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Flora auf der Suche
Am nächsten Morgen war Zoe vor Flora wach. Flora hörte, wie sie sich streckte und gähnte, aber sie wollte nicht aufstehen, sie war viel zu müde. Also kniff sie die Augen zusammen und drückte den Kopf noch ein bisschen tiefer ins Kissen. Doch Zoe hielt es nicht lange allein aus.
»Flora!«, rief sie leise. »Bist du wach?«
Flora brummte vor sich hin. »Jetzt schon.«
»Sorry, ich wollte dich nicht wecken. Ich möchte nur nicht, dass wir zu spät zum Reiterhof kommen. Miri hat doch gesagt, wir sollen um zehn Uhr da sein.«
Flora blinzelte zu ihrem Wecker hinüber. »Es ist erst halb neun.«
Trotzdem sprang Zoe sofort auf und zog sich an. Flora lächelte. Zoe liebte Pferde, aber in der Stadt konnte sie nicht einfach zum Reiterhof radeln wie Flora, und ihrer Mutter war die Fahrerei zu viel. Deswegen war Sarahs Zeltlager mit Pferden für sie wie der Himmel auf Erden gewesen. Und jetzt hatte Miri ihr versprochen, heute noch auf Dusty reiten zu dürfen. Da wollte sie natürlich keine Minute verpassen.
»Das sieht toll aus«, stellte Zoe mit einem bewundernden Blick auf Dustys funkelndes Zaumzeug fest, als sie Miri wenig später auf dem Außenreitplatz trafen.
»Finden wir auch«, erwiderte Miri und lächelte Flora zu. »Aber die Geschmäcker sind verschieden.« Damit nickte sie in Richtung Stall, aus dem gerade Nathalie und Vicky traten.
Miri sprang aus dem Sattel und reichte Zoe die Zügel. »Hier, du bist dran.«
Ein Leuchten trat in Zoes Augen, und Flora wusste, wie sehr sie sich freute. Ganz aufrecht und mit hoch erhobenem Kopf ritt sie los. Flora und Miri lehnten am Zaun und schauten ihr zu.
»Alles Gute nachträglich zum Geburtstag«, erklang es plötzlich hinter ihnen. Nathalie! Da stand sie und hielt Flora die Hand hin. Zuerst war sie ziemlich verdutzt, aber dann streckte auch sie die Hand aus.
»Danke!« war alles, was sie herausbrachte.
»Ich habe gestern von dem Ausritt mit Sarah gehört«, fuhr Nathalie fort. »War bestimmt schön.«
Flora und Miri nickten. »Ja, das war es«, bestätigte Flora.
»He, Nathi, wo bleibst du denn?«, erklang es da vom Putzplatz. Vicky winkte mit der Bürste.
Nathalie winkte zurück, aber sie wirkte nicht gerade begeistert. »Bis später«, murmelte sie und ging wieder.
»Nathi«, äffte Miri Vickys Stimme nach, als Nathalie außer Hörweite war. »Klingt echt nach best best friends.«
Flora nickte. Aber eigentlich fand sie es ganz nett, dass Nathalie ihr noch gratuliert hatte.
Als sie um die Mittagszeit Zoe wieder nach Hause brachten, war es drückend heiß im Auto. Flora zog eine Wasserflasche aus ihrer neuen Umhängetasche und nahm einen großen Schluck.
»Mama, können wir nicht noch kurz im Venezia vorbeigehen?«, bat sie ihre Mutter. Flora wusste, dass Frau Faltin nicht Nein sagen würde, denn schließlich gab es hier das beste Eis weit und breit. Da konnte auch ihre Mutter nicht widerstehen. Doch als sie sich an eines der Tischchen setzen wollte, zog Flora sie weiter. »Komm, lass uns in den Park gehen. Da ist es schattiger.«
Ihre Mutter warf einen Blick auf die Uhr. »Na gut, ein paar Minuten haben wir.«
Flora wäre am liebsten sofort losgerannt. Nur widerwillig passte sie sich dem Schneckentempo an, in dem ihre Mutter und Zoe durch den Park schlenderten, während sie genüsslich ihr Eis aßen. Sie mussten nicht sehr weit gehen, da tauchte hinter einem Hügel schon der See auf. Zischend schoss das Wasser aus seiner Mitte hoch und verteilte sich sprühend in alle Richtungen. Und ein Stück entfernt fiel Flora auch gleich der riesige Baum ins Auge. Es war alles so, wie Johann es beschrieben hatte. Nur, dass Bagger herumstanden, sich frischer Kies auf den Wegen türmte und einige Bäume umgesägt danebenlagen.
Flora sah sich erschrocken um. Hoffentlich war nicht der Baum mit Johanns Nest dabei!
»Kommt, gehen wir in die andere Richtung«, meinte Frau Faltin und wandte sich ab. Da kam eine Ente mit vier Küken laut schnatternd über den Weg gewatschelt. Brav trotteten die Kleinen hinter ihrer Mutter her, bevor sie eine nach der anderen ins Wasser hüpften. Frau Faltin ging mit den Mädchen ans Ufer und schaute ihnen nach. Wie lustig es aussah, wenn die Küken ihre Köpfe ins Wasser steckten und sich dann jedes Mal kräftig schütteln mussten. Flora nutzte den Moment, um sich davonzustehlen, denn einer der umgesägten Bäume war ihr ins Auge gestochen. Genauer gesagt, ein Loch mit ein paar hell gesprenkelten Flaumfedern, die sich in der zerfurchten Rinde verfangen hatten.
Flora schob sich eilig ihr Eis in den Mund. Sie brauchte beide Hände, um dieses Loch zu untersuchen! Schnell kniete sie sich hin und streckte vorsichtig die Hand aus. Sie musste sich ein bisschen überwinden. Hoffentlich wuselte da nicht irgendwelches Ungeziefer herum. Aber sie spürte nur bröseliges Holz, Federn und weiche Knäuel mit harten Splittern darin. Solche Knäuel kannte sie von Fotos aus dem Eulenbuch ihres Vaters. Das war das, was Eulen nicht verdauten und wieder von sich gaben. Also handelte es sich tatsächlich um ein Eulennest! Aber war es das von Johanns Familie? Flora wusste, dass Eulen immer ihr eigenes Revier hatten, und bestimmt gab es hier am See keine zwei davon. Flora ertastete eine größere Feder und zog sie heraus. Sie war braun-grau gesprenkelt, wie das Gefieder eines Kauzes. Die wollte sie Johann mitbringen.
Und auch ein paar Blätter von diesem Baum, den er erwähnt hatte. Der stand ja nur ein paar Meter entfernt.
Auf dem kleinen Messingschild davor las Flora: Ginkgobaum, 1849 zu Ehren des Dichters Johann Wolfgang von Goethe gepflanzt. In Erinnerung an sein berühmtes Gedicht über das Ginkgoblatt, Sinnbild für Liebe und Freundschaft. Mögen sie und dieser Baum lange leben!
Flora hob ein paar Blätter vom Boden auf. Mit der Einkerbung in der Mitte hatten sie fast die Form eines Herzens. Womöglich hatte Goethe deswegen den Ginkgo für sein Gedicht aus gewählt?
Nachdenklich betrachtete Flora die Feder und die Blätter. Damit hatte sie zwar für Johann etwas in der Hand, aber wie brachte sie das bei ihrer Suche nach seinen Eltern weiter? Ohne Nest und bei dem Baulärm hatten sie doch bestimmt das Weite gesucht. Aber vielleicht kamen sie hin und wieder her, weil sie hofften, dass Johann zurückgefunden hatte? Dann sollten sie wenigstens wissen, dass es ihm gut ging. Am liebsten hätte Flora einen Brief geschrieben, den Kauzeltern alles erklärt und ihnen auch gesagt, dass sich eine Zaubereule um ihr Junges kümmerte. Doch leider konnten Käuze ja nicht lesen. Sollte sie trotzdem irgendwas für sie dalassen? Aber was?
Da fiel ihr plötzlich das Foto ein, das sie gestern von Johann gemacht hatte. Das musste doch noch in ihrer neuen Tasche sein. Hektisch nestelte Flora darin herum und stieß tatsächlich auf das kleine Bild mit dem jungen Kauz. Das war es! Floras Herz begann vor lauter Aufregung, ganz wild zu schlagen. Wenn Johanns Eltern dieses Bild sahen, dann wussten sie, dass es ihm gut ging. Und dass er nicht zu ihnen zurückkehren konnte, weil er gefangen gehalten wurde. Schnell schob Flora das Bild in das Loch im Baum. Hoffentlich fanden es Johanns Eltern auch!
Als sie den Arm wieder herauszog, fiel ihr das Freundschaftsband an ihrem Handgelenk ins Auge. Das hatte Goldwing schon so oft berührt. Gestern hatte es sogar richtig geleuchtet, als sie ihre goldenen Federn darübergelegt hatte. Vielleicht konnte Flora Johanns Eltern auf diese Weise sagen, dass eine Zaubereule hier ihre Flügel im Spiel hatte? Fast hatte sie das Gefühl, als schimmerte das Armband noch immer ein wenig. Konnten Johanns Eltern das sehen?
Einer plötzlichen Regung folgend, streifte Flora das Armband ab und legte es in die Nisthöhle. Mit einem Mal fühlte sich ihre Hand ganz nackt an, als ob ihr etwas fehlte. Sie hatte dieses Armband so lange getragen, es war irgendwie ein Teil von ihr. Und es war mehr als das, denn es war ein Zeichen ihrer Freundschaft zu Goldwing. Wenn die Kauzeltern diesen Hinweis auf die Zaubereule nun gar nicht verstanden und sie sich umsonst von ihm trennte? Würde Goldwing sauer sein, dass sie das Armband hergegeben hatte? Nein, das konnte Flora sich nicht vorstellen. Es war schließlich das Einzige, was sie im Moment für Johann tun konnte.