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Lauter Geschichten im Kopf
»Papa, kannst du mir mal helfen?« Flora hielt ihrem Vater die aufblasbare Schwimmeule hin, die Zoe ihr vor Kurzem geschenkt hatte, als sie gemeinsam ins Schwimmbad gegangen waren. Doch jetzt hing der Kopf der Eule ganz schlaff nach unten, als ob sie todtraurig wäre.
»Ach, Flora, muss das sein?«, fragte ihr Vater, der gerade aus dem Bad kam. »Da wird mir bloß schwindelig, und nachher ist der halbe Kofferraum voller Eule.«
»Ja, das muss sein«, beharrte Flora. »Ich hab mich schon die ganze Zeit so darauf gefreut, dass wir sie mitnehmen. Einen Natur see im Wald findet die kleine Eule bestimmt noch viel schöner als das Schwimmbad.«
»Davon bin ich überzeugt«, meinte Herr Faltin, und Flora war klar, dass es ihm nicht ganz ernst war mit seiner Antwort. Seufzend nahm er das Badetier an sich. »Wenn du deiner kleinen Eule dann bitte sagen könntest, dass sie ihre Flügel selbst aufblasen und am besten auch gleich zum Moorsee vorfliegen soll.« Er holte tief Luft, presste das Ventil an die Lippen und pustete, so fest er konnte.
Nach und nach wurde die Eule größer und reckte bald stolz den Kopf in die Höhe. Glücklich nahm Flora sie schließlich in die Hände. Sie konnte es kaum mehr erwarten, mit ihr im Wasser zu sein!
Eine Viertelstunde später machte sich die Familie im alten Geländewagen von Floras Vater auf den Weg. Frau Faltin hatte eine große Tasche mit Proviant gepackt, wobei Herr Faltin nur gemurmelt hatte, sie wollten schließlich nicht mehrere Wochen, sondern bloß ein paar Stunden bleiben.
Doch als Flora dann mit ihrer Eule durchs Wasser ruderte, hätte sie am liebsten den Rest des Tages auf dem herrlich kühlen See verbracht. Es gab sogar eine Badeinsel mit Rutsche! Und von einem dicken Baum, der schräg übers Wasser ragte, hing ein Tau, an dem man sich durch die Luft schwingen konnte.
Schweren Herzens trennte sich Flora von diesem wunderbaren Ort, als es am Nachmittag immer voller wurde und ihre Eltern nach Hause wollten. Doch sie versprachen, bald einmal wiederzukommen.
Als die Faltins daheim ankamen, machten sie es sich im Garten gemütlich, denn in der Wohnung war es viel zu heiß.
Während Flora sich auf der Picknickdecke ausstreckte und in einer Tierzeitschrift blätterte, las ihre Mutter im Liegestuhl, und ihr Vater döste vor sich hin. Felix schob voller Begeisterung Spielzeugautos durch seine Wasserrennbahn und machte ständig quietschende Autoreifen nach, was Flora ziemlich nervig fand. Sie drehte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel. Keine einzige Wolke weit und breit. Was für ein herrlicher Ferientag! Aber was raschelte denn da in dem alten Nussbaum? Vielleicht ein Eichhörnchen? Doch plötzlich erkannte Flora: Es war Goldwing, die dort oben in der Krone des Baums gelandet war! Mit aufgeregten Kopfbewegungen deutete sie Richtung Wald. Flora war sofort auf den Füßen. Was wollte Goldwing denn mitten am Tag bei ihnen im Garten?
»Ich geh noch schnell bei Miri vorbei«, sagte Flora zu ihrer Mutter, aber die war mittlerweile mit dem Buch auf dem Bauch eingenickt.
Felix hörte kaum hin, als Flora ihn bat, ihren Eltern Bescheid zu sagen, wo sie war. Er war völlig versunken in seine Rennbahn.
»Iiiijiiie!«, jaulte er, bevor sein Auto in die nächste Kurve schoss. Flora hatte keine Ahnung, ob das Ja heißen sollte, aber es war ihr auch egal. Hauptsache, sie kam jetzt ohne lästige Fragen weg.
Goldwing wartete bei den Obstwiesen auf sie, und Flora folgte ihr in den Wald. Selbst im Schatten der Bäume war es heiß, und Flora keuchte, während sie den Weg zur Lichtung hinauflief.
Jetzt bog Goldwing plötzlich ab und führte sie durchs Dickicht. Bis die Eule schließlich flügelschlagend vor einer Senke verharrte, die sich wie ein Trichter in den Boden grub. Vorsichtig ging Flora die letzten Meter bis zum Rand, streckte den Kopf vor und sah – Moritz!
Das süße Alpaka mit der weißen Brust kauerte im alten Laub und blickte ängstlich zu Flora hoch. Da landete Goldwing neben ihr und legte fragend den Kopf schief. Flora schaute sich prüfend um, niemand war zu sehen. Sie konnte es wagen! Hektisch zog sie den Ring hervor und verwandelte Goldwing.
»Das ist Moritz, von dem ich dir erzählt habe«, stieß sie hervor, kaum, dass der letzte goldene Schimmer die Flügelspitzen erreicht hatte. »Was hat der denn hier zu suchen?«
»Keine Ahnung, ich hab ihn zufällig entdeckt«, erklärte Goldwing. »Vielleicht hat er sich verlaufen?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Flora. »Schnell, frag ihn, was los ist! Nicht, dass uns jemand entdeckt.«
Goldwing flatterte zu Moritz, der beim Anblick der leuchtenden Flügel erschrocken aufsprang. Die kleine Zaubereule stieß ein paar sanfte Rufe aus, worauf Moritz noch größere Augen bekam. Dann fing er stockend an, kurze, hohe Töne von sich zu geben. Das dauerte ziemlich lange, zumindest kam es Flora so vor. Immer wieder schaute sie sich ängstlich um, ob nicht jemand kam.
Nun klang Moritz richtig aufgeregt, unruhig trat er von einem Bein aufs andere. Schließlich verstummte er und schaute traurig zur Seite.
»Was hat er denn?«, fragte Flora voller Ungeduld.
»Vorhin bei einem Ausflug hat er wohl ein bisschen getrödelt«, erklärte Goldwing. »Da haben die anderen Alpakas lauter gemeine Bemerkungen gemacht. Dabei war Moritz nur langsamer, weil er eine spannende Geschichte im Kopf hatte, und dann ist er manchmal etwas abwesend. Aber das ist ja kein Verbrechen. Bruno, der sich gern als Boss aufspielt, sieht das wohl anders. Moritz findet es gemein, dass es immer nach seinem Willen und seinem Tempo gehen muss. Und wehe, da macht einer nicht mit! Dann gibt es schnell Gemeckere, auch von den anderen. Moritz denkt, keiner kann ihn leiden. Deswegen ist er weggelaufen!«
Flora wurde es vor Schreck ganz heiß. Das klang ja richtig verzweifelt! Aber Moritz konnte doch nicht allein im Wald bleiben.
Nun meldete sich Goldwing wieder zu Wort, und Moritz blickte sie für einen Moment versonnen an. Dann antwortete er, doch nun klang er viel ruhiger und sah irgendwie verträumt aus.
»Ich habe ihn gefragt, was für Geschichten er sich da so ausdenkt«, wandte sich Goldwing an Flora. Flora lächelte. Wie schlau von Goldwing! Nun schien Moritz nicht mehr so wütend zu sein.
»Sie handeln von den Abenteuern eines besonders mutigen Alpakas in Peru«, fuhr Goldwing nun fort. »Einmal rettet es zum Beispiel ein Alpakakind, das in einen reißenden Fluss gefallen ist. Oder es bringt seinen besten Freund bei einem furchtbaren Gewitter in einer Höhle in Sicherheit. Ich finde, das klingt wirklich spannend. Da kann ich verstehen, dass Moritz manchmal nicht so bei der Sache ist. Aber die anderen können ja nicht ahnen, welche Heldentaten ihm gerade durch den Kopf spuken! Und sie können auch nicht alle immer auf ihn warten.«
»Und wenn er seine Geschichten im Stall erzählt?«, schlug Flora vor. »So hätten die anderen auch was davon. Und das wäre doch auch für Moritz schöner, als sie nur für sich zu behalten.«
»Das stimmt«, pflichtete Goldwing ihr bei und berichtete Moritz von Floras Idee. Doch der schüttelte nur den Kopf und fiepte vor sich hin.
»Moritz glaubt nicht, dass die anderen sich für seine Geschichten interessieren«, erklärte Goldwing. »Dieser Bruno ganz sicher nicht. Nein, Moritz will auf keinen Fall zurück.«
»Aber er kann nicht allein hierbleiben«, protestierte Flora.
»Hab ich ihm auch gesagt«, erwiderte Goldwing. »Ein Alpaka braucht seine Herde, und bestimmt wird schon nach ihm gesucht. Aber Moritz meint nur, ich hätte ja auch keine Herde.«
Flora seufzte und schüttelte den Kopf. Warum war Moritz nur so stur? Er könnte wenigstens versuchen, mit den anderen zu reden. Aber wenn er es nicht tat … dann könnte das Goldwing doch!
»Sag ihm, dass wir heute Nacht gemeinsam zur Farm gehen«, bat sie. »Dann kannst du den Alpakas erklären, warum Moritz trödelt. Ich bin sicher, wenn sie ihn verstehen, dann sind sie auch netter zu ihm. Und umso mehr, wenn sie sehen, dass eine Zaubereule seine Freundin ist!«
Goldwing nickte, aber Moritz schien nicht sehr überzeugt von Floras Plan zu sein.
»Er meint, bei Bruno könnte nicht mal eine Zaubereule was ausrichten«, erklärte Goldwing.
»Das glaube ich nicht!«, widersprach Flora und ballte entschlossen die Hand zur Faust. »Wenn jemand bei ihnen was bewegen kann, dann du!«