieren, befassen. Diese Probleme spitzen sich zu, wenn es um die Möglichkeiten geht, homogene Einheiten und interkulturelle Konstellationen zu beobachten und darzustellen. Die neuere Hermeneutik untersucht ebenfalls interkulturelle Poetiken und fragt nach der Art und Weise, wie sich literarische Texte als eine ästhetisch codierte Kommunikation zu sonstigen kulturellen Kommunikationen verhalten, beispielsweise zu Ideologien, Ausschlüssen oder Grenzziehungen im wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Wissen der Entstehungszeit des jeweiligen literarischen Textes.
Hermeneutik und Poststrukturalismus
Hermeneutik wie auch Dekonstruktion gewinnen in der Auseinandersetzung mit interkultureller Literatur neue Facetten. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden hermeneutische und poststrukturalistische Ansätze – zumindest in ihrem jeweiligen Selbstverständnis – eher selten miteinander verbunden, heute jedoch werden sie (gerade in der Auseinandersetzung mit interkultureller Literatur) durchaus miteinander kombiniert. Dies ist möglich, weil sich die Erkenntnisinteressen berühren und gegenwärtig kaum mehr grundlegende Unterschiede zwischen den Vorannahmen bezüglich der Verfasstheit von Literatur, Wissen und Macht mehr bestehen, sodass sich die Stärken der Ansätze ergänzen können. Der Poststrukturalismus fokussiert auf die Haltlosigkeit aller Unterscheidungen, während die Hermeneutik hypothetische Fluchtlinien erkannter Unterscheidungen im Text rekonstruiert und sie als grundloses Spiel versteht, dem dennoch Aussagen und Stellungnahmen innewohnen.
Episteme und Dispositiv – Ästhetische Möglichkeiten: Spiel mit Fremdheit
Poststrukturalistische Theorien haben gezeigt, dass Sprache, Wissen und Macht eng miteinander zusammenhängen und daher jeder Versuch, analytische Standpunkte zu entwerfen, die in kritischer Distanz zu diesen Wissensordnungen stehen, teilweise in sich selbst widersprüchlich ist. Michel Foucault hat mit dem Begriff der ‚Episteme‘ die Gesamtheit des in einer bestimmten Zeit in einem bestimmten kulturräumlichen Kontext Denkbaren bezeichnet, und mit jenem des ‚Dispositivs‘ die Konkretion des Denkbaren in Macht-Figurationen und Institutionen wie dem Recht (Foucault 1971). Der Versuch, aus dieser Ordnung des Denkbaren auszutreten, um sie zu beobachten und zu analysieren, zieht erkenntnistheoretische Probleme nach sich. Interkulturelle Literatur bildet hier keine Ausnahme, denn auch sie ist, auf der allgemeinsten Ebene betrachtet, Teil der Episteme ihrer Entstehungszeit. Dennoch wohnen ihr einige Möglichkeiten inne, die anders verfassten Formen kultureller Kommunikation nicht gegeben sind, insbesondere das zweifache (ästhetische und kulturelle) Spiel mit Fremdheit in der interkulturellen Literatur. Hier werden Spielräume des Auch-Anders-Denkbaren, Auch-Anders-Möglichen oder Noch-Fremden verhandelt. Dadurch scheint ein Moment der Differenz gegenüber dem in der Sprache und im kulturellen Wissen bereits Verfügbaren auf, und dieses Moment der Differenz ermöglicht es, das Gegebene zu befragen, zu analysieren und zu dekonstruieren – ein Weg, den literarische Texte bereits in der Zeit um 1800 einschlagen und dabei unterschiedlich weit gehen.
Literarische Texte geben, im Unterschied zu anderen spezialisierten kulturellen Kommunikationen wie etwa dem Recht, der Verwaltungssprache, den wissenschaftlichen Kommunikationen oder der Publizistik mit Nachrichtencharakter, gerade nicht vor, auf Gegebenes zu verweisen, und haben damit die Möglichkeit, in reflektierte Distanz zu einem naiven Verständnis des Verweisungscharakters der Sprache zu treten. Sie entwerfen Sinn (oder mitunter auch ‚keinen Sinn‘, also Nonsens), indem sie Sprache zu ästhetischen Formen arrangieren, die sich in erster Linie, im Ensemble des Textes oder des Fragments, zueinander verhalten, und die allenfalls mit Referentialität spielen, also innerhalb der fiktionalen Welt zwangsläufig ironische, nicht ganz aufgehende Verweise auf Daten und Orte der Geschichte einbauen. Diese Selbstreflexivität der Literatur, also das Hinterfragen des eigenen Umgangs mit Sprache und der Möglichkeiten, zum Gegebenen in Distanz zu treten, beschäftigt die Hermeneutik schon seit Längerem.
Interkulturelle Literatur als Dekonstruktion von Wissen und Macht
Interkultureller Literatur wohnt also ein besonderes Potential der Beobachtung und Dekonstruktion epistemisch geronnener Formationen von Wissen und Macht inne. Dieses Potential und diese Leistungen sind Gegenstand der neueren hermeneutischen Beschäftigung mit interkultureller Literatur. Die hermeneutische Beschreibung interkultureller Poetiken könnte ohne die neuen Perspektiven aus den poststrukturalistischen Theorien schwerlich auskommen. Im Lichte poststrukturalistischer Ansätze konnte erwiesen werden, dass schon in Teilen der Aufklärung, Klassik und Frühromantik Absurdes und Unhaltbares an den Grenzziehungen zwischen Kulturen und Nationen offengelegt und Identitäten als Spur einer nicht abschließbaren Suche reformuliert wurden. Die Unmöglichkeit, sich selbst als ‚identisch‘ zu begreifen zählte bereits zu den wichtigen Denkfiguren der Frühromantik. Poststrukturalistische Theorien setzen an einer ähnlichen Stelle an und radikalisieren diese Überlegungen, wenn sie das Konzept der ‚Identität‘ ganz verabschieden und allen Sinn als bloße Gleitbewegung der ‚différance‘ (des ‚Differierens‘) auffassen.
Die neuere Hermeneutik interessiert sich durchaus ebenfalls für das Nachvollziehen oder rezipierende Neu-Entwerfen von Spuren der Differenz und für kulturelle, religiöse oder sonstige Unterscheidungen, die in Texten getroffen und wieder verworfen werden. Einige Texte, die Gegenstand dieser Einführung sind, zielen bereits in der Zeit um 1800 darauf, tradierte Unterscheidungs-Dispositive zu dekonstruieren und Grenzziehungen (beispielsweise zwischen vermeintlich überlegenen Kolonisierern und Kolonisierten oder zwischen dem westlichen Europa und dem ‚Orient‘) infrage zu stellen. Im 20. und 21. Jahrhundert dekonstruiert die Poetik Yoko Tawadas, der ein eigenes Kapitel in diesem Band gewidmet ist, in sehr elaborierter Weise die Vorstellung, man könne in sich geschlossene Kulturen sprachlich repräsentieren und von anderen, ebenfalls in sich geschlossenen Kulturen unterscheiden.
Jacques Derrida: différance
Die Dekonstruktion fragt nach einer Spur des Differierenden, des Nicht-Identischen, das Jacques Derrida mit dem Begriff différance (Derrida 2004) bezeichnete. Vereinfacht formuliert kann allein aufgrund der Zeitlichkeit allen Erlebens und Erkennens die ‚Identität‘ eines externen Gegenstands oder des eigenen Selbst nicht gedacht werden, ein Moment der Nicht-Identität, das einen Vorgang der Übersetzung einfordert, ist immer gegeben. Gerade lebendige Materie verändert sich von einem Augenblick zum nächsten, und das gilt auch für den Betrachter, für den beispielsweise von einem Moment zum anderen das, was er als ‚Vergangenheit‘ ansieht, anwächst und sich demzufolge andere Zusammenhänge, Stimmigkeiten und Evidenzen einstellen, die den gleichen Betrachtungsgegenstand (der sich zudem selber ebenfalls anderweitig verändert hat) in anderem Lichte erscheinen lassen. Selbst die versuchte Wiederholung des Selben kann nicht mit dem vorgängigen Akt identisch sein. Eine Betrachtung von Entitäten (von Kollektiven wie Völkern und Kulturen oder von Individuen) als unveränderte Einheiten, die eine diachrone Entwicklung durchlaufen, ist demnach nicht möglich bzw. eine Konstruktion, die die Komplexität der Transformationsprozesse ausblendet. Vielmehr legt die Dekonstruktion eine Spur des Differierens offen, die durch die Zeit gleitet und sich immer weiter verschiebt.
interne Heterogenität
Die interne Heterogenität von Kultur sowie ihr ständiger Transformationscharakter wurden nicht erst durch die Dekonstruktion, sondern bereits in der Zeit um 1800 in philosophischen wie auch in literarischen Schriften thematisiert (wenn auch eher am Rande). So spricht Johann Gottfried Herder die jahrhundertelange Existenz ‚interner Fremder‘ in Europa und auf anderen Kontinenten an, hält jedoch gleichzeitig an den Paradigmen ‚Volk‘ und ‚Nation‘ fest. Infolge der performativen Wende in den Kulturwissenschaften trifft man demgegenüber heute keine ontologischen Aussagen mehr über ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Kulturen‘. Vielmehr analysiert man diese Paradigmen als wirkmächtige Repräsentationen von Kollektiven, die über lange Zeiträume Selbstentwürfe geprägt und Machteffekte generiert haben. Weder Hermeneutik noch Dekonstruktion und weitere poststrukturalistische Ansätze greifen heute auf positivistische Begriffe von Identität zurück.
Edward Said: Orientalism – Kontrapunktische Lektüre
Ein entscheidender Impuls für die Entwicklung der postcolonial studies ging von Edward Saids Schrift Orientalism aus dem Jahre 1978 aus, in welcher der aus Palästina stammende und in den USA lehrende Komparatist grundlegende Thesen über die Verbindung von kulturellen Fremdbildern und Stereotypen einerseits und kolonialen Machtverhältnissen andererseits präsentierte. Said zeigte, ausgehend von Konzepten Antonio Gramscis zur ‚kulturellen Hegemonie‘ und Michael Foucaults zur Diskursanalyse, dass der ‚Orient‘ als Konstrukt Europas zu begreifen sei, als ein Anderes Europas, durch das Europa seine Identität in Abgrenzung und in einem Gefühl der Überlegenheit definierte. ‚Orientalismus‘ wird als Diskurs begriffen; vermeintliche Eigenschaften des Orients werden Eigenschaften Europas gegenübergestellt. Dabei fand sich ‚Orientalismus‘ bereits in der vorkolonialen Geschichte Europas: die östlichen Fremden wurden in der Antike als ‚Barbaren‘ verstanden (obwohl gleichzeitig ein Kultur- und Wissenstransfer aus Ägypten und aus Asien stattfand) und im Mittelalter waren der ‚Orient‘ und die islamische Welt im Kontext der Kreuzzüge das Zentrum der Ungläubigen, mit denen es auch militärische Konfrontationen gab. Schließlich, so Said, ergab sich aber in der Neuzeit eine enge Verbindung von ‚Orientalismus‘ und Kolonialismus: das Wissen vom Orient wurde vor allem in Großbritannien und Frankreich an Herrschaft gekoppelt. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen orientalistischen Denkmustern ist seit Said ein wesentlicher Impuls der postkolonialen und interkulturellen Literaturwissenschaft, auch wenn die Konzepte Saids wegen eines gewissen Schematismus kritisiert und modifiziert wurden. So stellt sich die Frage nach einer grundlegenden Ambivalenz der mit dem ‚Orient‘ befassten Texte, die zwischen Faszination und Abwehr schwanken bzw. bisweilen sogar von der Überlegenheit des ‚Orients‘ ausgehen; die These von der durchgängigen Überlegenheit der Europäer gegenüber den ‚Orientalen‘ ist insbesondere angesichts der Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit in Zweifel zu ziehen. Die spezielle Frage nach deutschen und deutschsprachigen Orient-Diskursen ist ein gegenwärtiges Forschungsfeld der Germanistik, das sich noch in Bewegung befindet und das durch die aktuellen Migrationsbewegungen aus den arabischen Ländern und die weltpolitische Situation rund um die Krisen im Nahen Osten eine neue Aktualität gewonnen hat. In seinem Werk Kultur und Imperialismus hat Edward Said sein Konzept differenziert und in brillanten Studien die Methode der ‚kontrapunktischen Lektüre‘ entwickelt, in denen er komplexe Bezüge europäischer Autoren zum Orient präzise darstellte. Diese Studien sind zum Vorbild für analoge Bemühungen in der Germanistik geworden.
Homi Bhabha
In einem weiteren Sinne entwickelten sich die Postkolonialen Studien als angloamerikanische Forschungen zum Nachleben des Kolonialismus und zur Verbindung von europäischer Kultur/Literatur und Kolonialismus. Der aus Indien stammende und in den USA lehrende Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha entwickelte in seiner Studie The Location of Culture (zuerst 1994) eine viel beachtete (und bisweilen unkritisch und trivialisiert nachgeahmte) Konzeption, in der die Begegnungen zwischen Kolonialherren und Kolonialisierten nicht als einseitige Ausprägung eines Herrschaftsprozesses verstanden wurden, sondern in denen komplexe Wechselwirkungen zu beobachten waren, die Bhabha mit den viel verwendeten Termini ‚Hybridität‘, ‚Mimikry‘, ‚Dritter Raum‘ bezeichnete. Die kolonialen und auch die postkolonialen Beziehungen sind nach Bhabhas Ansicht durch eine Vermischung europäischer und außereuropäischer kultureller Elemente gekennzeichnet.
Gayatri Spivak – Sprechen der Subalternen
Die dritte besonders einflussreiche Vertreterin der postcolonial studies ist die ebenfalls aus Indien stammende und in den USA lehrende Gayatri Chakravorty Spivak, die in ihrer Studie Can the subaltern speak? (zuerst 1988) verdeutlichte, dass die Kolonialisierten und ihre Nachfahren auf Schwierigkeiten der Artikulation stoßen, weil sie sich der Sprache der Kolonialherren bedienen müssen – der und vor allem die Subalterne hat keine eigene Sprache und dieses Problem betrifft auch die postkoloniale Theorie selbst, die sich in den US-amerikanischen Metropolen entwickelt hat und mit der Frage konfrontiert ist, ob sie sich etwa als (unmögliche) Repräsentantin der Subalternen begreift, wobei Spivak vor allem den Gender-Aspekt der postkolonialen Situation betont, weil selbst ‚progressive‘ Europäer und Amerikaner sich immer wieder bemüßigt fühlen, ‚im Namen‘ vor allem der weiblichen Subalternen zu sprechen.
Autoreflexivität der Literatur und Multiperspektivik
Insgesamt zeigt sich bei diesem kurzen Überblick über die postkolonialen Theoriekonzepte, dass diese der Interkulturellen Literaturwissenschaft die Asymmetrie interkultureller Begegnungen in politischen Verhältnissen wie dem Kolonialismus verdeutlichen und dass die Frage nach dem Sprechen über den Anderen zur Kernfrage der interkulturellen und postkolonialen Literatur und Kultur wird: Indem nämlich die unauflösbare Verbindung von Herrschaft und Sprechen über den Anderen verdeutlicht wird, stellt sich die Frage, wie denn angemessen über den Anderen gesprochen werden kann. Die Antwort kann nicht sein, dass es einen völlig herrschaftsfreien und unbelasteten Diskurs über den Anderen geben soll; vielmehr müssen die Aporien des interkulturellen Diskurses in diesem immer mitbedacht werden. Die Literatur kann dieses Problem kreativ bearbeiten, indem sie zum Beispiel autoreflexiv arbeitet und dabei die Voraussetzungen ihres eigenen Sprechens kritisch befragt oder verschiedene Formen der Multiperspektivik in ihren Diskurs einarbeitet und so die Notwendigkeit darlegt, etwa bornierte eurozentrische Perspektiven zu überwinden.
Anerkennung, Individualität und Subjektivierung
In einer ganzen Reihe poststrukturalistischer Theorien, insbesondere in Michel Foucaults Machttheorie und im Anschluss daran, fand seit den 1980er Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit der Zuschreibung geschlechtsspezifischer Merkmale und deren Wertung statt. Diese Fragen ragen in vielerlei Hinsicht in den Kern dieser Theorieansätze hinein, denn sie betreffen Anerkennung, Individualität und Subjektivierung, gesellschaftliche Makrostrukturen sowie Institutionen und ihre Legitimität.
‚Ungenauer‘ Name Gottes
Sowohl Jacques Derrida als auch Jacques Lacan haben sich mit dem ‚Namen Gottes‘ bzw. dem ‚Namen des Vaters‘, d.h. mit der sprachlichen Bezeichnung und Anrede Gottes, befasst. Diese Namen – die im Übrigen häufig mit Tabus belegt sind – stellen eine Paradoxie dar, denn Gott, der alles (einschließlich der Sprache) umfassen soll, kann nicht innerhalb der Sprache ‚auf den Begriff gebracht‘ oder mit einem Namen bezeichnet werden. Dennoch, so die poststrukturalistische Kritik Jacques Derridas und Jacques Lacans, finde sich in der Sprache eine symbolische Ausrichtung von Selbst und Welt an dem ‚Namen Gottes‘. Dieser fungiere als Garant der sprachlichen Ordnung und generiere eine Struktur gewerteter Dichotomien, wie diejenigen von Allgemeinem und Speziellem, Maßstab und gemessenem Objekt, Universellem und Partikulärem und schließlich und nicht zuletzt Geist und Materie sowie Herr und Knecht, die zwar nicht im ontologischen Sinne ‚wahr‘ seien, aber dennoch reale Machteffekte und kulturellen Sinn generieren würden. Dementsprechend würden auch ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ in eine solche Serie gewerteter Dichotomien eingereiht.
Judith Butler: Gender trouble – Die Performativität sprachlichen Handelns
Insbesondere die Theoretikerin Judith Butler hat sich – auch in Anlehnung an Michel Foucault – mit der ‚falschen Evidenz‘ dieser in Sprache, Macht und Erkenntniskategorien eingefrorenen, geschlechtlich codierten Asymmetrien befasst (Butler 1991; Butler 1995). Spätestens seit ihrem Buch Gender trouble gilt als selbstverständlich, dass ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ sich nicht aus der Materialität der Körper deduzieren lassen, sondern umgekehrt Erkenntniskategorien sind, die auf die Materie bezogen werden. ‚Geschlecht‘ bildet dabei durchaus keine Ausnahme, denn in poststrukturalistischen Theorien wird eine unüberbrückbare Differenz zwischen Sprache und Materie angenommen. Sprache ist demzufolge lediglich in der Lage, Erkenntniskategorien zu generieren, die Stimmigkeit suggerieren, weil insbesondere solche einfachen Relationen, wie beispielsweise Oppositionen, aber auch sonstige Kategorienraster den Anforderungen der Logik genügen. Ontologische Aussagen über Geschlecht zu treffen, ist aber in der Auffassung Butlers ebenso so unmöglich, wie die radikale Differenz einzelner ‚Völker‘ oder gar ‚Rassen‘ auf den Begriff zu bringen. So kann beispielsweise nicht bewiesen werden, dass ein bestimmter Baum gewiss eine Buche ist. Nachweisbar ist lediglich, dass in unserer Sprache und Kultur, unter Berücksichtigung des Forschungsstandes der Botanik wie auch des Alltagswissens, ein bestimmter Baum gemeinhin als Buche bezeichnet wird, womit sich bestimmte Annahmen und Erwartungen verbinden, beispielsweise, dass unter dem Mikroskop eine bestimmte Zellstruktur seiner Blätter erkennbar ist. Analog zur Buche ließen sich ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ oder jede andere Kategorisierung, die sich auf lebendige Materie bezieht, anführen. Diese als ‚linguistic turn‘ bezeichnete Denkfigur (Rorty 1967; Bachmann-Medick 2011) schränkt im ersten Schritt den Geltungsanspruch der Sprache stark ein – denn Sprache vermag es nicht, auf ‚Wahres‘ oder ‚Existentes‘ zu verweisen, sie konstruiert eben nur nach kulturellen Regeln ausdifferenzierten sprachlichen Sinn, der Kultur und Gesellschaft ausmacht, aber nicht in einer vom Menschen und von der Sprache unabhängigen Wirklichkeit eine Deckung besitzt. Folglich gibt es auch die Oppositionen, die die Sprache verwendet, in einer Welt der Ideen nicht ‚wirklich‘. Daraus resultiert im zweiten Schritt eine beträchtliche Erweiterung des Stellenwertes von Sprache für gesellschaftliche und kulturelle Prozesse: Sprache konstituiert Gesellschaft und Kultur und strukturiert jeden Erkenntnisprozess stark vor; dabei wird Sprache selbst gesellschaftlich und kulturell hergestellt. Die Einsicht in die ‚Performativität‘ (Butler 2006, S. 249–256) sprachlichen Handelns hat erhöhte Aufmerksamkeit für das Sprechen über Andere, etwa für asymmetrische Wertungen von Unterscheidungen usw. nach sich gezogen. Dabei ist es keineswegs neu, dass Gesellschaften den eigenen Sprachgebrauch reflektieren und Kategorien und Unterscheidungen verabschieden, historisieren oder modifizieren, weil sie sie für ethisch und moralisch nicht mehr vertretbar oder schlicht für überholt halten. Die Kategorie ‚Rasse‘ ist obsolet und nicht mehr vertretbar, die Unterscheidung ‚Sklave‘ vs. ‚Freier‘ wurde historisiert und die Opposition ‚Mann‘ vs. ‚Frau‘ fortwährend modifiziert. Dies alles sind Erscheinungsformen der Plastizität und Transformationsfähigkeit von Sprache, und daraus resultiert auch ein ethisch-politischer Rechtfertigungsdruck, der von dem Gedanken des autonomen Individuums und seiner Selbstbestimmung abgeleitet wurde und nun letztlich auf jeder einzelnen Sprache lastet.
Infragestellung des zweifach inferiorisierenden Repräsentationsregimes
Im Zusammenhang dieser Einführung ergibt sich daraus vor allem die Frage: Inwiefern und mit Hilfe welcher Verfahren sind literarische Texte in der Lage, interkulturelle Konstellationen zu entwerfen, in denen Geschlechterasymmetrien unterschiedlicher Kulturräume miteinander verglichen werden, ohne dass dabei die westeuropäischen Verhältnisse als Maßstab herangezogen werden (Uerlings 2006)? Gelingt es den Texten, jenes zweifach inferiorisierende Repräsentationsregime infrage zu stellen, welches im ‚kolonialen Paar‘ (bestehend aus dem männlichen ‚Kulturbringer‘ und der braunen oder schwarzen Frau als ‚edler Wilder‘) angelegt ist?
Uma Narayan: Kolonialismus und Geschlechterasymmetrien
Des Weiteren wird aus Sicht der Gender Studien kritisiert, dass sich insbesondere im 19. und 20., zuweilen aber auch noch im 21. Jahrhundert ein Blickregime auf andere Kulturräume herausgebildet hat, das ein ‚rückständiges‘ oder ‚frauenfeindliches‘ Geschlechterbild unterstellt. Zwar mag es solche Verhältnisse an westlichen Maßstäben gemessen durchaus geben, aber häufig blenden solche Beschreibungen die Verhandlungs- und Transformationsprozesse von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ aus, die auch in diesen Kulturräumen durchaus seit Jahrhunderten stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Insbesondere mit Bezug auf Indien haben mehrere Theoretikerinnen argumentiert, dass die aus westlicher Sicht geäußerte Klage über die Unterdrückung der Frauen häufig damit einherginge, dass die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um Machteffekte der Kategorie ‚Geschlecht‘ in Indien selbst von den westlichen Betrachtern kaum zur Kenntnis genommen würden. Im blinden Fleck des westeuropäischen Selbstverständnisses als ‚Kultur- und Emanzipationsbringer‘ läge, so die postkoloniale Theoretikerin Uma Narayan (Narayan 2011, S. 337–393), dass der Kolonialismus zumeist die Geschlechterasymmetrien in den kolonisierten Gebieten verstärkt habe, da die Kolonialherren überwiegend einheimische Männer als Verhandlungspartner für die kulturellen Transferprozesse auserkoren und die Frauen durch die eingeleiteten infrastrukturellen, produktionstechnischen und symbolischen Veränderungen noch schlechter gestellt hätten als zuvor. Sie begründet dies damit, dass in der Folge deren traditionelle Tätigkeiten (bestimmte Formen der Nahrungsbeschaffung, Verarbeitung von Stoffen etc.) entwertet und durch andere Produktionstechniken ersetzt worden seien, ohne dass die Frauen in angemessener Weise an diesen neuen Prozessen beteiligt worden wären, sodass ihr Stand sich im kulturellen Aushandlungsprozess von ‚Geschlecht‘ mitunter trotz rechtlicher Verbesserungen insgesamt verschlechtert habe.
Auch Gayatri Chakravorty Spivak kritisiert in ihrem berühmten Essay Can the Subaltern Speak (Spivak 1988, S. 271–313), dass indische Frauen in westlichen Darstellungen der Unterdrückung von Frauen in Indien nicht als Handelnde und Sprechende wahrgenommen, sondern in potenzierter Weise als Objekte imaginiert würden: Weiße Männer bemühten sich, braune Frauen vor braunen Männern zu retten, und bemerkten dabei nicht, dass sie dabei Handlungsspielräume von Frauen negierten und es hauptsächlich darum ginge, die Überlegenheit des westeuropäischen Patriarchats gegenüber dem indischen unter Beweis zu stellen. Dieser Kopplung von geschlechtlichen und kulturellen Machtasymmetrien gelte es, so Spivak, entgegenzuwirken. Westliche Beobachter täten besser daran, indische Frauen als Ansprechpartner und als Instanzen, die kulturelle Prozesse aushandeln, aufzusuchen, anzuhören und ernst zu nehmen, statt über ihre vermeintlich von der indischen Kultur hergestellte Passivität zu klagen.
Fragen an den literarischen Text
Auch von hier aus lassen sich zahlreiche Fragen an die literarischen Texte richten, wobei die Antworten nicht unbedingt mit der Zielrichtung der jeweiligen Poetik deckungsgleich sein müssen – diese Relation bedarf daher gesonderter Klärung. Gelingt es den Texten, insbesondere weibliche Stimmen aus Kulturräumen, die im diskursiv verfügbaren Wissen inferiorisiert wurden, so darzustellen, dass ihrer Person, ihren Erkenntniskategorien und ihrem Weltbezug nicht nur Sympathie, sondern auch Interesse entgegengerbracht werden? Kommt es zu überzeugenden Darstellungen einander überkreuzender, prinzipiell gleichwertiger Gegenblicke? Ziehen die europäischen Gesprächspartner es zumindest in Betracht, ihre eigenen Denkkategorien ausgehend von der Rede einer ‚orientalischen Frau‘ infrage zu stellen? – Bereits in der Zeit um 1800 entstehen Texte, für die man diese Fragen mit einiger Vorsicht bejahen kann.