15

Magische Kräfte

Flora lauschte gebannt den sanften Lauten der Eule, die Goldwing zum Verwechseln ähnlich sah. Nur, dass sie ein bisschen kleiner war und keine glitzernden Flügel hatte. Trotzdem war sie eine Zaubereule, wie Goldwing berichtete.

»Ihr Freund, Jona, ist noch im Urlaub, aber normalerweise treffen sie sich auf der Lichtung. Hier hat Jona Securo, so heißt die Eule, zum ersten Mal verwandelt. Und hier hat ihnen wenig später auch Dareia verkündet, dass Securo für die Bewachung dieses Baums zuständig ist. Anscheinend ist er für Athenaria von besonderer Bedeutung. Der Baum ist fast so alt wie das Zauberreich selbst, also schon einige Hundert Jahre. Und er hat wohl immer eine Zaubereule als Wächter.«

»Worauf genau soll Securo denn aufpassen?«, wollte Flora wissen.

»Das hab ich ihn auch gefragt«, erwiderte Goldwing. »Er weiß es gar nicht so richtig. Nur, dass er den Baum beschützen muss und ihm auf keinen Fall etwas passieren darf. Einmal wollte ein junges Pärchen mit einem Messer was in die Rinde ritzen. Aber die hat Securo mit ein paar Flugmanövern vertrieben. Ansonsten war noch nie irgendwas Ungewöhnliches. Bis wir heute Nacht gekommen sind.«

»Wenn der Baum wichtig ist für Athenaria, dann … dann könnte es doch sein, dass er Zauberkräfte hat! Und uns vielleicht helfen kann, Johanns Eltern zu finden?«, überlegte Flora.

Goldwing schaute sie nachdenklich an und nickte dann. Da holte Flora das Armband aus ihrer Hosentasche. »Hier, halt es doch mal an den Baum. Vielleicht tut sich ja was.«

Das machte Goldwing, aber leider passierte überhaupt nichts. Der Baum stand reglos wie zuvor, nur der Wind fuhr leise raschelnd durch die Blätter.

Goldwing bemerkte Securos fragenden Blick und erklärte ihm, was sie vorhatten. Securo schaute voller Mitgefühl auf den kleinen Johann, während seine Ohren in alle Richtungen zuckten. Auch Goldwing sah so aus, wenn sie nachdachte, aber leider hatte keine der Eulen eine Idee.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so einfach geht«, meinte Emil schließlich. »Wenn der Baum uns helfen soll, brauchen wir dafür noch irgendwas.«

»Und was?«, wollte Flora wissen.

Emil zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendeinen Gegenstand, der die Zauberkraft des Baums in Gang setzt?«

Flora schaute sich den Ginkgobaum genau an. Verbarg sich etwas zwischen den Wurzeln, wie sie es schon einmal bei dem Olivenbaum auf Burg Federstein erlebt hatte? Oder war er hohl und versteckte ein Geheimnis in seinem Innern? Flora klopfte gegen den Stamm, auch Goldwing und Hibu pickten hier und dort herum, aber der Baum blieb einfach ein Baum.

Flora kam es so vor, als ob sie vergeblich an eine verschlossene Tür klopften. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass es irgendeinen Trick gab, um sie zu öffnen. Wie mit einem Geheimcode, der einem den Zugang freigab.

Wie aus dem Nichts sah sie plötzlich Felix vor sich, der ärgerlich auf dem Handy ihres Vaters herumgetippt hatte. Zugang nur mit Zauberfinger, klangen die Worte ihr noch im Ohr. Plötzlich stockte Flora. Vielleicht war Securo der Zauberfinger? Er war doch für den Baum zuständig, und vielleicht musste er ihn erst »freigeben«, um seine Zauberkraft zu wecken?

Zögernd berichtete sie den anderen von ihrer Idee, doch Goldwing war sofort Feuer und Flamme. Sie informierte Securo, dann schnappte sie sich das Armband, und die beiden umfingen mit ihren Flügeln den dicken Stamm. Goldwing presste das Armband ganz fest mit dem Schnabel gegen das zerfurchte Holz, fast schien sie es in den Baum hineindrücken zu wollen. Mit klopfendem Herzen stand Flora neben Emil und wartete. Johann und Hibu hielten es kaum aus und trippelten aufgeregt von einem Bein aufs andere. Was sollten sie denn tun, wenn das jetzt auch nicht funktionierte? Aber da! Plötzlich fing der Baum an zu leuchten. Zuerst nur an ein paar einzelnen Stellen, doch es wurden immer mehr. Sie breiteten sich aus, flossen ineinander, strömten die Äste entlang hinein in jedes einzelne Blatt. Bis der ganze Baum strahlte und sein Licht in den sternenübersäten Nachthimmel schickte.

Und genau in dieser Sekunde rief der kleine Steinkauz: »Guig, guig!« Die anderen, die nur Augen für den Ginkgobaum gehabt hatten, folgten seinem Blick und erstarrten. Dort, auf dem dunklen Wasser des Sees, war das Bild von zwei Käuzen zu sehen!

Johann flatterte sofort los, während er immer aufgeregtere Rufe von sich gab. Halb fliegend, halb hüpfend und stolpernd, schlidderte er Richtung Ufer.

»Halt!«, rief Goldwing erschrocken, ließ das Armband fallen und flog Johann hektisch hinterher. Sie stellte sich ihm mit aus gestreckten Flügeln in den Weg und konnte gerade noch so verhindern, dass Johann sich ins Wasser stürzte. Die beiden Käuze schienen zum Greifen nah, und doch war es nur ihr Spiegelbild, das auf geheimnisvolle Weise aufs Wasser gezaubert war.

Mit ein paar strengen »Huhs« drängte Goldwing Johann ein Stück zurück und stellte sich vor ihn. Johann machte einen langen Hals und ließ das Abbild seiner Eltern nicht aus den Augen. Nun bückte sich seine Mutter und hielt plötzlich etwas Leuchtendes im Schnabel. Floras Freundschaftsband! Es strahlte, genau wie der Baum! Mit schief gelegtem Kopf schaute der Vater auf das Band, streckte dann vorsichtig den Flügel danach aus und schloss die Augen. Eine Weile verharrten die beiden so, als ob sie einer geheimen Botschaft lauschten. Half ihnen das, den Weg zu Johann zu finden?

Da öffnete Johanns Vater wieder die Augen, und seine Mutter deutete mit dem Flügel in die Luft. Die beiden flogen auf, wurden kleiner und kleiner und waren schon bald nicht mehr zu sehen. Nur das Armband hinterließ eine leuchtende Spur. Das Bild auf dem See verblasste, bis bloß noch das Glitzern des Monds darauf zurückblieb. Alle starrten schweigend auf das Wasser, und nichts verriet mehr, was es ihnen offenbart hatte. Flora wusste: Ganz besondere magische Kräfte waren hier im Spiel. Und diese Kräfte würden nun hoffentlich Johanns Eltern zu ihnen führen!