Nachspiele II
Erinnern wir uns: Als sich die letzten 17 Mann in der Churo-Schlucht von der Armee umstellt sahen, hatten sich Pombo, Urbano, Benigno, Darío, Nato und Inti Peredo zu jenem Selbstmordkommando gemeldet, das die vom oberen Ende der Schlucht her angreifende Abteilung unter Leutnant Pérez so lange hinhalten sollte, bis es Che gelungen war, sich abwärts, zum Rio Grande hin, zu entfernen.
In der Nacht zum 9. Oktober gelingt diesen Männern nach einem plötzlich aufflammenden Gefecht der Ausbruch aus der Umklammerung. Für geraume Zeit hatten die Regierungstruppen ihr Hauptaugenmerk auf die Bewachung des Gefangenen Guevara gerichtet. Unter Führung von Inti Peredo irren die Überlebenden 15 Tage lang durch die Wälder. Sie halten sich zunächst in möglichst unwegsamen Gegenden auf, meiden menschliche Ansiedlungen.
Eines Nachts treffen sie einen Bauern, der ihnen einige Lebensmittel verkauft, sie darauf aber prompt an die Militärbehörden verrät.
Zu diesem Zeitpunkt wandern sie durch ein Gebiet mit wenig Vegetation, aber bis die Truppen auftauchen und die Gegend durchkämmen, finden sie ein Versteck in einem Waldstück. Als sie gegen Mitternacht weitergehen wollen, stoßen sie auf einen Doppelposten, den sie töten, ehe die Soldaten überhaupt Zeit finden, ihre Waffen in Anschlag zu bringen. Doch die Schüsse machen andere Trupps der Armee auf sie aufmerksam. In graudunkler Dämmerung beginnt eine Hetzjagd.
Ziel der Gruppe ist es, einen Punkt an der Straße Cochabamba - Santa Cruz zu erreichen.
Am 15. Oktober stöbern die Regierungstruppen sie in einem Versteck nahe dem Flecken La Cavana bei Mataral auf. Es kommt zu einem kurzen Schusswechsel. Nato wird schwer verwundet. Die Guerillas müssen rasch weiter. Es ist zu erwarten, dass die Armee sehr bald starke Verbände zusammenziehen wird. Nato hat furchtbare Schmerzen. Ein Geschoß steckt in seiner Wirbelsäule. An eine Operation ist nicht zu denken. Er bittet seine Kameraden wiederholt, ihn zu töten. Er sagt zu Pombo: »Wir haben einander versprochen, dass keiner von uns lebendig in die Hände des Feindes fallen soll. Los, schießt doch, schieß ...!« Einer der Gefährten zieht seine Waffe und erfüllt den Wunsch des Verwundeten. Nun sind es nur noch fünf. Sie gelangen in das Gebiet südwestlich der Hauptstraße und wenden sich einige Tage später, dem Lauf des Rio Pulquina folgend, nach Nordwesten. Hier treffen sie Bauern, die behaupten, Anhänger des revolutionären Flügels der MNR zu sein, die sie schützen und weiterschleusen.
Pombo hat es am schwersten. Seine dunkle Hautfarbe würde ihn einer plötzlich auftauchenden Armeepatrouille sofort verraten.
Inzwischen sind Sympathisanten der Guerillabewegung aus den Städten unterwegs, um den Überlebenden aus der Churo-Schlucht zu helfen. Pombo verbringt die Tage zumeist in einem unterirdischen Tunnel mit zwei Ausgängen. Ein Versteck, das die Bauern für ihn angelegt haben. Mit Unterstützung militanter Kommunisten gelingt es den fünf Männern, einen Kleinlastwagen aufzutreiben, mit dem sie nach Santa Cruz fahren.
Einige Tage später fliegt Inti - er ist verkleidet - mit einer regulären Linienmaschine der Llyod Aerea Boliviana nach Cochabamba. Nachdem sich diese Verkehrsverbindung als sicher erwiesen hat, folgen Pombo, Urbano, Benigno und Darío.
In Cochabamba, einer Stadt von immerhin 140.000 Einwohnern, bleiben die Guerilleros unerkannt und unbehelligt. Sie fühlen sich schließlich so sicher, dass Pombo sich an einem Samstagnachmittag aus dem Versteck in der Wohnung eines Genossen hervorwagt, zum Friseur geht und dann als harmloser Spaziergänger durch das Stadtzentrum schlendert. Von Cochabamba setzen sich die Flüchtlinge in das Bergwerksgebiet von Oruro ab, wo die Bevölkerung fast durchweg gegen die Regierung eingestellt ist. Hier werden auf Weisung aus Havanna und mit Unterstützung linker Gruppen in Chile Pläne gesponnen, um die Kubaner ins Ausland zu bringen. Pombo macht einmal mehr die Erfahrung, dass durch die Kommunistische Partei Boliviens ein tiefer Riss geht. Während die Linientreuen und die Mitglieder des Zentralkomitees keinen Finger rühren, um den Guerillas zu helfen, ist eine kleine Gruppe eifrig bemüht, einen Fluchtweg zur chilenischen Grenze zu erkunden und die Überlebenden vor der Armee und den Sicherheitsorganen abzuschirmen.
In Oruro trennt sich Inti (Guido Peredo Leigue) von der Gruppe. Noch in Cochabamba hat er die Aufforderung erhalten, mit seiner Familie in ein Land hinter dem Eisernen Vorhang ins Exil zu gehen. Er macht aber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, sondern sucht zunächst Zuflucht im Department Beni, das an Brasilien grenzt, wo sich persönliche Freunde und Politiker seiner annehmen. In der zweiten Maiwoche 1968 scheint er mit dem Pass eines Ingenieurs einer amerikanischen Salpeter-Gesellschaft vorübergehend nach Chile ausgereist zu sein. Kurz darauf aber versucht er, in Bolivien einen neuen Guerillakern zu organisieren.
Im September 1969 wird er in seinem Versteck in La Paz von Soldaten gestellt und erschossen. Von nun an führt sein jüngster Bruder Chato die bolivianische Guerilla weiter. Im Sommer 1970 kidnappen er und seine Kameraden zwei deutsche Baggerführer bei der Einnahme des Dorfes Teoponte.
Für die überlebenden Kubaner beginnt am 8. Februar 1969 unter Führung von Pombo endlich der Marsch zur chilenischen Grenze, die 99 Meilen westlich von Oruro liegt. Der kleine Trupp muss sich durch sehr unwegsames Gelände im Hochgebirge bewegen und ist schwierigsten Witterungsbedingungen ausgesetzt. Heftige Niederschläge machen die Straßen und Wege auf dem Hochplateau der Carangas-Provinz nahezu unpassierbar. Fahrzeuge, die auf der Straße von Oruro nach Sabaya unterwegs sind, bleiben in metertiefem Schlamm stecken. Zweimal ist das Fahrzeug der Guerillas zusammengebrochen. Einige Meilen von Sabaya geht es dann mit Autos oder Jeeps überhaupt nicht mehr weiter. Außer den Kubanern Pombo, Urbano und Benigno befinden sich noch zwei bolivianische Führer, die sich in der Gegend auskennen, bei der Gruppe. Es wird beschlossen, dass einer von ihnen, Estanislao Villca, nach Sabaya vorausgehen, die Behörden auf das Eintreffen der anderen Männer vorbereiten und Quartier machen soll. Er wird erzählen, dass es sich bei der Gruppe um chilenische Geschäftsleute handelt, denen viel daran gelegen ist, ungesehen und unbehelligt über die Grenze zu kommen.
Die Nacht verbringen die fünf Männer in dem einzigen Gasthof des Ortes. Am nächsten Morgen begeben sie sich zum Telegraphenbüro und halten den Eingang im Auge.
Kurz darauf erscheint der Bürgermeister mit einer Delegation prominenter Bürger. Sie verlangen die Ausweise der seltsamen Fremden zu sehen. Nur Villca kann gültige Papiere vorweisen. Der andere Bolivianer, Aguilar, erklärt für sich und seine Freunde: »Wir sind vor einiger Zeit in Chile verhaftet worden. Man hielt uns für Schmuggler. Die Behörden haben unsere Pässe einbehalten. Wir wollen jetzt hinüber, um sie wieder abzuholen.«
Diese Erklärung überzeugt den Bürgermeister nicht. Es entwickelt sich ein heftiger Wortwechsel. Andere Einwohner des Ortes wollen die Knappsäcke der Fremden durchsuchen.
Da zieht Urbano seine Pistole, tritt einen Schritt zurück und feuert einen Schuss in die Luft ab. Er ruft aus: »Ich werde jeden töten, der mir zu nahe kommt.«
Pombo gelingt es, den Kameraden zu beruhigen. Immerhin hat der Schuss den Bürgermeister und seine Begleiter etwas eingeschüchtert. Man begibt sich zu Verhandlungen in das Speisezimmer des Gasthauses. Pombo bietet an, eine bestimmte Geldsumme beim Bürgermeister zu deponieren, die sie, sobald sie nach 14 Tagen aus Chile angeblich zurück kommen, wieder abholen wollen.
Den Bürgern von Sabaya bleibt nicht viel anderes übrig, als auf diesen Vorschlag einzugehen. Der Zwischenfall, der sich vor dem Telegraphenamt ereignet hat, lässt sie ahnen, dass es sich bei den Fremden um die letzten Guerilleros handelt.
Bei einer Pause in den Verhandlungen gelingt es dem Bürgermeister, sich auf das Postamt zu schleichen und dort ein Telegramm nach Oruro mit folgendem Wortlaut aufzugeben: »Sechs Guerillas haben gegen 14 Uhr Sabaya erreicht, zwei von ihnen sind Bolivianer, vier der Männer sind Ausländer. Alle sind schwer bewaffnet. Sie geben an, aus dem Inneren des Landes zu kommen und befinden sich auf dem Weg nach Chile. Die fünfzig Bauern hier erklären sich außerstande, sie festzunehmen, da die Fremden automatische Waffen bei sich führen. Wir brauchen Waffen, um sie aufzuhalten. Noch sind sie hier am Ort. Sie tragen keine Personalpapiere bei sich.«
Sabaya liegt nur 30 Meilen von der chilenischen Grenze entfernt. Pombo und seine Männer haben also die Schwelle zur Freiheit erreicht und befinden sich fast in Sicherheit.
Das Telegramm löst eine fieberhafte Tätigkeit bei der Armee und den Regierungsbehörden aus. Eine Stunde nach Eintreffen der Nachricht starten drei bolivianische Flugzeuge, um die Gegend von Sabaya aus der Luft abzusuchen. Gleichzeitig werden Truppen des 1. Artillerie-Regiments auf Lastwagen dorthin in Marsch gesetzt. Die Gegend wird zum militärischen Sperrgebiet erklärt. In Cochabamba macht sich eine Fallschirmjägereinheit fertig zum Einsatz. Die Beobachtungsflugzeuge werfen Flugblätter ab, die dazu aufrufen, die Flüchtlinge festzuhalten. Für jeden Angehörigen der »Castro-Kommunistischen Söldnerbande«, der lebendig an die Armee übergeben wird, verspricht man den Andenbauern 10.000 bolivianische Pesos. Auf den Flugblättern sind Passfotos von Pombo, Benigno, Urbano, Inti und Darío abgebildet.
In Sabaya versucht Juan Gonzáles Garcia, der wohlhabendste Mann am Ort, die Verhandlungen mit den Guerilleros hinauszuzögern. Pombo wird ungeduldig. Gegen 14 Uhr zwingt er das Bürgerkomitee 400 Dollar anzunehmen und dafür eine Quittung auszustellen. Dann setzen er und seine Kameraden den Marsch durch Schlamm, Schnee und beißenden Wind fort. Niemand am Ort hat sich bereit gefunden, ihnen ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen. Sie sind vermummt, haben sich mit Ohrenklappen geschützt; umgehängt tragen sie schwere Knappsäcke. So laufen sie auf Todos Santos zu, jenen Ort, der der chilenischen Grenze am nächsten liegt. Einige neugierige Einwohner von Sabaya folgen ihnen noch ein Stück des Weges.
Bolivianische Truppen und Luftstreitkräfte überwachen den Grenzstreifen. Am Freitag, den 16. Februar, meldet das Oberkommando der bolivianischen Armee, dass es den Guerillas gelungen sei, chilenisches Gebiet zu erreichen. Das schlechte Wetter hat den Einsatz der Fallschirmjäger unmöglich gemacht.
Präsident Barrientos begibt sich persönlich nach Sabaya. Die chilenische Regierung versetzt ihre Streitkräfte in Alarmbereitschaft. Die peruanischen Grenzpolizisten und Einwanderungsbehörden erhalten die Weisung, mit den bolivianischen und chilenischen Behörden zusammen zuarbeiten.
Am 19. ziehen die fünf Männer durch das Gebiet von La Soga auf dem Weg nach Camina in Chile. Sie halten sich in unwegsamen Gegenden auf, weil sie fürchten, die chilenische Grenzpolizei könne sie nach Bolivien abschieben.
In den nächsten Tagen kommen aus verschiedenen Dörfern an der Grenze Meldungen, dass man die Guerillas dort gesehen haben will. Am 22. Februar 1968 halten Grenzwachen in Chile die fünf Männer bei Alto Camina, 360 Meilen von Oruro entfernt, an. Pombo und seine Kameraden tragen keine Waffen mehr. Sie sind völlig erschöpft und lassen sich ohne Widerstand festnehmen.
Trotz der Warnungen der Behörden werden sie von der chilenischen Bevölkerung im Norden des Landes außerordentlich herzlich empfangen. In den Dörfern und kleinen Städten dieser Gegend gibt es starke kommunistische Wählergruppen. Hingegen verweigert ihnen die Regierung in Santiago politisches Asyl und setzt ihnen die Frist, binnen 48 Stunden das Land zu verlassen. Führer der kommunistischen und der sozialistischen Parteien und Parlamentsabgeordnete der Linken organisieren ein Hilfsprogramm für die Flüchtlinge. Der damalige Präsident des chilenischen Senats, Salvador Allende, ein langjähriger Freund Ches, begleitet sie auf ihrer Reise durch Chile, um so sicher zu stellen, dass sie strikt nach den Bestimmungen des Internationalen Rechts behandelt werden.
Bolivien stellt keinen Auslieferungsantrag. Da man den Guerillas in Chile außer ihrer illegalen Einreise nichts Vorzuwerfen hat, ordnet die Regierung am 24. Februar 1968 an, die fünf Männer auf die Oster-Inseln im Stillen Ozean, 2.481 Meilen von der Küste entfernt, abzuschieben. (Dort hatte Che einmal einen Posten als Lepraarzt annehmen wollen.) In ihrer Begleitung befinden sich der stellvertretende Direktor der chilenischen Sicherheitsbehörden, mehrere Polizeibeamte und ihr Beschützer, Salvador Allende. Von den Oster-Inseln aus gestattet man ihnen nach Papeete, der Hauptstadt von Französisch Polynesien, weiter zu reisen, wo sie schon vom kubanischen Botschafter in Frankreich erwartet werden. Am 1. März 1968 trifft Pombo mit seinen Gefährten in Paris ein und tritt bald darauf über Prag die Weiterreise nach Kuba an. Seine Odyssee rund um die Erde hat ein Ende.
In der kubanischen Zeitschrift Granma erscheint ein Foto: Pombo, bartlos, ausgeruht, lächelnd, auf den Stufen vor der Tür seines Hauses. In der Hand ein Buch mit der Aufschrift: Ernesto Che Guevara, Gesammelte Werke, 1957 bis 1967.