Ein Tag aus dem Leben Tolstois

 

 

 

In der Familie ist mir traurig zumute, weil ich die Empfindungen meiner Angehörigen nicht teilen kann. Alles, was sie freut, die Schulprüfungen, der Erfolg in der Welt, die Einkäufe, alles das halte ich für ein Unglück und Übel für sie selbst, darf es aber nicht sagen. Ich darf es ja freilich und tue es auch, aber meine Worte werden von niemandem erfaßt.
Tagebuch

 

 

 

So bilde ich mir dank der Zeugnisse seiner Freunde und nach seinem eigenen Wort aus tausend einen einzigen Tag Leo Tolstois.

 

Frühmorgens: Der Schlaf fließt langsam ab von den Lidern des alten Mannes, er erwacht, sieht sich um – Morgenlicht färbt schon die Fenster, es wird Tag. Aus dunkler Verschattung taucht das Denken empor und als erstes Gefühl, das erstaunt beglückte: Ich lebe noch. Gestern abend, wie allnachts, hat er sich hingestreckt auf sein Bett, mit der demütigen Ergebung, sich nicht wieder zu erheben. Bei der flackernden Lampe hat er noch in sein Tagebuch vor das Datum des werdenden Tages die drei Buchstaben geschrieben: W. i. l., »Wenn ich lebe«, und wunderbar, noch einmal ist ihm die Gnade des Daseins geschenkt, er lebt, atmet noch, er ist gesund. Wie einen Gruß Gottes saugt er mit aufgetaner Lunge die Luft und mit grauen gierigen Augen das Licht: wunderbar, man lebt noch, man ist gesund. Dankbar steht er auf, der alte Mann, macht sich nackt, der Guß eiskalten Wassers rötet gut den wohlerhaltenen Leib. Mit turnerischer Lust beugt er, bis die Lunge stöhnt und die Gelenke knacken, den Oberkörper auf und nieder. Dann zieht er Hemd und Hausrock um die rotgescheuerte Haut, stößt die Fenster auf und fegt eigenhändig die Stube, wirft die krachenden Holzscheite ins flink aufprasselnde Feuer, sein eigener Diener, sein eigener Knecht.

 

Dann hinab in die Frühstücksstube. Sophia Andrejewna, die Töchter, der Sekretär, ein paar Freunde sind schon zur Stelle, im Samowar brodelt der Tee. Auf einem hohen Tablett bringt der Sekretär ihm den bunten Wust von Briefen, Zeitschriften, Büchern entgegen, bespickt mit Frankaturen aus vier Erdteilen. Mißmutig blickt Tolstoi auf den papiernen Turm. »Weihrauch und Belästigung«, denkt er im stillen; »Verwirrung jedenfalls! Man sollte mehr allein sein mit sich selbst und mit Gott, nicht immer Nabel des Weltalls spielen, sich all das fernhalten, was stört, verwirrt, was eitel, hoffärtig, ruhmsüchtig und unwahr macht. Besser, man schaufelte all das in den Ofen, um sich nicht zu verzetteln, nicht sich die Seele mit Hochmut zu verstören.« Aber die Neugier ist mächtiger, er durchblättert doch die gehäufte, wirre Vielfältigkeit von Bitten, Anklagen, Betteleien, geschäftlichen Anträgen, Besuchsankündigungen und loser Schwätzerei mit raschen knisternden Fingern. Ein Brahmane schreibt aus Indien, er hätte Buddha falsch verstanden, ein Verbrecher aus dem Zuchthaus erzählt seine Lebensgeschichte und will Rat, junge Menschen wenden sich an ihn in ihrer Verwirrung, Bettler in ihrer Verzweiflung, alle drängen sie demütig zu ihm, wie sie sagen, als dem einzigen, der ihnen helfen könnte, an das Gewissen der Welt. Die Runzeln auf der Stirn schneiden sich tiefer: »Wem kann ich helfen«, denkt er, »ich, der mir selbst nicht zu helfen weiß; von einem Tage zum andern gehe ich irre und suche mir neuen Sinn, um dieses unergründliche Leben zu ertragen, und rede großspurig von der Wahrheit, um mich zu täuschen. Was Wunder, daß sie da alle kommen und schreien: Leo Nikolajewitsch, lehre du uns das Leben! Lüge ist, was ich tue, Großtuerei und Gaukelspiel, in Wahrheit bin ich längst ausgeschöpft, weil ich mich verschwende, weil ich mich fortgieße an alle die tausend und aber tausend Menschen, statt mich in mir selber zu sammeln, weil ich rede und rede und rede, statt mich auszuschweigen und mein innerstes wahrstes Wort in der Stille zu hören. Aber ich darf die Menschen in ihrem Vertrauen nicht enttäuschen, ich muß ihnen antworten.« Einen Brief hält er länger und liest ihn zweimal, dreimal: den eines Studenten, der ihn ingrimmig schmäht, daß er Wasser predige und Wein trinke. Es sei Zeit, daß er endlich sein Haus verlasse, sein Eigentum an die Bauern gebe und Pilgrim werde auf den Straßen Gottes. »Er hat recht«, denkt Tolstoi, »er spricht mein Gewissen. Aber, wie ihm erklären, was ich mir selber nicht erklären kann, wie mich verteidigen, da er mich anklagt in meinem eigenen Namen?« Diesen einen Brief nimmt er mit sich, um ihn gleich zu beantworten, nun er aufsteht, in sein Arbeitszimmer zu gehen. An der Tür kommt der Sekretär noch nach und erinnert, zu Mittag habe sich der Korrespondent der »Times« angesagt für ein Interview: ob er ihn empfangen wolle. Tolstois Gesicht verfinstert sich. »Immer diese Zudringlichkeit! Was wollen sie denn von mir: nur in mein Leben gaffen. Was ich sage, steht in meinen Schriften; jeder, der lesen kann, vermag sie zu verstehen.« Aber irgendeine eitle Schwäche gibt doch rasch nach. »Meinetwegen«, sagt er, »aber nur für eine halbe Stunde.« Und kaum, daß er die Schwelle des Arbeitszimmers überschreitet, murrt schon das Gewissen: »Warum habe ich schon wieder nachgegeben; immer noch, mit grauen Haaren, eine Spanne vor dem Tode handle ich noch eitel und liefere mich aus an Menschengeschwätz, immer wieder werde ich schwach, wenn sie gegen mich andringen. Wann werde ich endlich lernen, mich zu verbergen, mich zu verschweigen! Hilf mir, Gott, hilf mir doch!«

 

Endlich allein mit sich im Arbeitszimmer. An den nackten Wänden hängen Sense, Rechen und Beil, auf dem gebohnten Grund steht fest, mehr Klotz als Ruhestatt, ein schwerer Sessel vor dem plumpen Tisch; eine Zelle, halb mönchisch, halb bäurisch. Vom letzten Tage liegt noch der Aufsatz halbfertig auf dem Tisch, »Gedanken über das Leben«. Er überliest seine eigenen Worte, streicht, ändert, setzt wieder an. Immer wieder stockt die rasche, übergroß kindliche Schrift. »Ich bin zu leichtfertig, ich bin zu ungeduldig. Wie kann ich über Gott schreiben, wenn ich mich über den Begriff noch nicht klar fühle, wenn ich selbst noch nicht fest stehe, und meine Gedanken schwanken von einem Tage zum andern? Wie soll ich deutlich sein und jedem verständlich, wenn ich über Gott spreche, den unaussprechlichen, und über das Leben, das ewig unverständliche? Was ich da unternehme, geht über meine Kraft. Mein Gott, wie sicher war ich früher, da ich dichterische Werke schrieb, den Menschen das Leben darbot, wie Er es vor uns hingestellt hat und nicht so, wie ich, ein alter, verwirrter, suchender Mann, mir wünsche, daß es wahrhaft sei. Ich bin kein Heiliger, nein, ich bin es nicht und sollte nicht die Menschen lehren; ich bin nur einer, dem Gott hellere Augen und bessere Sinne als Tausenden zugetan, damit er seine Welt rühme. Und vielleicht war ich wahrer und besser damals, als ich nur der Kunst diente, die ich jetzt so unsinnig verfluche.« Er hält inne und blickt sich unwillkürlich um, als könnte ihn jemand belauschen, wie er nun aus einer versteckten Lade die Novellen holt, an denen er jetzt heimlich arbeitet (denn öffentlich hat er ja die Kunst als eine »Überflüssigkeit«, eine »Sünde« verhöhnt und erniedrigt). Da sind sie, die heimlich geschriebenen, vor den Menschen versteckten Werke, »Hadschi Murat«, »Der gefälschte Coupon«; er blättert sie an und liest ein paar Seiten. Das Auge wird wieder warm. »Ja, das ist gut geschrieben«, fühlt er, »das ist gut! Daß ich seine Welt schildere, nur dazu hat mich Gott gerufen, nicht daß ich seine Gedanken verrate. Wie schön ist die Kunst, wie rein das Schaffen und wie qualvoll das Denken! Wie war ich glücklich damals, als ich jene Blätter schrieb, mir selber rannen die Tränen nieder, als ich den Frühlingsmorgen im ›Eheglück‹ schilderte, und noch nachts kam Sophia Andrejewna herein, mit brennenden Augen, und umarmte mich: beim Abschreiben mußte sie innehalten und mir danken, und wir waren glücklich die ganze Nacht, das ganze Leben. Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück, ich darf die Menschen nicht mehr enttäuschen, ich muß weiter auf dem begonnenen Weg, weil sie von mir Hilfe erhoffen in ihrer Seelennot. Ich darf nicht innehalten, meine Tage sind gezählt.« Er seufzt auf und schiebt die geliebten Blätter wieder in das Versteck der Lade zurück; wie ein Lohnschreiber, stumm, ärgerlich schreibt er weiter an dem theoretischen Traktat, die Stirn zerfurcht und das Kinn so tief gebückt, daß der weiße Bart manchmal raschelnd über das Papier mitstreift.

 

Endlich Mittag! Genug getan für heute! Weg die Feder: er springt auf und wirbelt mit seinen flinken, kleinen Schritten die Treppe hinab. Dort hält schon der Reitknecht Delire, die Lieblingsstute, bereit. Ein Ruck in den Sattel, und schon strafft sich die beim Schreiben gebückte Gestalt, er scheint größer, stärker, jünger, lebendiger, als er, aufrecht sitzend, leicht und locker wie ein Kosak auf dem schmalhufigen Pferde gegen den Wald sprengt. Der weiße Bart wellt und weht im Sausen des Windes, weit und wollüstig öffnet er die Lippen, um den Brodem der Felder stärker in sich einzusaugen, Leben, das lebendige, im alternden Leib zu fühlen, und die Wollust des gerüttelten Blutes rauscht ihm warm und süß durch die Adern bis zu den Fingerspitzen und in die dröhnende Muschel des Ohres. Wie er jetzt in den jungen Wald einreitet, hält er plötzlich an, um zu sehen, noch einmal zu sehen, wie an der lenzlichen Sonne die klebrigen Knospen aufgebrochen schimmern und ein dünnes, zittriges Grün, zart wie Stickerei, in den Himmel halten. Mit scharfem Schenkeldruck drängt er das Pferd zu den Birken, sein Falkenauge beobachtet erregt, wie eine hinter der andern, vor und zurück, ein mikroskopisches Paternosterwerk, die Ameisen die Borke entlangziehen, die einen, beladen schon, mit dickem Bauch, die andern noch das Baummehl fassend mit ihren winzigen Filigranzangen. Minutenlang steht er reglos begeistert, der greise Patriarch, und blickt auf das Winzige im Ungeheuren, Tränen strömen ihm warm in den Bart. Wie wunderbar das ist, seit mehr als siebzig Jahren immer wieder neu wunderbar, dieser Gottesspiegel der Natur, still und sprechend zugleich, ewig von andern Bildern erfüllt, allzeit belebt und weiser in seiner Stille als alle Gedanken und Fragen. Unter ihm schnaubt ungeduldig das Pferd. Tolstoi erwacht aus seiner sinnenden Versunkenheit, drückt der Stute kräftig die Schenkel an die Flanken, um nun im Sausen des Windes nicht bloß das Kleine und Zärtliche, sondern auch Wildheit und Leidenschaft der Sinne zu fühlen. Und er reitet und reitet und reitet, glücklich und gedankenlos, reitet zwanzig Werst, bis schon glänzender Schweiß die Flanke der Stute weiß überschäumt. Dann lenkt er sie heimwärts in ruhigem Trab. Seine Augen sind ganz licht, seine Seele leicht, er ist glücklich und froh wie als Knabe in denselben Wäldern, auf demselben seit siebzig Jahren vertrauten Weg, der alte, uralte Mann.

 

Aber in der Nähe des Dorfes verfinstert sich plötzlich das übersonnte Gesicht. Sein fachmännischer Blick hat die Felder geprüft: hier liegt inmitten seines Gutsbereiches eins schlecht gehalten, verwahrlost, der Zaun abgefault und zur Hälfte wahrscheinlich verheizt, der Boden nicht gepflügt. Zornig reitet er heran, Auskunft zu fordern. Aus der Türe tritt barfüßig, mit versträhntem Haar und geducktem Blick eine schmutzige Frau; zwei, drei kleine, halbnackte Kinder drängen ängstlich nach an ihrem zerschlissenen Rock, und von rückwärts aus der niederen, rauchigen Hütte quäkt noch ein viertes. Gerunzelter Stirn forscht er nach dem Grund der Verwahrlosung. Die Frau flennt zusammenhanglose Worte, seit sechs Wochen sei ihr Mann im Gefängnis, verhaftet wegen Holzdiebstahls. Wie sollte sie sorgen ohne ihn, den Starken und Fleißigen, und er habe es doch nur aus Hunger getan, der Herr wisse ja selbst: die schlechte Ernte, die hohen Steuern, die Pacht. Die Kinder, ihre Mutter flennen sehend, beginnen mitzuheulen, hastig greift Tolstoi in die Tasche und reicht, um jede weitere Erörterung abzuschneiden, ihr ein Geldstück hin. Dann reitet er rasch, ein Flüchtling, davon. Sein Antlitz ist düster, seine Freude verflogen. »Das also geschieht auf meinem – nein, auf dem Grunde, den ich meiner Frau und meinen Kindern geschenkt habe. Aber warum verstecke ich immer feig hinter meine Frau Mitwissen und Schuld? Ein Lügenspiel vor der Welt, nichts sonst war jene Vermögensüberweisung; denn genau, wie ich selbst von Bauernfron satt geworden bin, saugen jetzt die Meinen aus dieser Armut ihr Geld. Ich weiß doch: von dem Neubau des Hauses, in dem ich sitze, ist jeder Ziegel aus dieser Leibeigenen Schweiß gebacken, ihr steingewordenes Fleisch, ihre Arbeit. Wie durfte ich meiner Frau und meinen Kindern schenken, was mir nicht gehörte, die Erde jener Bauern, die sie pflügen und bestellen. Schämen muß ich mich vor Gott, in dessen Namen ich, Leo Tolstoi, immer Gerechtigkeit den Menschen predige, ich, dem täglich fremdes Elend in die Fenster sieht.« Ganz zornig ist sein Antlitz geworden und verdunkelt sich noch mehr, wie er jetzt an den steinernen Säulen vorbei in den »Herrensitz« einreitet. Der livrierte Lakai und der Reitknecht stürzen aus der Tür, um ihm vom Pferd zu helfen. »Meine Sklaven«, höhnt ingrimmig von innen die selbstanklägerische Scham.

 

Im weiträumigen Speisezimmer erwartet ihn schon die lange Tafel, blühweiß gedeckt und mit Silbergeschirr: die Gräfin, die Töchter, die Söhne, der Sekretär, der Hausarzt, die Französin, die Engländerin, ein paar Nachbarn, ein revolutionärer Student, als Hauslehrer angestellt, und dann jener englische Reporter: der breite Menschenbrei brodelt heiter durcheinander. Jetzt freilich, da er eintritt, bricht sofort ehrfürchtig das Lärmen ab. Ernst, adelshöflich begrüßt Tolstoi die Gäste und setzt sich an den Tisch, ohne ein Wort zu sprechen. Wie der livrierte Diener ihm jetzt seine erlesenen vegetarischen Gerichte hinstellt – Spargel, fremdländische Ware, auf das zärtlichste zubereitet –, muß er denken an die zerschlissene Frau, die Bäuerin, der er zehn Kopeken geschenkt. Finster sitzt er und sieht in sich hinein. »Wenn sie doch nur verstehen wollten, daß ich nicht so leben kann und will, umringt von Lakaien, vier Gänge zu Mittag, auf Silber mit allen Überflüssigkeiten, indes die anderen nicht das Nötigste haben; sie wissen doch alle, daß ich nur dies eine Opfer von ihnen begehre, nur dies eine, daß sie den Luxus lassen, diese schändliche Sünde an der von Gott gleichgewollten Menschheit. Aber sie, die meine Frau ist und meine Gedanken teilen sollte wie mein Bett und mein Leben, sie steht als Feind gegen meine Gedanken. Ein Mühlstein ist sie an meinem Hals, eine Gewissenslast, die mich hinabzieht in ein falsches, verlogenes Leben; längst sollte ich die Stricke zerschneiden, mit denen sie mich binden. Was habe ich noch mit ihnen zu tun? Sie stören mich in meinem Leben, und ich störe sie in dem ihren. Überflüssig bin ich hier, eine Last für mich und sie alle.«

 

Unwillkürlich feindselig hebt er den Blick aus seinem Zorn und sieht sie an, Sophia Andrejewna, seine Frau. Mein Gott, wie ist sie alt geworden und grau, auch ihr queren Falten die Stirn, auch ihr zerreißt Gram den verfallenen Mund. Und eine weiche Welle überflutet plötzlich des alten Mannes Herz. »Mein Gott«, denkt er, »wie sieht sie düster, wie sieht sie traurig aus, sie, die ich als junges, lachendes, unschuldiges Mädchen in mein Leben nahm. Ein Menschenalter, vierzig, fünfundvierzig Jahre leben wir nun zusammen, als ein Mädchen habe ich sie genommen, ich schon halb verbrauchter Mann, und sie hat mir dreizehn Kinder geboren. Meine Werke hat sie schaffen helfen, meine Kinder gesäugt, und ich, was habe ich aus ihr gemacht? Eine verzweifelte, fast wahnsinnige, überreizte Frau, der man die Schlafmittel versperren muß, damit sie nicht ihr Leben wegwirft, so unglücklich wurde sie durch mich. Und da, meine Söhne, ich weiß, sie mögen mich nicht, und da, meine Töchter, denen zehre ich die Jugend weg, und da, die Sekretäre, die jedes Wort aufschreiben und jedes meiner Worte aufpicken wie Spatzen den Pferdemist; schon haben sie den Balsam und Weihrauch im Kasten bereit, um meine Mumie für das Museum der Menschheit zu erhalten. Und dort dieser englische Laffe wartet schon mit dem Notizbuch, wie ich ihm ›das Leben‹ erklären werde – eine Sünde gegen Gott und gegen die Wahrheit ist dieser Tisch, dieses Haus, gräßlich geheimnislos und ohne Reinheit, und ich Lügner sitze behaglich in dieser Hölle und fühle mich warm und wohl, statt aufzuspringen und meinen Weg zu gehen. Es wäre besser für mich, es wäre besser für sie, wenn ich schon tot wäre: ich lebe zu lange und nicht wahr genug: längst ist meine Zeit schon gekommen.«

 

Wieder bietet ihm der Lakai einen Gang, süße Früchte, mit Milchschaum umrundet, in Eis gekühlt. Mit zorniger Handbewegung schiebt er die Silberschüssel zur Seite. »Ist das Essen nicht gut?« fragt ängstlich Sophia Andrejewna, »ist es zu schwer für dich?«

 

Aber Tolstoi antwortet nur bitter: »Das ist ja für mich das Schwere, daß es so gut ist.«

 

Die Söhne blicken verdrossen, die Frau befremdet, der Reporter angestrengt: man sieht, er will das Aphorisma behalten.

 

Endlich ist das Essen zu Ende, sie stehen auf und gehen in den Empfangsraum. Tolstoi debattiert mit dem jungen Revolutionär, der trotz aller Ehrfurcht ihm kühn und lebendig widerspricht. Tolstois Auge blitzt auf, er spricht wild, stoßhaft, beinahe schreiend; noch packt ihn jede Diskussion, wie früher die Jagd und das Tennisspiel, mit unbändiger Leidenschaft. Mit einem Mal ertappt er sich in seiner Wildheit, zwingt sich zur Demut, dämpft gewaltsam die Stimme: »Aber vielleicht irre ich mich, Gott hat seine Gedanken unter die Menschen verstreut, und niemand weiß, ob es die seinen oder die eigenen sind, die er ausspricht.« Und um abzulenken, muntert er die anderen auf: »Gehen wir ein wenig in den Park.«

 

Aber zuvor noch ein kleiner Halt. Unter der uralten Ulme, gegenüber der Schloßtreppe, an dem »Baum der Armen«, warten die Besucher aus dem Volk, die Bettler und Sektierer, die »Finsteren« auf Tolstoi. Zwanzig Meilen sind sie hergepilgert, Rat zu holen oder etwas Geld. Sonnverbrannt, müde, mit verstaubten Schuhen stehen sie da. Wie der »Herr«, der »Barin«, nun naht, beugen sich einige russisch bis zur Erde. Mit raschem, wehendem Schritt tritt Tolstoi auf sie zu. »Habt ihr Fragen?« »Ich wollte fragen, Erlaucht ...« »Ich bin nicht erlaucht, niemand ist erlaucht als Gott«, fährt Tolstoi ihn an. Das Bäuerlein dreht erschrocken die Mütze, endlich haspelt es umständliche Fragen heraus, ob wirklich die Erde nun den Bauern gehören sollte, und wann er sein Stück Feld für sich bekommen werde? Tolstoi antwortet ungeduldig, alles Unklare erbittert ihn. Dann kommt ein Förster an die Reihe mit allerhand Gottesfragen. Ob er lesen könne, fragt ihn Tolstoi, und als er bejaht, läßt er die Schrift »Was sollen wir tun?« holen und verabschiedet ihn. Dann drängen Bettler heran, einer nach dem andern. Rasch fertigt Tolstoi sie mit einem Fünfkopekenstück ab, ungeduldig schon. Wie er sich umwendet, bemerkt er, daß der Journalist ihn während der Verteilung photographiert hat. Wieder verdüstert sich sein Gesicht: »So bilden sie mich ab, Tolstoi, den Gütigen, bei den Bauern, den Almosenspender, den edlen, hilfreichen Mann. Aber der mir ins Herz sehen könnte, der wüßte, ich war nie gut, ich versuchte bloß, das Gutsein zu lernen. Nichts als mein Ich hat mich wahrhaft beschäftigt. Ich war nie hilfreich, in meinem ganzen Leben habe ich nicht die Hälfte dessen an die Armen verschenkt, was ich früher in Moskau in einer einzigen Nacht bei den Karten verspielte. Nie ist es mir eingefallen, Dostojewski, von dem ich wußte, daß er hungerte, die zweihundert Rubel zu schicken, die ihn erlöst hätten für einen Monat oder vielleicht für immer. Und dennoch dulde ich, daß man mich feiert und rühmt als den edelsten Menschen, und weiß innen doch genau, daß ich erst im Anfang des Anfanges stehe.«

 

Es drängt ihn schon zu dem Spaziergang im Park, und so ungeduldig läuft das flinke alte Männchen mit dem flatternden Bart, daß die anderen kaum folgen können. Nein, jetzt nicht viel reden mehr: nur die Muskeln fühlen, die Geschmeidigkeit der Sehnen, ein wenig hinblicken auf das Tennisspiel der Töchter, die Unschuld des flinken körperlichen Spiels. Interessiert folgt er jeder Bewegung und lacht stolz bei jedem gelungenen Schlag, seine düstere Laune lockert sich auf, er plaudert und lacht, mit helleren beruhigteren Sinnen wandert er durch das weicher duftende Moos dahin. Aber dann wieder zurück in das Arbeitszimmer, ein wenig lesen, ein wenig ruhen: manchmal fühlt er sich schon recht müde, und die Beine werden ihm schwer. Wie er so allein liegt auf dem wachsledernen Sofa, die Augen geschlossen, und sich matt spürt und alt, denkt er im stillen: »Es ist doch gut so: wo ist die Zeit, die schreckliche, da ich mich noch vor dem Tode fürchtete wie vor einem Gespenst, mich vor ihm verstecken und verleugnen wollte. Jetzt habe ich keine Angst mehr, ja, ich fühle mich wohl, ihm so nahe zu sein.« Er lehnt sich zurück, die Gedanken schwärmen in der Stille. Manchmal zeichnet er mit dem Bleistift rasch ein Wort auf, dann bückt er lange und ernst vor sich hin. Und es ist schön, das Antlitz des alten Mannes, umwölkt von Sinnen und Traum, allein mit sich und mit seinen Gedanken.

 

Abends dann noch einmal hinab in den gesprächigen Kreis: ja, die Arbeit ist getan. Freund Goldenweiser, der Pianist, fragt, ob er etwas vorspielen dürfe. »Gern, gern!« Tolstoi lehnt am Klavier, die Hände über die Augen geschattet, damit niemand sehe, wie die Magie des verbundenen Klangs ihn ergreife. Er lauscht, die Lider geschlossen und tiefatmender Brust. Wunderbar, die Musik, die so laut verleugnete, wunderbar strömt sie ihm zu, alles Weiche auflockernd, sie macht nach all den schweren Gedanken die Seele wieder lind und gut. »Wie durfte ich sie schmähen, die Kunst«, denkt er still in sich hinein. »Wo ist Tröstung, wenn nicht bei ihr? Alles Denken verdüstert, alles Wissen verstört, und Gottes Gegenwart, wo anders fühlen wir sie deutlicher denn in des Künstlers Bild und Wort? Brüder seid ihr mir, Beethoven und Chopin, ich fühle eure Blicke jetzt ganz in mir ruhn, und der Menschheit Herz schlägt in mir auf: Verzeiht mir, ihr Brüder, daß ich euch schmähte.« Das Spiel endet mit einem hallenden Akkord, alle applaudieren, und Tolstoi nach einem kleinen Zögern gleichfalls. Alle Unrast in ihm ist genesen. Mit einem sanften Lachen tritt er in den versammelten Kreis und freut sich guten Gesprächs; endlich weht etwas wie Heiterkeit und Stille um ihn, der vielfältige Tag scheint vollkommen geendet.

 

Aber noch einmal, ehe er zu Bett geht, schreitet er hinein in sein Arbeitszimmer. Ehe der Tag endet, wird Tolstoi mit sich noch letztes Gericht halten, wird, wie immer, Rechenschaft von sich fordern für jede Stunde sowie für sein ganzes Leben. Aufgeschlagen liegt das Tagebuch, das Auge des Gewissens blickt ihn aus den leeren Blättern an. Tolstoi besinnt sich jeder Stunde des Tages und hält Gericht. Er gedenkt der Bauern, des selbstverschuldeten Elends, an dem er vorbeigeritten, ohne anders zu helfen als mit kleiner, erbärmlicher Münze. Er erinnert sich, ungeduldig gewesen zu sein mit den Bettlern, und der bösen Gedanken gegen seine Frau. All diese Schuld zeichnet er auf in sein Buch, das Buch der Anklage, und mit grimmigem Stift vermerkt er das Urteil »wieder träge gewesen, seelenlahm. Nicht genug Gutes getan! Noch immer habe ich nicht gelernt, das Schwere zu tun, die Menschen um mich zu lieben statt der Menschheit: hilf mir, Gott, hilf mir!«

 

Dann noch das Datum des nächsten Tages und das geheimnisvolle »W. i. l.«, Wenn ich lebe. Nun ist das Werk vollbracht, wieder ein Tag zu Ende gelebt. Gedrückter Schulter geht er hinüber ins Nachbarzimmer, der alte Mann, legt die Bluse, die klotzigen Stiefel ab und wirft den Leib nieder, den schweren Leib ins Bett und denkt, wie immer, zuerst an den Tod. Noch flügeln Gedanken, die farbigen Falter, unruhig über ihn hin, aber mählich verlieren sie sich wie Schmetterlinge im Walde immer tieferen Dunkels. Schon mattet der Schlummer ganz nah nieder ...

 

Da plötzlich – er schreckt auf –, war das nicht ein Schritt? Ja, er hört einen Schritt nebenan, leise und schleicherisch, einen Schritt im Arbeitszimmer, und schon springt er auf, lautlos, halbnackt, und preßt die brennenden Augen an das Schlüsselloch. Ja, es ist Licht im Nachbarzimmer, jemand ist mit einer Lampe hineingetreten und wühlt in seinem Schreibtisch, blättert im geheimsten Tagebuch, um die Worte zu lesen, die Zwiesprache seines Gewissens: Sophia Andrejwna, seine Frau. Auch in seinem letzten Geheimnis belauert sie ihn, nicht mit Gott selbst lassen sie ihn allein; überall, überall in seinem Hause, in seinem Leben, in seiner Seele ist er umstellt von der Gier und der Neugier der Menschen. Seine Hände zittern vor Wut, schon greift er an die Klinke, die Türe plötzlich aufzureißen und loszufahren auf die eigene Frau, die ihn verraten. Aber im letzten Augenblick bezähmt er seinen Zorn: »Vielleicht ist auch dies mir als Prüfung auferlegt.« So schleppt er sich wieder zurück auf das Lager, stumm, ohne Atem, wie in einen ausgeronnenen Brunnen in sich selber hinablauschend. Und so liegt er noch lange wach, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der größte und mächtigste Mann seiner Zeit, verraten in seinem eigenen Hause, zerquält von Zweifeln und frierend vor Einsamkeit.

 

 

 

Entscheidung und Verklärung

 

 

 

Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man hier ein unsterbliches Leben leben.
Tagebuch, 6. März 1896

 

 

 

1900. Als Zweiundsiebzigjähriger hat Leo Tolstoi die Schwelle des Jahrhunderts überschritten. Aufrecht im Geiste und doch schon legendarische Gestalt geht der heroische Greis seiner Vollendung entgegen. Milder als vordem leuchtet das Antlitz des alten Weltwanderers aus dem verschneiten Bart und wie durchscheinendes Pergament, überschrieben mit zahllosen Runzeln und Runen, die mählich gilbende Haut. Ein ergeben geduldiges Lächeln nistet jetzt gern um die beschwichtigte Lippe, seltener bäumt sich die buschige Braue im Zorn, nachsichtiger und abgeklärter mutet er an, der alte zornige Adam. »Wie gütig er geworden ist!« staunt der eigene Bruder, der ihn ein Leben lang immer nur als Aufbrausenden und Unbezähmbaren gekannt, und wirklich, die starke Leidenschaft beginnt abzuklingen, er hat sich müde gerungen und müde gequält: ein neuer Glanz von Güte übersonnt sein Antlitz im letzten Abendlicht. Ergreifend, nun das einstmals so düstere zu betrachten: es ist, als hätte die Natur achtzig Jahre lang nur deshalb so gewaltsam darin gewirkt, damit endlich in dieser letzten Form seine eigenste Schönheit offenbar werde, die große, wissende und verzeihende Hoheit des Greises. Und in dieser verklärten Gestalt nimmt die Menschheit Tolstois äußere Erscheinung in ihr Gedächtnis. So werden Geschlechter und Geschlechter noch ehrfürchtig sein ernstes und ruhendes Antlitz in der Seele bewahren.

 

Erst das Alter, das sonst das Bildnis heroischer Menschen mindert und zerstückt, gibt seinem verdüsterten Gesicht vollkommene Majestät. Härte ist Hoheit geworden, Leidenschaft zu Güte und allbrüderlichem Begreifen. Und wirklich, nur Frieden will der alte Kämpfer, »Frieden mit Gott und den Menschen«, Frieden auch mit seinem bittersten Feind, mit dem Tod. Vorbei ist, gnädig vergangen die grause, die panische, die tierische Angst vor dem Sterben, beruhigten Blicks, in guter Bereitschaft sieht der uralte Mann der nahen Vergängnis entgegen. »Ich denke daran, daß es möglich sei, daß ich morgen nicht mehr leben werde, jeden Tag suche ich mich diesem Gedanken vertrauter zu machen und gewöhne mich immer mehr an ihn.« Und wunderbar: seit dieser Angstkrampf von dem lange Verstörten gewichen ist, sammelt sich wieder der bildnerische Sinn. Wie Goethe, der Greis, gerade im letzten Abendlicht noch heimkehrt von wissenschaftlicher Zerstreuung zu seinem »Hauptgeschäft«, so wendet Tolstoi, der Prediger, der Moralist im unwahrscheinlichen Jahrzehnt zwischen dem siebzigsten und achtzigsten Jahre noch einmal sich der Kunst, der lange verleugneten, zu: noch einmal ersteht im neuen Jahrhundert der gewaltigste Dichter des vergangenen Jahrhunderts und ebenso herrlich wie einst. Den ungeheuren Bogen seines Daseins kühn überwölbend, besinnt der Greis ein Erlebnis seiner Kosakenjahre und entformt ihm das iliadische Gedicht »Hadschi Murat«, klirrend von Waffen und Krieg – eine Heldenlegende, einfach und groß erzählt wie in seinen vollkommensten Tagen. Die Tragödie vom »Lebenden Leichnam«, die meisterlichen Erzählungen »Nach dem Ball«, »Kornej Wasiljew« und viele kleine Legenden bezeugen glorreich die Rückkehr und Reinigung des Künstlers vom Unmut des Moralisten; nirgends ahnte man in diesen Spätwerken eines Greises zerfaltete, müdegeschriebene Hand: unbestechlich und unbeirrbar wägt der graue Blick des Uralten das ewig erschütternde Schicksal der Menschen. Der Richter des Daseins ist wieder Dichter geworden, und ehrfürchtig beugt sich in seinen wunderbaren Altersbekenntnissen der einst vermessene Lebenslehrer vor der Unerforschlichkeit des Göttlichen: die ungeduldige Neugier nach den letzten Lebensfragen mildert sich zu einem demütigen Lauschen in die immer näher rauschende Welle der Unendlichkeit. Er ist wahrhaft weise geworden, Leo Tolstoi, in den letzten Jahren seines Daseins, aber noch nicht müde; unablässig, ein urweltlicher Bauer, durchwerkt er, bis der Stift den erkaltenden Händen entsinkt, im Tagebuch den unerschöpflichen Acker der Gedanken.

 

Denn noch darf der Unermüdliche nicht ruhen, dem als Sinn vom Schicksal auferlegt ist, bis zum äußersten Augenblick um die Wahrheit zu ringen. Eine letzte, die heiligste Arbeit wartet noch der Vollendung, und sie gilt nicht mehr dem Leben, sondern seinem eigenen nahenden Tod; ihn würdig und vorbildlich zu gestalten, wird dieses gewaltigen Bildners letzte Lebensmühe sein, an sie wendet er großartig die gesammelte Kraft. An keinem seiner Kunstwerke hat Tolstoi so lange und leidenschaftlich geschaffen, wie an seinem eigenen Tod: als ein echter und ungenügsamer Künstler, will er gerade diese letzte und allermenschlichste seiner Taten rein und makellos der Menschheit übermitteln.

 

Dieses Ringen um einen reinen, einen lügenlosen, einen vollkommenen Tod wird die Entscheidungsschlacht im siebzigjährigen Kriege des Friedlosen um die Wahrhaftigkeit und gleichzeitig die opfervollste – denn sie geht gegen sein eigenes Blut. Eine letzte Tat ist noch zu vollbringen, der er sein Leben lang mit einer uns jetzt erst erklärbaren Scheu immer wieder ausgewichen: die endgültige und unwidersprechliche Loslösung von seinem Eigentum. Immer und immer, darin seinem Kutusow ähnlich, der die entscheidende Schlacht gern vermeiden will und in stetem strategischen Rückzug den furchtbaren Gegner zu besiegen hofft, war Tolstoi vor der endgültigen Verfügung über sein Vermögen zurückgeschreckt und vor seinem drängenden Gewissen in die »Weisheit des Nichthandelns« geflüchtet. Jeder Versuch, auf das Recht an seinen Werken auch über sein Leben hinaus zu verzichten, hatte den erbittertsten Widerstand der Familie gefunden, den mit einer brutalen Handlung gewaltsam zu überwinden er zu schwach und in Wahrheit zu menschlich war; so hatte er jahrelang sich beschränkt, persönlich kein Geld zu berühren und von seinen Einnahmen keinen Gebrauch zu machen. Aber – so klagt er sich selbst an – »diesem Ignorieren lag der Umstand zugrunde, daß ich prinzipiell alles Eigentum verneinte und aus falschem Schamgefühl vor den Menschen mich um mein Eigentum nicht kümmerte, damit man mich nicht der Inkonsequenz beschuldige«. Immer wieder, nach den verschiedensten fruchtlosen Versuchen, deren jeder eine Tragödie im engsten Kreise der Seinen zeitigt, schiebt er die klare und bindende Entscheidung über sein Vermächtnis von sich selbst weg und in einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus. Aber 1908, im achtzigsten Jahre, da die Familie das Jubiläum zu einer mit reichlichem Kapital unternommenen Gesamtausgabe benutzt, ist es dem öffentlichen Feinde alles Eigentums nicht mehr möglich, tatenlos zu bleiben; im achtzigsten Jahre muß sich Leo Tolstoi mit offenem Visier dem Entscheidungskampf stellen. Und so wird Jasnaja Poljana, der Pilgerort Rußlands, hinter verschlossenen Türen der Schauplatz eines Kampfes zwischen Tolstoi und den Seinen, der um so grimmiger und gräßlicher ist, als er um ein Kleinliches geht, um Geld, und von dessen Grauenhaftigkeit selbst die grellen Schreie des Tagebuches nur unzulängliche Ahnung geben. »Wie schwer ist es doch, sich von diesem schmutzigen, sündigen Eigentum loszumachen«, stöhnt er auf in diesen Tagen (25. Juli 1908), denn an diesem Eigentum zerrt mit verkrallten Nägeln die halbe Familie. Szenen aus Kolportageromanen ärgster Art, erbrochene Läden, durchwühlte Schränke, belauschte Gespräche, Versuche der Entmündigung, wechseln mit tragischesten Augenblicken, mit Selbstmordversuchen der Frau und Fluchtdrohungen Tolstois: die »Hölle von Jasnaja Poljana«, wie er sie nennt, öffnet ihre Pforten. Aber gerade aus dieser äußersten Qual findet Tolstoi schließlich eine äußerste Entschlossenheit. Endlich, ein paar Monate vor seinem Tode, entschließt er sich um der Reinheit und Redlichkeit dieses Todes willen, keine Zweideutigkeiten und Unklarheiten mehr zu dulden und ein Testament der Nachwelt zu hinterlassen, das undeutbar sein geistiges Eigentum der ganzen Menschheit überweist. Noch tut eine letzte Lüge not, um diese letzte Wahrhaftigkeit zu vollbringen. Da er im Haus sich belauscht und überwacht fühlt, reitet der Zweiundachtzigjährige zu scheinbar gleichgültigem Spazierritt in den Nachbarwald von Grumont, und dort, auf einem Baumstumpf – dramatischester Augenblick unseres Jahrhunderts –, unterschreibt Tolstoi in Gegenwart dreier Zeugen und der ungeduldig schnaubenden Pferde endlich jenes Blatt, das seinem Willen gültige Kraft und Geltung über sein Leben hinaus bezeugt.

 

Nun ist die Fußfessel hinter ihn geworfen, und er glaubt die entscheidende Tat getan. Aber die schwerste, die wichtigste und notwendigste wartet noch seiner. Denn kein Geheimnis hält stand in diesem menschendurchflackerten Hause des redseligen Gewissens, bald ahnt es die Frau, bald weiß es die Familie, daß Tolstoi heimliche Verfügung getroffen. Sie spüren dem Testament nach in Kästen und Schränken, durchforschen das Tagebuch, um eine Fährte zu finden, die Gräfin droht mit Selbstmord, wenn der verhaßte Helfer Tscherkow nicht seine Besuche einstelle. Da erkennt Tolstoi: hier inmitten von Leidenschaft, Gewinngier und Haß und Unruhe kann er sein letztes Kunstwerk, den vollendeten Tod, nicht gestalten; und Angst überkommt den greisen Mann, die Familie könnte ihn »in geistiger Hinsicht um jene kostbaren Minuten bringen, die vielleicht die herrlichsten sind«. Und mit einmal bricht aus der untersten Tiefe seines Gefühls wieder jener Gedanke auf, daß er um der Vollendung willen, wie das Evangelium fordert, Weib und Kinder lassen müsse, Besitz und Gewinn um der Heiligung willen. Zweimal war er schon geflohen, 1884 zum erstenmal, aber auf halbem Wege gebrach ihm die Kraft. Damals zwang er sich, heimzukehren zu seiner Frau, die in den Wehen lag und noch in derselben Nacht ihm ein Kind gebar – dieselbe Tochter Alexandra, die ihm nun zur Seite steht, sein Vermächtnis beschützt und bereit ist, ihm Helferin zu werden für den letzten Weg. Dreizehn Jahre später, 1897, bricht er zum zweitenmal aus und hinterläßt seiner Frau jenen unsterblichen Brief, mit der Darlegung seines Gewissenszwanges: »Ich beschloß zu fliehen, erstens, weil mich dieses Leben mit den zunehmenden Jahren immer mehr bedrückt und ich mich immer heftiger nach Einsamkeit sehne, und zweitens, weil die Kinder nun herangewachsen sind und meine Gegenwart im Haus nicht mehr nötig ist ... Die Hauptsache ist, daß – ähnlich wie die Inder in die Wälder entfliehen, wenn sie einmal das sechzigste Jahr erreicht haben – jeder religiöse Mensch im Alter den Wunsch fühlt, seine letzten Jahre Gott zu weihen und nicht dem Scherz und Spiel, dem Klatsch und dem Tennissport. So sehnt sich auch meine Seele nun, da ich in mein siebzigstes Jahr eingetreten bin, mit aller Macht nach Ruhe und Einsamkeit, um mit meinem Gewissen in Harmonie zu leben oder – wenn das nicht restlos gelingt – doch dem schreienden Mißverhältnis zwischen meinem Leben und meinem Glauben zu entfliehen.« Aber auch damals war er zurückgekehrt, aus überwogender Menschlichkeit. Noch war seine Kraft zu sich selbst nicht stark, der Ruf noch nicht mächtig genug. Aber nun, dreizehn Jahre nach jener zweiten, zweimal dreizehn Jahre nach jener ersten Flucht, hebt schmerzhafter als jemals das ungeheure Ziehen in die Ferne an, mächtig und magnetisch fühlt das eiserne Gewissen sich angerissen von der unerforschlichen Macht. Im Juli 1910 schreibt Tolstoi in das Tagebuch die Worte: »Ich kann nichts anderes außer Fliehen, und daran denke ich jetzt ernstlich, nun zeige dein Christentum. C'est le moment ou jamais. Hier bedarf doch keiner meiner Anwesenheit. Hilf mir, mein Gott, belehre mich, ich möchte nur eins, nicht meinen, nur Deinen Willen tun. Ich schreibe dies und frage mich: Ist es wirklich auch wahr? Spiele ich mich nicht nur so vor Dir auf? Hilf! Hilf! Hilf!« Aber immer noch zögert er, immer hält ihn die Angst um das Schicksal der andern zurück, immer erschrickt er selbst über seinen sündhaften Wunsch und horcht doch, schauernd über die eigene Seele gebeugt, ob nicht ein Anruf kommen wolle von innen, eine Botschaft von oben, die unwiderstehlich gebietet, wo der eigene Wille noch zögert und zagt. Gleichsam auf den Knien, im Gebet vor dem unerforschlichen Willen, dem er sich hingegeben und dessen Weisheit er vertraut, beichtet er im Tagebuch seine Angst und seine Unruhe. Wie ein Fieber ist dieses Warten im entzündeten Gewissen, wie ein einziges ungeheures Zittern dies Horchen im erschütterten Herzen. Und schon meint er sich ungehört vom Schicksal und dem Sinnlosen hingegeben.

 

Da, in der rechten und richtigsten Stunde, bricht eine Stimme in ihm auf, das uralte: »Stehe auf und erhebe dich, nimm Mantel und Pilgerstab!« der Legende. Und er rafft sich auf und schreitet seiner Vollendung entgegen.

 

 

 

Die Flucht zu Gott

 

 

 

Gott kann man sich nur allein nähern.
Tagebuch

 

 

 

Am 28. Oktober 1910, sechs Uhr morgens mag es sein, zwischen den Bäumen hängt noch stockdunkle Nacht, umschleichen ein paar Gestalten in sonderbarer Weise das Schloßhaus von Jasnaja Poljana. Schlüssel knacken, Türen klinken diebisch auf, im Stallstroh schirrt der Kutscher ganz vorsichtig, daß nur kein Lärm geschehe, die Pferde an den Wagen, in zwei Zimmern geistern unruhige Schatten, tappen mit abgeblendeten Taschenlaternen nach allerhand Paketen, öffnen Laden und Schränke. Dann gleiten sie durch lautlos aufgedrückte Türen, stolpern flüsternd durch das kotige Wurzelwerk des Parks. Dann rollt leise ein Wagen, den Weg vor dem Hause vermeidend, rückwärts zum Parktor hinaus.

 

Was geschieht da? Sind Einbrecher in das Schloß gedrungen? Umstellt endlich die Polizei des Zaren die Wohnung des allzu Verdächtigen, um eine Untersuchung vorzunehmen? Nein, niemand ist eingebrochen, sondern Leo Nikolajewitsch Tolstoi bricht wie ein Dieb, nur von seinem Arzt begleitet, aus dem Gefängnis seines Daseins. Der Ruf ist an ihn ergangen, ein Zeichen, unwiderleglich und entscheidend. Abermals hat er nachts die Frau überrascht, wie sie heimlich und hysterisch seine Papiere durchwühlt, und da ist plötzlich stahlhart und stoßhaft der Entschluß in ihm aufgesprungen, sie zu verlassen, »die seine Seele verlassen hat«, zu fliehen, irgendwohin, zu Gott hin, zu sich selbst, in den eigenen, ihm zugemessenen Tod. Plötzlich hat er über das Arbeitshemd den Mantel gestülpt, eine grobe Mütze aufgesetzt, die Gummischuhe angezogen, nichts anderes von seinem Eigentum mitnehmend, als was der Geist braucht, um sich der Menschheit zu übermitteln: das Tagebuch, Bleistift und Feder. Am Bahnhof kritzelt er noch einen Brief an seine Frau, sendet ihn heim durch den Kutscher: »Ich habe getan, was Greise meines Alters gewöhnlich tun, ich verlasse dieses weltliche Leben, um meine letzten Lebenstage in Abgeschiedenheit und Stille zu verbringen.« Dann steigen sie ein, und auf der schmierigen Bank eines Dritte-Klasse-Wagens sitzt, in den Mantel gehüllt, nur von seinem Arzt begleitet, Leo Tolstoi, der Flüchtling zu Gott.

 

Aber Leo Tolstoi, so nennt er sich nicht mehr. Wie weiland Karl der Fünfte, Herr zweier Welten, freiwillig die Insignien der Macht von sich legte, um sich einzugraben in den Sarg des Eskorials, so hat Tolstoi wie sein Geld, das Haus und den Ruhm, auch seinen Namen hinter sich geworfen; T. Nikolajew nennt er sich jetzt, erfundener Name eines, der sich ein neues Leben erfinden will und den reinen und richtigen Tod. Gelöst endlich alle Bande, nun kann er der Pilger sein auf fremden Straßen, Diener der Lehre und des aufrichtigen Worts. Im Kloster Schamardino nimmt er noch Abschied von seiner Schwester, der Äbtissin: zwei greise gebrechliche Gestalten sitzen beisammen inmitten von milden Mönchen, von Ruhe und rauschender Einsamkeit verklärt; wenige Tage später kommt die Tochter nach, das Kind, geboren in jener ersten mißlungenen Fluchtnacht. Aber auch hier in der Stille duldet es ihn nicht, er fürchtet erkannt, verfolgt, erreicht zu werden, noch einmal zurückgerissen in dieses unklare, unwahre Dasein im eigenen Haus. So weckt er, abermals von unsichtbarem Finger berührt, am 31. Oktober um vier Uhr morgens plötzlich die Tochter und drängt, weiterzufahren, irgendwohin, nach Bulgarien, nach dem Kaukasus, ins Ausland, irgendwohin, wo der Ruhm und die Menschen ihn nicht mehr erreichen, nur endlich in die Einsamkeit, hin zu sich selber, hin zu Gott.

 

Aber der furchtbare Widerpart seines Lebens, seiner Lehre, der Ruhm, sein Qualteufel und Versucher, noch läßt er sein Opfer nicht. Die Welt erlaubt nicht, daß »ihr« Tolstoi sich, seinem ureigenen, wissenden Willen gehöre. Kaum sitzt der Gejagte im Coupé, die Mütze tief in die Stirn gedrückt, und schon hat einer der Reisenden den großen Meister erkannt, schon wissen es alle im Zuge, schon ist das Geheimnis verraten, schon drängen außen an die Wagentür Männer und Frauen, ihn zu sehen. Die Zeitungen, die sie mit sich führen, bringen spaltenlange Berichte von dem kostbaren Tier, das dem Kerker entflohen, schon ist er verraten und umstellt, noch einmal, zum letztenmal steht der Ruhm auf Tolstois Weg zur Vollendung. Die Telegraphendrähte neben dem sausenden Zug surren von Botschaften, alle Stationen sind verständigt von der Polizei, alle Beamten mobilisiert, zu Hause bestellen sie bereits Extrazüge, und die Reporter jagen von Moskau, von Petersburg, von Nishnij-Nowgorod, von allen vier Flanken des Windes ihm nach, dem flüchtigen Wild. Der heilige Synod entsendet einen Priester, um den Reuigen zu fassen, und plötzlich steigt ein fremder Herr ein in den Zug, kommt wieder und wieder in immer neuer Maske an dem Coupé vorbei, ein Detektiv: – nein, der Ruhm läßt seinen Sträfling nicht entfliehen. Leo Tolstoi soll und darf nicht allein mit sich sein, die Menschen dulden nicht, daß er sich selber gehöre und seine Heiligung erfülle.

 

Schon ist er umstellt, schon ist er umringt, kein Dickicht, in das er sich werfen kann. Wenn der Zug an die Grenze kommt, wird mit höflich gelüftetem Hut ein Beamter ihn begrüßen und ihm den Übertritt verweigern; wo immer er ausrasten will, wird der Ruhm sich ihm gegenübersetzen, breit, vielmündig und lärmend: nein, er kann nicht entkommen, die Kralle hält ihn fest. Aber da plötzlich bemerkt die Tochter, wie den greisen Körper des Vaters ein kalter Schauerfrost schüttelt. Erschöpft lehnt er sich an die harte Holzbank. Schweiß bricht aus allen Poren des Zitternden und tropft von der Stirn. Ein Fieber, aufgebrochen aus seinem Blute, Krankheit ist über ihn gekommen, um ihn zu retten. Und schon hebt der Tod seinen Mantel, den dunklen, ihn zu decken vor den Verfolgern.

 

In Astapowo, einer kleinen Bahnstation, müssen sie haltmachen, der Todkranke kann nicht mehr weiter. Kein Gasthof, kein Hotel, kein fürstlicher Raum, ihn zu bergen. Beschämt bietet der Stationsvorsteher sein Dienstzimmer an im einstöckigen Holzhaus des Bahngebäudes (Wallfahrtsstätte seitdem für die russische Welt). Man führt den Kälteschauernden hinein, und plötzlich ist alles wahr, was er geträumt; da ist das kleine Zimmer, niedrig und dumpf, voll Dunst und Armut, das eiserne Bett, das kärgliche Licht der Petroleumlampe – meilenweit weg mit einem Mal der Luxus und die Bequemlichkeit, vor der er geflohen ist. Im Sterben, im letzten Augenblick wird alles genau, wie sein innerster Wille gewollt: rein, schlackenlos, ein erhabenes Symbol fügt der Tod sich vollkommen seiner Künstlerhand. In wenigen Tagen türmt sich der großartige Bau dieses Sterbens empor, erhabene Bekräftigung seiner Lehre, nicht mehr zu unterwühlen von der Mißgunst der Menschen, nicht mehr zu stören und zu zerstören in seiner urirdischen Einfachheit. Vergebens, daß draußen vor der verschlossenen Tür der Ruhm atemlos, mit lechzenden Lefzen lauert, daß die Reporter und Neugierigen, die Spione und Polizisten und Gendarmen, der vom Synod abgesandte Priester, die vom Zaren bestimmten Offiziere drängen und warten: ihre grelle und schamlose Geschäftigkeit vermag nichts mehr gegen diese unzerstörbare letzte Einsamkeit. Nur die Tochter hält Wache, ein Freund und der Arzt, stille und demütige Liebe umgibt ihn mit Schweigen. Auf dem Nachttisch liegt das kleine Tagebuch, sein Sprachrohr zu Gott, aber die fiebrigen Hände vermögen den Stift nicht mehr zu halten. So diktiert er aus jagender Lunge, mit verlöschender Stimme der Tochter noch seine letzten Gedanken, nennt Gott »jenes unbegrenzte All, von dem sich der Mensch als einen begrenzten Teil fühlt, seine Offenbarung in Stoff, Zeit und Raum« und verkündigt, daß die Vereinigung dieser irdischen Wesen mit dem Leben anderer Wesen einzig durch die Liebe geschehe. Zwei Tage vor seinem Tode spannt er noch alle seine Sinne, die obere Wahrheit, die unerreichbare, zu fassen. Dann erst schattet mählich die Dunkelheit über dieses strahlende Gehirn.

 

Draußen drängen die Menschen neugierig und frech. Er fühlt sie nicht mehr. Vor den Fenstern späht, von Reue gedemütigt, durch die Tränen ihrer strömenden Augen Sophia Andrejewna, seine Frau, herein, die ihm achtundvierzig Jahre verbunden war, um nur von ferne noch einmal sein Antlitz zu sehen: er erkennt sie nicht mehr. Immer fremder werden dem hellsichtigsten aller Menschen die Dinge des Lebens, immer dunkler und stockender rollt das Blut durch die brechenden Adern. In der Nacht des vierten Novembers rafft er sich noch einmal auf und stöhnt: »Aber die Bauern – wie sterben denn die Bauern?« Noch wehrt sich das ungeheure Leben gegen den ungeheuren Tod. Erst am 7. November kommt das Sterben über den Unsterblichen. Hin sinkt das weißumloderte Haupt in die Kissen, die Augen verlöschen, die wissender als alle die Welt gesehen. Und nun erst weiß der ungeduldige Sucher endlich die Wahrheit und den Sinn alles Lebens.

 

 

Balzac

 

Balzac ist 1799 geboren, in der Touraine, der Provinz des Überflusses, in Rabelais' heiterer Heimat. Im Juni 1799, das Datum ist wert, wiederholt zu werden. Napoleon – die von seinen Taten schon beunruhigte Welt nannte ihn noch Bonaparte – kam in diesem Jahre aus Ägypten heim, halb Sieger und halb Flüchtling. Unter fremden Sternbildern, vor den steinernen Zeugen der Pyramiden hatte er gefochten, war dann, müd, ein grandios begonnenes Werk zäh zu vollenden, auf winzigem Schiffe durchgeschlüpft zwischen den lauernden Korvetten Nelsons, faßte ein paar Tage nach seiner Ankunft eine Handvoll Getreuer zusammen, fegte den widerstrebenden Konvent rein und riß mit einem Griff die Herrschaft Frankreichs an sich. 1799, das Geburtsjahr Balzacs, ist der Beginn des Empire. Das neue Jahrhundert kennt nicht mehr le petit général, nicht mehr den korsischen Abenteurer, sondern nur mehr Napoleon, den Kaiser Frankreichs. Zehn, fünfzehn Jahre noch – die Knabenjahre Balzacs – und die machtgierigen Hände umspannen halb Europa, während seine ehrgeizigen Träume mit Adlersflügeln schon ausgreifen über die ganze Welt von Orient zu Okzident. Es kann für einen alles so intensiv Miterlebenden, für einen Balzac nicht gleichgültig sein, wenn sechzehn Jahre ersten Umblicks mit den sechzehn Jahren des Kaiserreichs, der vielleicht phantastischesten Epoche der Weltgeschichte, glatt zusammenfallen. Denn frühes Erlebnis und Bestimmung, sind sie nicht eigentlich nur Innen- und Außenfläche eines Gleichen? Daß einer, irgendeiner kam, von irgendeiner Insel im blauen Mittelmeer, nach Paris kam, ohne Freund und Geschäft, ohne Ruf und Würde, schroff die eben zügellose Gewalt dort packte, sie herumriß und in den Zaum zwang, daß irgendeiner, ein einzelner, ein Fremder, mit einem Paar nackter Hände Paris gewann und dann Frankreich und dann die ganze Welt – diese Abenteurerlaune der Weltgeschichte wird nicht aus schwarzen Lettern unglaubhaft zwischen Legenden oder Historien ihm vermittelt, sondern farbig, durch all seine durstig aufgetanen Sinne dringt sie ein in sein persönliches Leben, mit tausend bunten Erinnerungswirklichkeiten die noch unbeschrittene Welt seines Innern bevölkernd. Solches Erlebnis muß notwendigerweise zum Beispiel werden. Balzac, der Knabe, hat das Lesen vielleicht gelernt an den Proklamationen, die stolz, schroff, mit fast römischem Pathos die fernen Siege erzählten, der Kinderfinger zog wohl ungelenk auf der Landkarte, von der Frankreich wie ein überströmender Fluß allmählich über Europa schwoll, den Märschen der napoleonischen Soldaten nach, heute über den Mont Cenis, morgen quer durch die Sierra Nevada, über die Flüsse hin nach Deutschland, über den Schnee nach Rußland, über das Meer vor Gibraltar hin, wo die Engländer mit glühenden Kanonenkugeln die Flottille in Brand schossen. Tags haben vielleicht die Soldaten auf der Straße mit ihm gespielt, Soldaten, denen Kosaken ihre Säbelhiebe ins Gesicht geschrieben hatten, nachts mag er oft aufgewacht sein vom Rollen der Kanonen, die hinzogen nach Österreich, um die Eisdecke unter der russischen Reiterei bei Austerlitz zu zerschmettern. Alles Begehren seiner Jugend mußte aufgelöst sein in den aneifernden Namen, in den Gedanken, in die Vorstellung: Napoleon. Vor dem großen Garten, der aus Paris hinausführt in die Welt, wuchs ein Triumphbogen auf, dem die besiegten Städtenamen der halben Welt eingemeißelt waren, und dieses Gefühl der Herrschaft, wie mußte es umschlagen in eine ungeheure Enttäuschung, als dann fremde Truppen einzogen durch diese stolze Wölbung! Was außen, in der durchstürmten Welt geschah, wuchs nach innen als Erlebnis. Früh erlebte er schon die ungeheure Umwälzung der Werte, der geistigen ebenso wie der materiellen. Er sah die Assignaten, auf denen hundert oder tausend Francs mit dem Siegel der Republik verheißen waren, als wertlose Papiere im Winde flattern. Auf dem Goldstück, das durch seine Hand glitt, war bald des enthaupteten Königs feistes Profil, bald die Jakobinermütze der Freiheit, bald des Konsuls Römergesicht, bald Napoleon im kaiserlichen Ornat. In einer Zeit so ungeheurer Umwälzungen, da die Moral, das Geld, das Land, die Gesetze, die Rangordnungen, alles, was seit Jahrhunderten in feste Grenzen eingedämmt war, einsickerte oder überschwemmte, in einer Epoche so nie erlebter Veränderungen mußte ihm früh die Relativität aller Werte bewußt werden. Ein Wirbel war die Welt um ihn, und wenn der schwindlige Blick nach Übersicht suchte, nach einem Symbol, nach einem Sternbild über diesen gebäumten Wogen, so war es in diesem Auf und Nieder der Ereignisse immer nur Er, der Eine, der Wirkende, von dem diese tausend Erschütterungen und Schwingungen ausgingen. Und ihn selbst, Napoleon, hatte er noch erlebt. Er sah ihn zur Parade reiten mit den Geschöpfen seines Willens, mit Rustan, dem Mamelucken, mit Josef, dem er Spanien geschenkt hatte, mit Murat, dem er Sizilien zu eigen gegeben, mit Bernadotte, dem Verräter, mit allen, denen er Kronen gemünzt hatte und Königreiche erobert, die er aufgehoben aus dem Nichts ihrer Vergangenheit in den Strahl seiner Gegenwart. In einer Sekunde war in seine Netzhaut sinnfällig und lebendig ein Bild eingestrahlt, das größer war als alle Beispiele der Geschichte: er hatte den großen Welteroberer gesehen! Und ist für einen Knaben, einen Welteroberer zu sehen, nicht gleichviel mit dem Wunsche, selbst einer zu werden? Noch an zwei anderen Stellen ruhten in diesem Augenblicke zwei Welteroberer aus, in Königsberg, wo einer die Wirre der Welt sich auflöste in eine Übersicht, und in Weimar, wo sie ein Dichter nicht minder in ihrer Gänze besaß als Napoleon mit seinen Armeen. Aber dies war für lange noch unfühlbare Ferne für Balzac. Den Trieb, immer nur das Ganze zu wollen, nie ein Einzelnes, die ganze Weltfülle gierig zu erstreben, diesen fieberhaften Ehrgeiz hat vorerst das Beispiel Napoleons an ihm verschuldet.

 

Dieser ungeheure Weltwille weiß noch nicht sofort seinen Weg. Balzac entscheidet sich zunächst für keinen Beruf. Zwei Jahre früher geboren, wäre er, ein Achtzehnjähriger, in die Reihen Napoleons getreten, hätte vielleicht bei Belle Alliance die Höhen gestürmt, wo die englischen Kartätschen niederfegten; aber die Weltgeschichte liebt keine Wiederholungen. Auf den Gewitterhimmel der napoleonischen Epoche folgen laue, weiche, erschlaffende Sommertage. Unter Ludwig XVIII. wird der Säbel zum Zierdegen, der Soldat zur Hofschranze, der Politiker zum Schönredner; nicht mehr die Faust der Tat, das dunkle Füllhorn des Zufalls vergeben die hohen Staatsstellen, sondern weiche Frauenhände schenken Gunst und Gnade, das öffentliche Leben versandet, verflacht, der Gischt der Ereignisse glättet sich zum sanften Teich. Mit den Waffen war die Welt nicht mehr zu erobern. Napoleon, dem einzelnen ein Beispiel, war eine Abschreckung für die vielen. So blieb die Kunst. Balzac beginnt zu schreiben. Aber nicht wie die anderen, um Geld zu raffen, zu amüsieren, ein Bücherregal zu füllen, ein Boulevardgespräch zu sein: ihn lüstet nicht nach einem Marschallstab in der Literatur, sondern nach der Kaiserkrone. In einer Mansarde fängt er an. Unter fremdem Namen, wie um seine Kraft zu proben, schreibt er die ersten Romane. Es ist noch nicht Krieg, sondern nur Kriegsspiel, Manöver und noch nicht die Schlacht. Unzufrieden mit dem Erfolg, unbefriedigt vom Gelingen, wirft er dann das Handwerk hin, dient drei, vier Jahre lang anderen Berufen, sitzt als Schreiber in der Stube eines Notars, beobachtet, sieht, genießt, dringt mit seinem Blick in die Welt, und dann fängt er noch einmal an. Jetzt aber mit jenem ungeheuren Willen auf das Ganze hinzielend, mit jener gigantischen fanatischen Gier, die das Einzelne, die Erscheinung, das Phänomen, das Losgerissene mißachtet, um nur das in großen Schwingungen Kreisende zu umfassen, das geheimnisvolle Räderwerk der Urtriebe zu belauschen. Aus dem Gebräu der Geschehnisse die reinen Elemente, aus dem Zahlengewirr die Summe, aus dem Getöse die Harmonie, aus der Lebensfülle die Essenz zu gewinnen, die ganze Welt in seine Retorte zu drängen, sie noch einmal zu schaffen, »en raccourci«: das ist nun sein Ziel. Nichts soll verloren gehen von der Vielfalt, und um dieses Unendliche in ein Endliches, das Unerreichbare in ein Menschenmögliches zusammenzupressen, gibt es nur einen Prozeß: die Komprimierung. Seine ganze Kraft arbeitet dahin, die Phänomene zusammenzudrängen, sie durch ein Sieb zu jagen, wo alles Unwesentliche zurückbleibt und nur die reinen, wertvollen Formen durchsickern; und sie dann, diese zerstreuten Einzelformen, in der Glut seiner Hände zusammenzupressen, ihre ungeheure Vielfalt in ein anschauliches, übersichtliches System zu bringen, wie Linné die Milliarden Pflanzen in eine enge Übersicht, wie der Chemiker die unzählbaren Zusammensetzungen in eine Handvoll Elemente auflöst – das ist nun sein Ehrgeiz. Er vereinfacht die Welt, um sie dann zu beherrschen, er preßt die Bezwungene in den grandiosen Kerker der «Com édie humaine«. Durch diesen Prozeß der Destillation sind seine Menschen immer Typen, immer charakteristische Zusammenfassungen einer Mehrheit, von denen ein unerhörter Kunstwille alles Überflüssige und Unwesentliche abgeschüttelt hat. Er konzentriert, indem er das administrative Zentralisationssystem in die Literatur einführt. Wie Napoleon macht er Frankreich zum Umkreis der Welt, Paris zum Zentrum. Und innerhalb dieses Kreises, in Paris selbst, zieht er mehrere Zirkel, den Adel, die Geistlichkeit, die Arbeiter, die Dichter, die Künstler, die Gelehrten. Aus fünfzig aristokratischen Salons macht er einen einzigen, den der Herzogin von Cadignan. Aus hundert Bankiers den Baron von Nucingen, aus allen Wucherern den Gobsec, aus allen Ärzten den Horace Bianchon. Er läßt diese Menschen enger beieinander wohnen, häufiger sich berühren, vehementer sich bekämpfen. Wo das Leben tausend Spielarten erzeugt, hat er nur eine. Er kennt keine Mischtypen. Seine Welt ist ärmer als die Wirklichkeit, aber intensiver. Denn seine Menschen sind Extrakte, seine Leidenschaften reine Elemente, seine Tragödien Kondensierungen. Wie Napoleon beginnt er mit der Eroberung von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz – jedes Departement sendet gewissermaßen seinen Sprecher in das Parlament Balzacs – und dann wirft er wie der siegreiche Konsul Bonaparte seine Truppen über alle Länder. Er greift aus, sendet seine Menschen an die Fjorde Norwegens, in die verbrannten, sandigen Ebenen Spaniens, unter den feuerfarbenen Himmel Ägyptens, an die vereiste Brücke der Beresina, überallhin und noch weiter greift sein Weltwille wie der seines großen Vorbildners. Und so wie Napoleon, ausruhend zwischen zwei Feldzügen, den Code civil schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der Welt in der »Comedie humaine«, einen Code moral der Liebe, der Ehe, eine prinzipielle Abhandlung und zieht über die erdumspannende Linie der großen Werke noch lächelnd die übermütige Arabeske der »Contes drôlatiques«. Vom tiefsten Elend, aus den Hütten der Bauern wandert er in die Paläste von St. Germain, dringt in die Gemächer Napoleons, überall reißt er die vierte Wand auf und mit ihr die Geheimnisse der verschlossenen Räume, er rastet mit den Soldaten in den Zelten der Bretagne, spielt an der Börse, sieht in die Kulissen des Theaters, überwacht die Arbeit des Gelehrten, kein Winkel ist in der Welt, wo seine zauberische Flamme nicht hinleuchtet. Zwei- bis dreitausend Menschen bilden seine Armee, und tatsächlich: aus dem Boden hat er sie gestampft, aus seiner flachen Hand ist sie aufgewachsen. Nackt, aus dem Nichts sind sie gekommen, und er wirft ihnen Kleider um, schenkt ihnen Titel und Reichtümer, wie Napoleon seinen Marschällen, nimmt sie ihnen wieder ab, er spielt mit ihnen, hetzt sie durcheinander. Unzählbar ist die Vielfalt der Geschehnisse, ungeheuer die Landschaft, die hinter diese Ereignisse sich stellt. Einzig in der neuzeitlichen Literatur, wie Napoleon einzig in der modernen Geschichte, ist diese Eroberung der Welt in der »Comédie humaine«, dieses Zwischen-zwei-Händen-Halten des ganzen, zusammengedrängten Lebens. Aber es war der Knabentraum Balzacs, die Welt zu erobern, und nichts ist gewaltiger als früher Vorsatz, der Wirklichkeit wird. Nicht umsonst hatte er unter ein Bild Napoleons geschrieben: »Ce qu'il n'a pu achever par l'épée je l'accomplirai par la plume.«

 

Und so wie er sind seine Helden. Alle haben sie das Welteroberungsgelüst. Eine zentripetale Kraft schleudert sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat, nach Paris. Dort ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine Armee, strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige, unklare Energie, und hier, im engen Räume prallen sie aufeinander wie Geschosse, vernichten sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund. Keinem ist ein Platz bereitet. Jeder muß sich die Rednerbühne erobern und dies stahlharte, biegsame Metall, das Jugend heißt, umschmieden zu einer Waffe, seine Energien konzentrieren zu einem Explosiv. Daß dieser Kampf innerhalb der Zivilisation nicht minder erbittert ist als der auf den Schlachtfeldern, dies als erster bewiesen zu haben, ist der Stolz Balzacs: »Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure Trauerspiele!« ruft er den Romantikern zu. Denn das erste, was diese jungen Menschen in den Büchern Balzacs lernen, ist das Gesetz der Unerbittlichkeit. Sie wissen, daß sie zuviel sind, und müssen sich – das Bild gehört Vautrin, dem Liebling Balzacs – auffressen wie die Spinnen in einem Topf. Sie müssen die Waffe, die sie aus ihrer Jugend geschmiedet haben, noch eintauchen in das brennende Gift der Erfahrung. Nur der Überbleibende hat recht. Aus allen zweiunddreißig Windrichtungen kommen sie her wie die Sansculotten der »Großen Armee«, zerreißen sich die Schuhe auf dem Wege nach Paris, der Staub der Landstraße klebt an ihren Kleidern, und ihre Kehle ist verbrannt von einem ungeheuren Durst nach Genuß. Und wie sie sich umsehen in dieser neuen, zauberischen Sphäre der Eleganz, des Reichtums und der Macht, da fühlen sie, daß, um diese Paläste, diese Frauen, diese Gewalten zu erobern, all das wenige, das sie mitgebracht haben, wertlos sei. Daß sie ihre Fähigkeiten, um sie auszunützen, umschmelzen müßten, Jugend in Zähigkeit, Klugheit in List, Vertrauen in Falschheit, Schönheit in Laster, Verwegenheit in Verschlagenheit. Denn die Helden Balzacs sind starke Begehrende, sie streben nach dem Ganzen. Sie alle haben das gleiche Abenteuer: ein Tilbury saust an ihnen vorbei, die Räder sprühen sie an mit Kot, der Kutscher schwingt die Peitsche, aber darin sitzt eine junge Frau, in ihrem Haar blinkt der Schmuck. Ein Blick weht rasch vorüber. Sie ist verführerisch und schön, ein Symbol des Genusses. Und alle Helden Balzacs haben in diesem Augenblicke nur einen Wunsch: Mir diese Frau, der Wagen, die Diener, der Reichtum, Paris, die Welt! Das Beispiel Napoleons, daß alle Macht auch für den Geringsten feil sei, hat sie verdorben. Nicht wie ihre Väter in der Provinz ringen sie um einen Weinberg, um eine Präfektur, um eine Erbschaft, sondern um Symbole schon, um die Macht, um den Aufstieg in jenen Lichtkreis, wo die Liliensonne des Königtums glänzt und das Geld wie Wasser durch die Finger rinnt. So werden sie ja jene großen Ehrgeizigen, denen Balzac stärkere Muskeln, wildere Beredsamkeit, energischere Triebe, ein, wenn auch rascheres, so doch lebendigeres Leben zuschreibt, als den anderen. Sie sind Menschen, deren Träume Taten werden, Dichter, wie er sagt, die in der Materie des Lebens dichten. Zwiefach in ihrer Angriffsweise, ein besonderer Weg bahnt sich dem Genie, ein anderer dem gewöhnlichen. Man muß sich eine eigene Weise finden, um zur Macht zu gelangen, oder man muß die der anderen, die Methode der Gesellschaft erlernen. Als Kanonenkugel muß man mörderisch hineinschmettern in die Menge der anderen, die zwischen einem und dem Ziele stehen, oder man muß sie schleichend vergiften wie die Pest, rät Vautrin, der Anarchist, die grandiose Lieblingsfigur Balzacs. Im Quartier Latin, wo Balzac selbst in enger Stube begonnen hat, treten auch seine Helden zusammen, die Urformen des sozialen Lebens, Desplein, der Student der Medizin, Rastignac, der Streber, Louis Lambert, der Philosoph, Bridau, der Maler, Rubempré, der Journalist – ein Cénacle junger Menschen, die ungeformte Elemente sind, reine, rudimentäre Charaktere, aber doch: das ganze Leben gruppiert um eine Tischplatte in der sagenhaften Pension Vauquer. Dann aber, hineingegossen in die große Retorte des Lebens, eingekocht in die Hitze der Leidenschaften, und wieder erkaltend, erstarrend an den Enttäuschungen, unterworfen den vielfachen Wirkungen der gesellschaftlichen Natur, den mechanischen Reibungen, den magnetischen Anziehungen, den chemischen Zersetzungen, den molekularen Zerlegungen, bilden sich diese Menschen um, verlieren sie ihr wahres Wesen. Die furchtbare Säure, die Paris heißt, löst die einen auf, zerfrißt sie, scheidet sie aus, läßt sie verschwinden und kristallisiert, verhärtet, versteint wiederum die anderen. Alle Wirkungen der Wandlung, Färbung und Vereinung vollziehen sich an ihnen, aus den vereinten Elementen bilden sich neue Komplexe, und zehn Jahre später grüßen sich die Übergebliebenen, Umgeformten mit Augurenlächeln auf den Höhen des Lebens, Desplein, der berühmte Arzt, Rastignac, der Minister, Bridau, der große Maler, während Louis Lambert und Rubempré das Schwungrad zermalmend faßte. Nicht umsonst hat Balzac die Chemie geliebt, die Werke Cuviers, Lavoisiers studiert. Denn in diesem vielfältigen Prozeß der Aktionen und Reaktionen, der Affinitäten, der Abstoßungen und Anziehungen, Ausscheidungen und Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen, in der atomhaften Vereinfachung des Zusammengesetzten schien ihm deutlicher als anderswo das Bild der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Daß jedes Individuum ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten, Zufall, von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt, daß jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre sauge, um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu entstrahlen – dieses universelle Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm Axiom. Und diesen Abdruck des Organischen im Unorganischen, und die Griffspuren des Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierungen eines momentanen geistigen Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer Epochen aufzuzeichnen, schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers. Alles fließt ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei. Ein so unbegrenzter Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer an den Ereignissen sich formen lassen, sich modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals. Selbst die Namen seiner Menschen umspannen einen Wandel und kein Einheitliches. Durch zwanzig der Bücher Balzacs geht der Baron von Rastignac, Pair von Frankreich. Man glaubt ihn schon zu kennen, von der Straße her, oder vom Salon, oder von der Zeitung, diesen rücksichtslosen Arrivierten, dies Prototyp eines brutalen pariserischen unbarmherzigen Strebers, der aalglatt durch alle Schlupfwinkel der Gesetze sich durchdrückt und die Moral einer verkommenen Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein Buch, in dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann, den seine Eltern nach Paris schicken mit vielen Hoffnungen und wenig Geld, ein weicher, sanfter, bescheidener, sentimentaler Charakter. Und das Buch erzählt, wie er in die Pension Vauquer gerät, in jenen Hexenkessel von Gestalten, in eine jener genialen Verkürzungen, wo Balzac in vier schlecht tapezierte Wände die ganze Lebensvielfalt der Temperamente und Charaktere einschließt, und hier sieht er die Tragödie des ungekannten König Lear, des Vaters Goriot, sieht, wie die Flitterprinzessinnen des Faubourg St. Germain gierig den alten Vater bestehlen, sieht alle Niedertracht der Gesellschaft, gelöst in eine Tragödie. Und da, wie er endlich dem Sarge des allzu Gütigen folgt, allein mit einem Hausknecht und einer Magd, wie er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb und trüb wie ein böses Geschwür von den Höhen des Père-Lachaise zu seinen Füßen sieht, da weiß er alle Weisheit des Lebens. In diesem Momente hört er die Stimme Vautrins, des Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine Lehre, daß man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor seinem Wagen hetzen und dann krepieren lassen am Ziel, in dieser Sekunde wird er der Baron Rastignac der anderen Bücher, der rücksichtslose, unerbittliche Streber, der Pair von Paris. Und diese Sekunde am Kreuzweg des Lebens erleben alle Helden Balzacs. Sie alle werden Soldaten im Kriege aller gegen alle, jeder stürmt vorwärts, über die Leiche des einen geht der Weg des andern. Daß jeder seinen Rubikon, sein Waterloo hat, daß die Gleichen Schlachten sich in Palästen, Hütten und Tavernen liefern, zeigt Balzac, und daß unter den abgerissenen Kleidern Priester, Ärzte, Soldaten, Advokaten die gleichen Triebe bekunden, das weiß sein Vautrin, der Anarchist, der die Rollen aller spielt und in zehn Verkleidungen in den Büchern Balzacs auftritt, immer aber derselbe und bewußt derselbe. Unter der nivellierten Oberfläche des modernen Lebens wühlen die Kämpfe unterirdisch weiter. Denn der äußeren Egalisierung wirkt der innere Ehrgeiz entgegen. Da keinem ein Platz reserviert ist wie einst dem König, dem Adel, den Priestern, da jeder ein Anrecht auf alle hat, so verzehnfacht sich ihre Anspannung. Die Verkleinerung der Möglichkeiten äußert sich im Leben als Verdoppelung der Energie.

 

Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des bewußten Lebenswillens ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. Intensität, Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört, Erfolg und Ruhm nichts, denn ihn bestimmt der Zufall. Der kleine Dieb, der ängstliche, der ein Brot vom Bäckerladentisch in den Ärmel verschwinden läßt, ist langweilig, der große Dieb, der professionelle, der nicht nur um des Nutzens, sondern um der Leidenschaft willen raubt, dessen ganze Existenz sich auflöst in den Begriff des Ansichreißens, ist grandios. Die Effekte, die Tatsachen zu messen, bleibt Aufgabe der Geschichtschreibung, die Ursachen, die Intensitäten freizulegen, scheint für Balzac die des Dichters. Denn tragisch ist nur die Kraft, die nicht zum Ziel gelangt. Balzac schildert die héros oubliés, für ihn gibt es in jeder Epoche nicht nur einen Napoleon, nicht nur den der Historiker, der die Welt erobert hat von 1796 bis 1815, sondern er kennt vier oder fünf. Der eine ist vielleicht bei Marengo gefallen und hat Desaix geheißen, der zweite mag vom wirklichen Napoleon nach Ägypten gesandt worden sein, fernab von den großen Ereignissen, der dritte hat vielleicht die ungeheuerste Tragödie erlitten: er war Napoleon und ist nie an ein Schlachtfeld gelangt, hat in irgendeinem Provinznest einsickern müssen, statt Wildbach zu werden, aber er hat nicht minder Energie verausgabt, wenn auch an kleinere Dinge. So nennt er Frauen, die durch ihre Hingebung und ihre Schönheit berühmt geworden wären unter den Sonnenköniginnen, deren Namen geklungen hätten wie der der Pompadour oder der Diane de Poitiers, er spricht von den Dichtern, die an der Ungunst des Augenblicks zugrunde gehen, an deren Namen der Ruhm vorbeigeglitten ist und denen der Dichter erst den Ruhm wieder schenken muß: Er weiß, daß jede Sekunde des Lebens eine ungeheure Fülle von Energie unwirksam verschwendet. Ihm ist bewußt, daß die Eugénie Grandet, das sentimentale Provinzmädel, in dem Augenblicke, da sie, erzitternd vor dem geizigen Vater, ihrem Vetter die Geldbörse schenkt, nicht minder tapfer ist als die Jeanne d'Arc, deren Marmorbild auf jedem Marktplatze Frankreichs leuchtet. Erfolge können den Biographen unzähliger Karrieren nicht blenden, den nicht täuschen, der alle Schminken und Mixturen des sozialen Auftriebs chemisch zersetzt hat. Balzacs unbestechliches Auge, einzig nach Energie ausspähend, sieht aus dem Gewühl der Tatsachen immer nur die lebendige Anspannung, greift in jenem Gedränge an der Beresina, wo das zersprengte Heer Napoleons über die Brücke strebt, wo Verzweiflung und Niedertracht und Heldentum hundertfach geschilderter Szenen zu einer Sekunde zusammengedrängt sind, die wahren, die größten Helden heraus: die vierzig Pioniere, deren Namen niemand kennt, die drei Tage bis zur Brust im eiskalten, schollentreibenden Wasser gestanden hatten, um jene schwanke Brücke zu bauen, auf der die Hälfte der Armee entkam. Er weiß, daß hinter den verhängten Scheiben von Paris in jeder Sekunde Tragödien geschehen, die nicht geringer sind als der Tod der Julia, das Ende Wallensteins und die Verzweiflung Lears, und immer wieder hat er das eine Wort stolz wiederholt: »Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure tragischen Trauerspiele.« Denn seine Romantik greift nach innen. Sein Vautrin, der Bürgerkleidung trägt, ist nicht minder grandios als der schellenumhangene Glöckner von Notre-Dame, der Quasimodo des Victor Hugo, die starren felsigen Landschaften der Seele, das Gestrüpp von Leidenschaft und Gier in der Brust seiner großen Streber ist nicht minder schreckhaft als die schaurige Felsenhöhle des Han d'Islande. Balzac sucht das Grandiose nicht in der Draperie, nicht im Fernblick auf das Historische oder Exotische, sondern im Überdimensionalen, in der gesteigerten Intensität eines in seiner Geschlossenheit einzig werdenden Gefühls. Er weiß, daß jedes Gefühl erst bedeutsam wird, wenn es in seiner Kraft ungebrochen bleibt, jeder Mensch nur groß, wenn er sich konzentriert in ein Ziel, sich nicht verschleudert, in einzelne Begierden zersplittert, wenn seine Leidenschaft die allen anderen Gefühlen zugedachten Säfte in sich auftrinkt, durch Raub und Unnatur stark wird, so wie ein Ast mit doppelter Wucht erst aufblüht, wenn der Gärtner die Zwillingsäste gefällt oder gedrosselt hat.

 

Solche Monomanen der Leidenschaft hat er geschildert, die in einem einzigen Symbol die Welt begreifen, einen Sinn sich statuierend in dem unentwirrbaren Reigen. Eine Art Mechanik der Leidenschaften ist das Grundaxiom seiner Energetik: der Glaube, daß jedes Leben eine gleiche Summe von Kraft verausgabe, gleichviel, an welche Illusionen es diese Willensbegehrungen verschwende, gleichviel, ob es sie langsam verzettle in tausend Erregungen, oder sparsam aufbewahre für die jähen heftigen Ekstasen, ob in Verbrennung oder Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. Wer rascher lebt, lebt nicht kürzer, wer einheitlich lebt, nicht minder vielfältig. Für ein Werk, das nur Typen schildern will, die reinen Elemente auflösen, sind solche Monomanen allein wichtig. Flaue Menschen interessieren Balzac nicht, nur solche, die etwas ganz sind, die mit allen Nerven, mit allen Muskeln, mit allen Gedanken an einer Illusion des Lebens hängen, sei es, an was immer auch, an der Liebe, der Kunst, dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der Trägheit, der Politik, der Freundschaft. An irgendeinem beliebigen Symbol, aber an diesem ganz. Diese hommes à passion, diese Fanatiker einer selbstgeschaffenen Religion, sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Sie sprechen verschiedene Sprachen untereinander und verstehen sich nicht. Biete dem Sammler eine Frau, die schönste der Welt – er wird sie nicht bemerken; dem Liebenden eine Karriere – er wird sie mißachten; dem Geizigen etwas anderes als Geld – er wird nicht aufschauen von seiner Truhe. Läßt er sich aber verlocken, verläßt er die eine geliebte Leidenschaft um der anderen willen, so ist er verloren. Denn Muskeln, die man nicht gebraucht, zerfallen, Sehnen, die man jahrelang nicht gespannt, verknöchern, und wer zeitlebens Virtuose einer einzigen Leidenschaft war, Athlet eines einzigen Gefühls, ist Stümper und Schwächling auf jedem anderen Gebiet. Jedes zur Monomanie aufgepeitschte Gefühl vergewaltigt die anderen, gräbt ihnen das Wasser ab und läßt sie vertrocknen: aber ihre Reizwerte saugt es in sich. Alle Graduationen und Peripetien der Liebe, Eifersucht und Trauer, Erschöpfung und Ekstase, sind bei dem Geizigen in der Sparsucht, beim Sammler in der Sammelwut gespiegelt, denn jede absolute Vollkommenheit vereinigt die Summe der Gefühlsmöglichkeiten. Die Intensität der Einseitigkeit hat in ihren Emotionen die ganze Vielfalt der vernachlässigten Begehrungen. Hier setzen die großen Tragödien Balzacs ein. Der Geldmensch Nucingen, der Millionen gesammelt hat, an Klugheit überlegen allen Bankiers des Kaiserreichs, wird ein läppisches Kind in den Händen einer Dirne, der Dichter, der sich dem Journalismus hinwirft, wird zerrieben wie ein Korn unter dem Mühlstein. Ein Traumbild der Welt, ein jedes Symbol ist eifersüchtig wie Jehova und duldet keine anderen Leidenschaften neben sich. Und von diesen Leidenschaften ist keine größer und keine geringer, sie haben ebensowenig eine Rangordnung wie Landschaften oder Träume. Keine ist zu gering. »Warum sollte man nicht die Tragödie der Dummheit schreiben?« sagt Balzac, »die der Verschämtheit, die der Ängstlichkeit, die der Langeweile?« Auch sie sind bewegende, treibende Kräfte, auch sie bedeutsam, insofern sie nur genugsam intensiv sind, selbst die ärmlichste Lebenslinie hat Schwung und Schönheitsgewalt, sobald sie ungebrochen gerade fortstrebt oder ihr Schicksal ganz umkreist. Und diese Urkräfte – oder besser, diese tausend Proteusformen der wirklichen Urkraft – aus der Brust der Menschen zu reißen, sie zu heizen durch den Druck der Atmosphäre, sie peitschen zu lassen durch das Gefühl, sie zu berauschen an den Elixieren des Hasses und der Liebe, sie rasen zu lassen im Rausche, am Prellstein des Zufalls die einen zu zerschmettern, sie zusammenzupressen und auseinanderzureißen, Verbindungen herzustellen, Brücken zu schlagen zwischen den Träumen, zwischen dem Geizigen und dem Sammler, dem Ehrsüchtigen und dem Erotiker, rastlos das Parallelogramm der Kräfte zu verschieben, in jedem Schicksal den drohenden Abgrund von Wellenberg und Wellental aufzureißen, sie zu schleudern von unten nach oben und von oben nach unten, die Menschen wie Sklaven zu hetzen, nie sie ruhen zu lassen, sie zu schleppen wie Napoleon seine Soldaten durch alle Länder von Österreich wieder in die Vendée, über das Meer wieder nach Ägypten und nach Rom, durch das Brandenburger Tor und wieder vor den Abhang der Alhambra, über Sieg und Niederlage nach Moskau schließlich – die Hälfte unterwegs liegen zu lassen, zerschmettert von den Granaten oder unter dem Schnee der Steppen – die ganze Welt zuerst zu schnitzen wie Figuren, zu malen wie eine Landschaft und dann das Puppenspiel mit erregten Fingern zu beherrschen – das war seine, das war Balzacs Monomanie.

 

Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen, wie er sie in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht, in allen seinen Träumen zurückgestoßen von einer rücksichtslosen Welt, die den Anfänger nicht mag und den Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich selbst ein Symbol der Welt. Eine Welt, die ihm gehörte, die er beherrschte und die mit ihm zugrunde ging. Wirkliches stürzte an ihm vorbei, und er griff nicht danach, er lebte eingeschlossen in seinem Zimmer, festgenagelt an den Schreibtisch, lebte in dem Wald seiner Gestalten, wie Elie Magus, der Sammler, zwischen seinen Bildern. Von seinem fünfundzwanzigsten Jahre an hat ihn die Wirklichkeit kaum – nur in Ausnahmen, die dann immer zu Tragödien wurden – anders interessiert als ein Material, als Brennstoff, um das Schwungrad seiner eigenen Welt zu treiben. Fast bewußt lebte er am Lebendigen vorbei, wie im ängstlichen Gefühle, daß eine Berührung dieser beiden Welten, der seinen und der der anderen, immer eine schmerzhafte werden müßte. Abends um acht Uhr ging er ermattet zu Bette, schlief vier Stunden und ließ sich um Mitternacht wecken; wenn Paris, die laute Umwelt, ihr glühendes Auge schloß, wenn Dunkel über das Rauschen der Gassen fiel, die Welt entschwand, begann die seine zu erstehen, und er baute sie auf, neben der anderen, aus ihren eigenen zerstückten Elementen, lebte durch Stunden einer fiebernden Ekstase, unablässig die ermattenden Sinne mit schwarzem Kaffee wieder aufpeitschend. So arbeitete er zehn, zwölf, manchmal auch achtzehn Stunden, bis ihn irgend etwas aufriß aus dieser Welt, zurück in die eigene Wirklichkeit. In diesen Sekunden des Erwachens muß er jenen Blick gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses Aufgeschrecktsein aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen in eine vergessene Wirklichkeit, diesen entsetzlich grandiosen, fast schreienden Blick, diese um die fröstelnde Schulter das Kleid anstraffende Hand, die Gebärde eines vom Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand roh seinen Namen zugeschrien. Bei keinem Dichter ist die Intensität des Sichverlierens in sein Werk, der Glaube an die eigenen Träume stärker gewesen, die Halluzination so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht immer wußte er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das ungeheure kreisende Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein und Wirklichkeit zu unterscheiden, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dieser und jener Welt. Ein ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er im Rausch der Arbeit an die Existenz seiner Gestalten glaubte, ein Buch mit oft drolligen und meist ein wenig grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt ins Zimmer. Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: »Denk dir, die Unglückliche hat sich ermordet!« und merkt erst an dem entsetzten Zurückprallen seines Freundes, daß die Gestalt, von der er sprach, die Eugénie Grandet, nur in seinen Sternenkreisen je gelebt. Und was diese so andauernde, so intensive, so vollständige Halluzination von dem pathologischen Wahn eines Tollhäuslers unterscheidet, ist vielleicht nur die Identität der in dem äußeren Leben und in dieser neuen Wirklichkeit bestehenden Gesetze. Aber an Dauerhaftigkeit, an Zähigkeit und Abgeschlossenheit des Wahns war diese Versenkung die eines perfekten Monomanen, seine Arbeit war nicht Fleiß mehr, sondern Fieber, Rausch, Traum und Ekstase. Ein Palliativmittel der Bezauberung war sie, ein Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger vergessen lassen sollte. Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als ein Mittel zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil er sie ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls, Liebe, Ehrsucht, Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm und Siege konnte er missen, weil er siebenfaches Surrogat in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht wie Kinder. Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit nicht unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein, gleichviel mit Erlebnis oder Traum. Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte. Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den Genüssen seiner Kreaturen. Denn er war es ja, der jetzt die zehn Louis hinwarf auf den Spieltisch, zitternd stand, während die Roulette sich drehte, der jetzt die klingende Flut der Gewinste mit heißen Fingern einstrich, er war es, der jetzt im Theater den großen Sieg erfocht, der jetzt mit Brigaden die Höhen stürmte, mit Pulverminen die Börse in ihren Grundfesten erbeben ließ; alle die Lüste seiner Kreaturen gehörten ja ihm, sie waren die Ekstasen, in denen sein äußerlich so armes Leben sich verzehrte. Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer, mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen, um sich Geld auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner Angel, deren Schmerz, Lust und Qual er nur prüfend mitansah als das mehr oder minder talentvolle Sichgebärden von Schauspielern. Und sein Herz spricht unter dem schmutzigen Kittel Gobsecs: »Glauben Sie, daß es nichts bedeutet, wenn man so in die verborgensten Falten des menschlichen Herzens eindringt, wenn man so tief darin eindringt und es in seiner Nacktheit vor sich hat?« Denn er, der Zauberer des Willens, schmolz Traum zu Leben um. Man erzählt von ihm, daß er in seiner Jugend, als er in seiner Mansarde trockenes Brot, seine ärmliche Mahlzeit, verzehrte, sich auf den Tisch mit Kreide die Randspur von Tellern gezeichnet habe und in ihre Mitte die Namen der erlesensten Lieblingsgerichte geschrieben, um so im trockenen Brot nur durch die Suggestion des Willens den Geschmack der verschwenderischesten Speisen zu spüren. Und so wie er hier den Geschmack zu schmecken meinte, wie er ihn wirklich schmeckte, so hat er sicherlich alle Reize des Lebens in den Elixieren seiner Bücher unbändig in sich getrunken, so eigene Armut betrogen mit dem Reichtum und der Verschwendung seiner Knechte. Er, der ewig von Schulden Gehetzte, von Gläubigern Gequälte, empfand sicherlich einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er hinschrieb: Hunderttausend Francs Rente. Er war es, der in den Bildern von Elie Magus wühlte, der diese beiden Gräfinnen liebte als ihr Vater Goriot, der gipfelhoch mit Seraphitus über die niegesehenen Fjorde Norwegens aufstieg, der mit Rubempré die bewundernden Blicke der Frauen genoß, er, er selbst war es, für den er aus all diesen Menschen die Lust wie Lava aufschießen ließ, denen er Glück und Schmerz aus den hellen und dunklen Kräutern der Erde braute. Kein Dichter war je mehr Mitgenießer seiner Gestalten. Gerade an jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten Reichtums schildert, spürt man stärker als in den erotischen Abenteuern den Rausch des Selbstbezauberten, die Haschischträume des Einsamen. Das ist seine innerste Leidenschaft, dieses Auf- und Abströmen von Zahlen, dieses gierige Gewinnen und Zerrinnen von Summen, dieses Schleudern von Kapitalien von Hand zu Hand, das Schwellen der Bilanzen, der Wettersturz der Werte, diese Stürze und Aufstiege ins Grenzenlose. Millionen läßt er wie Ungewitter über Bettler hereinbrechen, Kapitale wieder in weichen Händen wie Quecksilber zerrinnen, mit Wollust malt er die Paläste der Faubourgs, die Magie des Geldes. Die Worte Millionen, Milliarden, das ist immer hingestammelt mit jenem ohnmächtigen Nicht-mehr-sprechen-Können, dem Röcheln letzten sinnlichen Begehrens. Voluptuös wie die Frauen eines Serails sind die Prunkstücke der Gemächer gereiht, wie wertvolle Kronjuwelen die Insignien der Macht ausgebreitet. Bis in seine Manuskripte hat sich dieses Fieber eingebrannt. Man kann sehen, wie die anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen gleich den Adern eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher werden, wie sie rasend sich überhetzen, befleckt von den Spuren des Kaffees, mit dem er die ermatteten Nerven vorwärtspeitschte, hört fast das rastlose, ratternde Keuchen der überhitzten Maschine, den fanatischen, maniakalischen Krampf ihres Schöpfers, diese Gier des Don Juan du verbe, des Menschen, der alles besitzen will und alles haben. Und sieht den nochmaligen impetuosen Ausbruch des ewig Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren starres Gefüge er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde, um noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch den schon starren, erkalteten Körper zu jagen.

 

Solche titanische Arbeit bliebe unverständlich, wäre sie nicht Wollust gewesen und noch mehr: der einzige Lebenswille eines asketisch allen anderen Machtformen entsagenden Menschen, eines Leidenschaftlichen, dem die Kunst die einzige Möglichkeit der Entäußerung war. Einmal, zweimal hatte er ja flüchtig in anderem Material geträumt. Er hatte sich im praktischen Leben versucht, zum erstenmal, als er, verzweifelnd am Schaffen, die wirkliche Geldgewalt wollte, Spekulant wurde, eine Druckerei gründete und eine Zeitung; aber mit jener Ironie, die das Schicksal immer für Abtrünnige bereit hat, hat er, der in seinen Büchern alles kannte, die Coups der Börsenleute, die Raffinements der kleinen und der großen Geschäfte, die Schliche der Wucherer, der jedem Ding seinen Wert wußte, der Hunderten von Menschen in seinen Werken die Existenz errichtet, ein Vermögen mit richtigem, logischem Aufbau gewonnen hatte, er selbst, der Grandet, Popinot, Grevel, Goriot, Bridau, Nucingen, Wehrbrust und Gobsec reich gemacht hat, er selbst hat sein Kapital verloren, ist schmählich zugrunde gegangen, und nichts blieb ihm als jenes furchtbare Bleigewicht von Schulden, die er dann stöhnend auf seinen breiten Lastträgerschultern das halbe Jahrhundert seines Lebens weiterschleppte, Helote der unerhörtesten Arbeit, unter der er eines Tages mit zersprengten Adern lautlos zusammenbrach. Die Eifersucht der verlassenen Leidenschaft, der einzigen, der er sich hingegeben hatte, der Kunst, hat sich furchtbar an ihm gerächt. Selbst die Liebe, den andern ein wunderbarer Traum über ein Erlebtes und Wirkliches, wurde bei ihm erst Erlebnis aus einem Traum. Frau von Hanska, seine spätere Gattin, die étrangère, der jene berühmten Briefe galten, war von ihm leidenschaftlich schon geliebt, ehe er in ihre Augen gesehen, war damals schon geliebt von ihm, als sie noch Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d'or, wie die Delphine und die Eugénie Grandet. Für den wahrhaften Schriftsteller ist jede andere Leidenschaft als die des Schaffens, des Erträumens eine Abirrung. »L'homme des lettres doit s'abstenir des femmes, elles font perdre son temps, on doit se borner à leur écrire, cela forme le style«, sagte er zu Théophile Gautier. Im innersten liebte er auch nicht Frau von Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange mit Illusionen, spielte so lange in Bildern und Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten, selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat er dieser Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren Verbrennungsprozeß so lange beschleunigt, bis die Flamme aufschlug und nach außen brach, bis er zugrunde ging. Mit jedem neuen Buch schrumpfte, wie die magische Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so betätigten Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag seiner Monomanie wie der Spieler den Karten, der Trinker den Weinen, der Haschischträumer der verhängnisvollen Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.

 

Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen kolossalischer Wille, der Träume so mit Blut und Lebendigkeit erfüllte, in seiner eigenen Magie das Geheimnis des Lebens sah und sich selbst zum Weltgesetz erhob. Eine eigentliche Philosophie konnte der nicht haben, der nichts von sich verriet, vielleicht nichts mehr war als ein Wandelhaftes, der keine Gestalt hatte wie Proteus, weil er alle in sich verkörperte, der wie ein Derwisch, ein flüchtiger Geist, in die Körper von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich verlor in den Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist, jetzt Altruist, jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen und Werte in sich ein- und ausschalten konnte wie elektrische Ströme. Wahrhaft und unabänderlich mußte ihm nur der ungeheure Wille sein, dieses Zauberwort Sesam, das ihm, dem Fremden, die Felsen vor der unbekannten Menschenbrust aufsprengte, ihn hinabführte in die finsteren Abgründe ihres Gefühls und ihn von dort, beladen mit dem Edelsten ihres Erlebens, wieder aufsteigen ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein, dem Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende Gewalt zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und Weltgebot zu empfinden. Ihm war bewußt, daß der Wille, dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem Napoleon, die Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob, Millionen Schicksale verwirrte, daß dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen nach außen sich auch im Materiellen manifestieren müßte, die Physiognomie modellieren, einströmen in die Physis des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane Erregung bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale und selbst stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert, um wieviel mehr mußte ein andauernder Wille, eine chronische Leidenschaft das Material der Züge herausmeißeln. Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so wie der Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze Kultur zu erkennen hat, so schien es ihm Erfordernis des Dichters, aus einem Antlitz und aus der um einen Menschen lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu erkennen. Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls lieben, seine Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten, ließ ihn Lavater studieren, der ebenfalls im Gesichte nichts anderes sah als den Fleisch und Bein gewordenen Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter. Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung des Innerlichen und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht. Er glaubte an Mesmers Lehre der magnetischen Übertragung des Willens von einem Medium in das andere, verkettete diese Anschauung mit den mystischen Vergeistigungen Svedenborgs, und all diese nicht ganz zur Theorie verdichteten Liebhabereien faßte er in der Lehre seines Lieblings, des Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen Gestalt eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht nach innerer Vollendung sonderbar vereint. Ihm war jedes Gesicht eine zu enträtselnde Scharade. Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber noch nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß nur das Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste Sehnsucht war, zu sein wie jene, die mit konzentrierten Kräften nicht nur das Momentane, sondern auch aus den Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der Chiromanten, der Wahrsager, der Steller von Horoskopen, der »voyants«, all derer, die, mit dem tieferen Blick der »seconde vue« begabt, das Innerlichste aus dem Äußerlichen, das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu erkennen sich erboten, die aus den dünnen Streifen der Handfläche den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick ist nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee der Konzentrierung ist bei Balzac in ewiger Wiederkehr – in sich aufgespart einem einzigen Ziele entgegenwendet. Die Gabe der »seconde vue« ist nicht nur die des Zauberers und Sehers allein; »seconde vue«, spontane visionäre Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter gegenüber ihren Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines Kranken sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den großen Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben ihre Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks, der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht, wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet. Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen und dem langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der der landläufige Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders, der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der von Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens vom Leben, sondern eines Beschenkens und Bereicherns.

 

Denn Balzac – und dies schwebt wie eine undurchdringliche Wolke von Geheimnis um seine Gestalt – hat in den Jahren seines Schaffens nicht mehr studiert und experimentiert, nicht mehr das Leben beobachtet wie etwa Zola, der sich, ehe er einen Roman schrieb, ein Bordereau für jede einzelne Figur anlegte, nicht wie Flaubert, der Bibliotheken durchstöberte für ein fingerschmales Buch. Balzac kam selten wieder zurück in jene Welt, die außer der seinen lag, er war eingeschlossen in seine Halluzination wie in ein Gefängnis, angenagelt an den Marterstuhl der Arbeit, und was er mitbrachte, wenn er einen jener flüchtigen Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn er ging, mit seinem Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen in eine Druckerei zu bringen, bei einem Freunde zu speisen, oder die Bric-à-brac-Läden von Paris zu durchstöbern, war immer eher Bestätigung als Informierung. Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf irgendeine geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen Lebens in ihn eingedrungen, lag gesammelt und aufgespeichert, und es ist vielleicht mit der fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur, wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen Berufsklassen, Materien, Temperamenten und Phänomenen herbeigeholten Vorräte von Kenntnissen in ihn eingewachsen sind. Drei, vier Jahre, Jünglingsjahre, war er in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als Schreiber, dann als Verleger, als Student, aber in diesen paar Jahren muß er alles eingeschöpft haben, diese ganz unerklärliche, unübersehbare Fülle von Tatsachen, die Kenntnis aller Charaktere und Phänomene. Er muß unglaublich beobachtet haben in diesen Jahren. Sein Blick muß ein furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger, der alles, was ihm begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein Inneres, ein Gedächtnis, wo nichts vergilbte, nichts zerrann, nichts sich mischte oder verdarb, wo alles geordnet, gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach seiner wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend, sobald er nur leise mit seinem Willen und Wunsche daran rührte. Alles hat Balzac gewußt, die Prozesse, die Schlachten, die Börsenmanöver, die Grundstückspekulationen, die Geheimnisse der Chemie, die Schliche der Parfumeure, die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der Theologen, den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters und jener anderen Bühne, der Politik. Er hat die Provinz gekannt, Paris und die Welt, er, der connaisseur en flânerie, las wie in einem Buch in den krausen Zügen der Straßen, wußte bei jedem Hause, wann es gebaut war und von wem und für wen, enträtselte die Heraldik des Wappens über der Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und wußte gleichzeitig den Preis der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk mit Menschen, stellte Möbel in die Zimmer, füllte sie an mit einer Atmosphäre von Glück und Unglück und ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten Stockwerk das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen. Er hat eine enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel ein Bild des Palma Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar Weideland kostet, was eine Spitzenmasche, was ein Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der Elegants gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem Jahr zwanzigtausend Francs anbringen; und schlägt man zwei Seiten weiter, so ist es wieder die Existenz eines armseligen Rentiers, in dessen peinlich ausgetüfteltem Leben ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene Fensterscheibe zur Katastrophe wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist er unter den ganz Armen, er geht ihnen nach, wie jeder seine paar Sous verdient, der arme Auvergnate, der Wasserträger, dessen Sehnsucht es ist, das Faß nicht selbst ziehen zu müssen, sondern ein kleines, kleines Pferd zu haben, der Student und die Näherin, alle diese fast vegetabilischen Existenzen der Großstadt. Tausend Landschaften stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen nach Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumen wachsen lassen, und sie waren wie die Wirklichkeit. Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm auf, alles fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck reißt er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht, daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie mit Pulver sprengt er die goldenen Minen des Lebens auf. Und zugleich mit diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig über ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand.

 

Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist das Genie Balzacs. Was man dann noch den Künstler nennt, den Verteiler der Kräfte, den Ordner und Gestalter, den Zusammenhaltenden und Lösenden, den spürt man nicht so deutlich bei Balzac. Man wäre versucht zu sagen, er war gar nicht das, was man Künstler nennt, so sehr war er Genie. »Une telle force n'a pas besoin d'art.« Das Wort gilt auch von ihm. Denn wirklich, hier ist eine Kraft, so grandios und so groß, daß sie wie die freiesten Tiere des Urwaldes der Zähmung widerstrebt, sie ist schön wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein Gewitter, wie alle jene Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der Intensität ihres Ausdrucks besteht. Ihre Schönheit bedarf nicht der Symmetrie, der Dekoration, der nachhelfenden, sorglichen Verteilung, sie wirkt durch die ungezügelte Vielfalt ihrer Kräfte. Balzac hat seine Romane nie genau komponiert, er hat sich in ihnen verloren wie in einer Leidenschaft, in den Schilderungen, im Wort gewühlt wie in Stoffen oder nacktem blühendem Fleisch. Er reißt Gestalten auf, hebt sie von allen Ständen, Familien, von allen Provinzen Frankreichs aus, wie Napoleon seine Soldaten, teilt sie in Brigaden, macht den einen zum Reiter, stellt den anderen zu den Kanonen und den dritten zum Train, schüttet Pulver auf die Pfannen ihrer Gewehre und überläßt sie dann ihrer inneren ungebändigten Kraft. Die »Comédie humaine« hat trotz der schönen – aber nachträglichen! – Vorrede keinen inneren Plan. Sie ist planlos, wie das Leben ihm selbst planlos erschien, sie zielt nicht auf eine Moral hin und nicht auf eine Übersicht, sie will als Wandelndes das ewig sich Wandelnde zeigen; in all diesem Ebben und Fluten ist keine dauernde Kraft, sondern nur jene unkörperliche, wie aus Wolken und Licht gewebte Atmosphäre, die man Epoche nennt. Dieses neuen Kosmos einziges Gesetz wäre, daß alle die Menschen, deren unbeständige Vereinung erst die Epoche ausmacht, ebenso von der Epoche geschaffen werden, daß ihre Moral, ihre Gefühle ebenso Produkte sind wie sie selbst. Daß, was in Paris Tugend genannt wird, hinter den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte vorhanden seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt so werten müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt: daß sie immer wert sei, was sie ihn koste. Aufgabe des Dichters, dem – schon weil er selbst nur Produkt, Kreatur seiner Zeit ist – versagt ist, das Bleibende aus diesem Wandel zu gewinnen, kann nur sein, den atmosphärischen Druck, den geistigen Zustand seiner Epoche zu schildern, das Wechselspiel der gemeinsamen Kräfte. Meteorologe der sozialen Luftströmungen, Mathematiker des Willens, Chemiker der Leidenschaften, Geologe der nationalen Urformen – ein vielfältiger Gelehrter zu sein, der mit allen Instrumenten den Körper seiner Zeit durchdringt und behorcht, und gleichzeitig ein Sammler aller Tatsachen, ein Maler ihrer Landschaften, ein Soldat ihrer Ideen, das zu sein ist Balzacs Ehrgeiz, und darum war er so unermüdlich im Verzeichnen ebenso der grandiosen wie der infinitesimalen Dinge. Und so ist sein Werk nach dem Dauerwort Taines das größte Magazin menschlicher Dokumente seit Shakespeare geworden. Balzac will nicht am Einzelwerk gemessen werden, sondern am Ganzen, will betrachtet sein wie eine Landschaft mit Berg und Tal, unbegrenzter Ferne, verräterischen Klüften und raschen Strömen. Mit ihm beginnt – man könnte fast sagen, hört auch auf, wäre nicht Dostojewski gekommen – der Gedanke des Romans als Enzyklopädie der inneren Welt. Die Dichter vor ihm wußten nur zweierlei, um den schläfrigen Motor der Handlung nach vorne zu treiben: sie statuierten entweder den von außen wirkenden Zufall, der wie ein scharfer Wind sich in die Segel legte und das Fahrzeug nach vorne trieb, oder sie wählten als die von innen treibende Kraft einzig den erotischen Trieb, die Peripetien der Liebe. Balzac nun hat eine Transponierung des Erotischen vorgenommen. Für ihn gab es zweierlei Begehrende (und wie gesagt, nur die Begehrenden, die Ambitiösen haben ihn interessiert): die Erotiker im eigentlichen Sinne, ein paar Männer also und fast alle Frauen, deren Sternbild einzig die Liebe ist, die unter ihm geboren werden und zugrunde gehen. Daß aber alle diese in der Erotik ausgelösten Kräfte nicht die einzigen seien, daß die Peripetien der Leidenschaft auch bei anderen Menschen nicht um ein Gran vermindert und, ohne daß die treibende Urkraft zerstäube oder zersplittere, in anderen Formen, in anderen Symbolen erhalten seien, durch diese tätige Erkenntnis hat der Roman Balzacs eine ungeheuerliche Vielfalt gewonnen.

 

Aber noch aus einer zweiten Quelle hat Balzac ihn mit Wirklichkeit gespeist: er hat das Geld in den Roman gebracht. Er, der keine absoluten Werte anerkannte, beobachtete als Statistiker des Relativen genau die äußeren, die moralischen, politischen, ästhetischen Werte der Dinge und vor allem jenen allgemein gültigen Wert der Objekte, der sich in unseren Tagen fast dem absoluten nähert: den Geldwert. Seit die Vorrechte der Aristokratie gefallen sind, seit der Nivellierung der Unterschiede ist das Geld zum Blute, zur treibenden Kraft des sozialen Lebens geworden. Jedes Ding ist durch seinen Wert, jede Leidenschaft durch ihre materiellen Opfer, jeder Mensch durch sein äußeres Einkommen bestimmt. Zahlen sind die Gradmesser für gewisse atmosphärische Zustände des Gewissens, die Balzac zu erforschen sich zur Aufgabe gesetzt hat. Und Geld kreist in seinen Romanen. Nicht nur das Anwachsen und Hinstürzen der großen Vermögen, die wilden Spekulationen der Börse sind geschildert, nicht nur die großen Schlachten, in denen ebensoviel Energie verausgabt wird wie bei Leipzig und Waterloo, nicht nur diese zwanzig Typen der Gelderraffer aus Geiz, Haß, Verschwendungslust, Ambition, nicht nur jene Menschen, die das Geld um des Geldes willen lieben, und die, welche es um des Symbols willen lieben, und die wieder, denen es nur Mittel zu ihren Zwecken ist, sondern Balzac hat als der Erste und Kühnste an tausend Beispielen gezeigt, wie das Geld selbst in die edelsten, feinsten und immateriellsten Empfindungen eingesickert ist. Alle seine Menschen rechnen, wie wir es unwillkürlich im Leben tun. Seine Anfänger, die nach Paris kommen, wissen rasch, was ein Besuch der guten Gesellschaft kostet, eine elegante Gewandung, blanke Schuhe, ein neuer Wagen, eine Wohnung, ein Diener, tausend Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, die alle bezahlt und erlernt sein wollen. Sie kennen die Katastrophen, verachtet zu werden um einer unmodischen Weste willen, sie haben bald heraus, daß nur Geld oder der Schein des Geldes die Türen sprengt, und aus diesen kleinen unablässigen Demütigungen wachsen dann die großen Leidenschaften und die zähe Ambition. Und Balzac geht mit ihnen. Er rechnet den Verschwendern ihre Ausgaben nach, den Wucherern ihre Prozente, den Kaufleuten ihre Verdienste, den Dandys ihre Schulden, den Politikern ihre Bestechungen. Die Summen sind die Gradziffern der aufsteigenden Unruhegefühle, der Barometerdruck der nahenden Katastrophen. Da Geld der materielle Niederschlag des universellen Ehrgeizes war, da es eindrang in alle Gefühle, so mußte er, der Pathologe des sozialen Lebens, um die Krisen des kranken Leibes zu erkennen, die Mikroskopie des Blutes unternehmen, den Geldgehalt desselben gewissermaßen feststellen. Denn aller Leben ist damit gesättigt, es ist Sauerstoff für die gehetzten Lungen, keiner kann es entbehren, der Ehrgeiz nicht für seinen Ehrgeiz, der Liebende nicht für sein Glück und am wenigsten der Künstler, das hat er selbst am besten gewußt, auf dessen Schultern die Schuld von hunderttausend Francs sich türmte, dieses furchtbare Gewicht, das er oft flüchtig – in der Ekstase der Arbeit – wegschleuderte von seinen Schultern und das schließlich zerschmetternd auf ihn niederfiel.

 

Unübersehbar ist sein Werk. In den achtzig Bänden steht eine Zeit, eine Welt, eine Generation. Nie vorher ist bewußt ein so Gewaltiges versucht worden, nie wurde die Vermessenheit eines übergroßen Willens besser belohnt. Den Genießenden, den Ausruhenden, die am Abend, aus ihrer engen Welt flüchtend, neue Bilder und neue Menschen wollen, ist Erregung und ein wandelnd Spiel gegeben, den Dramatikern Stoff für hundert Tragödien, den Gelehrten – lässig hingeworfen wie Brocken vom Tisch eines Übersättigten – eine Fülle von Problemen und Anregungen, den Liebenden eine geradezu vorbildliche Glut der Ekstase. Am gewaltigsten aber ist die Erbschaft für die Dichter. In dem Entwurf der »Comédie humaine« stehen nebst den vollendeten noch vierzig unvollendete, ungeschriebene Romane, Moskau heißt der eine, jener die Ebene von Wagram, ein anderer gilt dem Kampf um Wien und wieder einer dem Leben der Passion. Fast ist es ein Glück, daß nicht alle diese zu Ende gelangt sind. Balzac hat einmal gesagt: »Genie ist derjenige, der jederzeit seine Gedanken in Tat umsetzen kann. Aber das ganz große Genie entfaltet nicht unablässig diese Tätigkeit, sonst würde es Gott zu sehr gleichen.« Denn hätte er alle diese vollenden dürfen, den Kreis der Leidenschaften und Geschehnisse ganz in sich zurückführen, sein Werk wäre ins Unbegreifliche gewachsen. Es wäre ein Ungeheures geworden, eine Abschreckung für alle Späteren durch seine Unerreichbarkeit, während es so – ein Torso ohnegleichen – die ungeheuerste Aneiferung, das grandioseste Beispiel ist für jeden schöpferischen Willen zum Unerreichbaren.

 

Dickens

 

Nein, man soll nicht Bücher und Biographen befragen, wie sehr Charles Dickens von seinen Zeitgenossen geliebt worden ist. Liebe lebt atmend nur im gesprochenen Wort. Man muß es sich erzählen lassen, am besten von einem Engländer, der mit seinen Jugenderinnerungen noch zurückreicht bis an jene Zeit der ersten Erfolge, von einem derer, die sich noch immer nicht nach nun fünfzig Jahren entschließen können, den Dichter des »Pickwick« Charles Dickens zu nennen, sondern ihm unentwegt seinen alten vertraulicheren, innigeren Necknamen »Boz« geben. An ihrer wehmütig rücksinnenden Rührung kann man den Enthusiasmus der Tausende messen, die damals mit ungestümem Entzücken jene blauen, monatlichen Romanhefte empfangen hatten, die heute, ein Rarissimum für den Bibliophilen, in Fächern und Schränken gilben. Damals – so erzählte mir einer dieser »old Dickensians« – konnten sie es am Posttage niemals über sich bringen, den Boten zu Hause abzuwarten, der endlich, endlich das neue blaue Heft von Boz im Bündel trug. Einen ganzen Monat hatten sie danach gehungert, hatten geharrt, gehofft, gestritten, ob Copperfield die Dora heiraten werde oder die Agnes, hatten sich gefreut, daß Micawbers Verhältnisse wieder zu einer Krisis gelangt waren – wußten sie doch, er werde sie mit heißem Punsch und guter Laune heroisch überwinden! –, und nun sollten sie noch warten, warten, bis der Postbote auf der schläfrigen Kutsche kam und ihnen all diese heiteren Scharaden auflöste? Das konnten sie nicht, es ging einfach nicht. Und alle, die Alten wie die Jungen, wanderten Jahr für Jahr am fälligen Tage dem Briefboten zwei Meilen entgegen, nur um ihr Buch früher zu haben. Im Heimwandern schon fingen sie an zu lesen, einer guckte dem andern über die Schulter ins Blatt, andere lasen laut vor, und nur die Gutmütigsten liefen mit langen Beinen zurück, um die Beute rascher zu Frau und Kind zu bringen. So wie dieses Städtchen hat damals jedes Dorf, jede Stadt, das ganze Land und darüber hinaus die in allen Erdteilen gesiedelte englische Welt Charles Dickens geliebt; hat ihn geliebt von der ersten Stunde der Begegnung bis zur letzten seines Lebens. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es irgendwo ein ähnlich unwandelbares herzliches Verhältnis zwischen einem Dichter und seiner Nation gegeben. Wie eine Rakete schoß dieser Ruhm auf, aber er losch nie aus, er blieb wie eine Sonne wandellos leuchtend über der Welt. Vom ersten Heft der »Pickwickier« wurden 400 Exemplare gedruckt, vom fünfzehnten bereits 40 000: mit solcher Lawinenmacht stürzte sein Ruhm nieder in seine Zeit. Nach Deutschland bahnte er sich schnell den Weg, Hunderte und Tausende kleiner Groschenhefte säten Lachen und Freude in die Furchen selbst der verwittertsten Herzen; nach Amerika, Australien und Kanada wanderte der kleine Nikolaus Nickleby, der arme Oliver Twist und die tausend anderen Gestalten dieses Unerschöpflichen. Heute sind schon Millionen Bücher von Dickens im Umlauf, große, kleine, dicke und dünne Bände, billige Ausgaben für die Armen und die teuerste Ausgabe drüben in Amerika, die je von einem Dichter veranstaltet worden ist (dreimalhunderttausend Mark, glaube ich, kostet sie: diese Ausgabe für Milliardäre), aber in all den Büchern nistet heute wie damals noch immer das selige Lachen, um aufzuflattern wie ein zwitschernder Vogel, sobald man die ersten Blätter gewendet hat. Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors gewesen: wenn sie sich im Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in Auge entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver Twists und die Geschichte der kleinen Neil. Launenlos war dieser Ruhm, er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das Genie Thackerays; und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt in all den Jahren. Heute wie damals in jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.

 

Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts, dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik, der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische. Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche im Engländer haßten. Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die englische Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste, weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor den gefährlichen Stürmen des Lebens, heiter, freundlich und gastlich, ein echtes »home« mit allem Kaminfeuer bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis für den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten ist. Dickens hat sich behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille seiner Nation: und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir gleichzeitig immer mit England.

 

Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das viktorianische Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare war der Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England. 1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen können, wird es dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das morsche Gebälk der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein paar in England wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt den alten sausenden Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi: die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt. Behaglich verschmaust England die noch blutige Beute; der Bourgeois, der Kaufmann, der Makler ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem Faulbett. England verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen konnte, mußte digestiv sein, sie durfte nicht stören, nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur streicheln und krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht tragisch. Man wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz spaltet, den Atem zerschneidet, das Blut einfrieren läßt – zu gut kannte man das vom wirklichen Leben, als die Gazetten aus Frankreich und Rußland kamen –, nur das Gruseln wollte man, das Schnurren und Spielen, das unablässig den farbigen Knäuel der Geschichten hin und her rollt. Kaminkunst wollten die Leute von damals, Bücher, die sich behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt, am Kamin lesen und die selbst so züngeln und knacken mit vielen kleinen ungefährlichen Flammen, eine Kunst, die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die es freudig und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger von vorgestern geworden – sie, die nur behalten möchten und bewahren, nichts mehr wagen und wandeln –, daß sie Angst haben vor ihrem eigenen starken Gefühl. In den Büchern wie im Leben wünschen sie nur wohltemperierte Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer nur normale Gefühle, die sittsam promenieren. Glück wird in England damals identisch mit Beschaulichkeit, Ästhetik mit Sittsamkeit, und Sinnlichkeit wiederum mit Prüderie, Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe mit Ehe. Alle Lebenswerte werden blutarm. England ist zufrieden und will keinen Wandel. Eine Kunst, die eine so satte Nation anerkennen kann, muß darum selbst irgendwie zufrieden sein, das Bestehende loben und nicht darüber hinaus wollen. Und dieser Wille nach einer behaglichen, freundlichen, einer digestiven Kunst findet sein Genie, wie einst das elisabethanische England seinen Shakespeare. Dickens ist das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des damaligen England. Daß er im richtigen Augenblicke kam, schuf seinen Ruhm; daß er von diesem Bedürfnis überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist genährt von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit des satten England: und stände nicht eine so außerordentliche dichterische Kraft hinter seinem Werke, täuschte nicht sein glitzernder, goldfunkelnder Humor hinweg über die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur Wert in jener englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende von Romanen, die jenseits des Ärmelkanals von fingerfertigen Leuten produziert werden. Erst wenn man aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen Kultur haßt, kann man das Genie eines Menschen mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant und fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens zu Poesie erlöste.

 

Dickens hat selbst nie gegen dieses England angekämpft. Aber in der Tiefe – unten im Unbewußten – war das Ringen des Künstlers in ihm mit dem Engländer. Er ist ursprünglich stark und sicher ausgeschritten, nach und nach aber in dem weichen, halb zähen, halb nachgiebigen Sand seiner Zeit müde geworden und immer öfter und öfter schließlich in die alten, breitgestapften Fußspuren der Tradition getreten. Dickens ist überwältigt worden von seiner Zeit, und ich muß bei seinem Schicksal immer an das Abenteuer Gullivers bei den Liliputanern denken. Während der Riese schläft, spannen ihn die Zwerge mit tausenden kleinen Fäden an den Erdboden an, halten den Erwachenden so fest und lassen ihn nicht früher frei, ehe er nicht kapituliert und geschworen hat, die Gesetze des Landes nie zu verletzen. So hat die englische Tradition Dickens im Schlaf seiner Unberühmtheit eingesponnen und festgehalten: sie preßte ihn mit den Erfolgen an die englische Scholle, sie rissen ihn hinein in den Ruhm und banden ihm damit die Hände. Er war nach einer langen trüben Kindheit Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal versucht, kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um sein Einkommen zu vermehren als aus impulsivem dichterischem Bedürfnis. Der erste Versuch gelang, die Zeitung verpflichtete ihn. Dann bat ihn ein Verleger um satirische Glossen zu einem Klub, die gewissermaßen den Text zu Karikaturen aus der englischen Gentry bilden sollten. Dickens nahm an. Und es gelang, gelang über alle Erwartung. Die ersten Hefte des »Pickwick-Klub« waren ein Erfolg ohne Beispiel; nach zwei Monaten war Boz ein nationaler Autor. Der Ruhm schob ihn weiter, aus Pickwick wurde ein Roman. Es gelang wieder. Immer dichter spannen sich die kleinen Netze, die geheimen Fesseln des nationalen Ruhmes. Von einem Werke drängte ihn der Beifall zum andern, drängte ihn immer mehr in die Windrichtung des zeitgenössischen Geschmackes hinein. Und diese hunderttausend Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste gewoben, hielten ihn nun fest an der englischen Erde, bis er kapitulierte, innerlich gelobte, die ästhetischen und moralischen Gesetze seiner Heimat nie zu übertreten. Er blieb in der Gewalt der englischen Tradition, des bürgerlichen Geschmackes, ein moderner Gulliver unter den Liliputanern. Seine wundervolle Phantasie, die wie ein Adler hätte hinschweben können über dieser engen Welt, verhakte sich in den Fußfesseln der Erfolge. Eine tiefinnerliche Zufriedenheit belastet seinen künstlerischen Auftrieb. Dickens war zufrieden. Zufrieden mit der Welt, mit England, mit seinen Zeitgenossen und sie mit ihm. Beide wollten sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben, der Urwille des großen Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach seinem eigenen Dünken zu erschaffen. Dickens war fromm, fürchtig; er hatte für alles Bestehende eine wohlwollende Bewunderung, ein ewig kindliches, spielfrohes Entzücken. Er war zufrieden. Er wollte nicht viel. Er war einmal ein ganz armer, vom Schicksal vergessener, von der Welt verschüchterter Knabe gewesen, dem erbärmliche Berufe die Jugend verzettelt hatten. Damals hatte er bunte farbige Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen in eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung. Das brannte in ihm. Seine Kindheit war das eigentlich dichterisch-tragische Erlebnis – hier war der Same seines schöpferischen Wollens eingesenkt in das fruchtbare Erdreich von schweigsamem Schmerz; und seine tiefste seelische Absicht war, als ihm dann die Macht und Möglichkeit der Wirkung ins Weite wurde, diese Kindheit zu rächen. Er wollte mit seinen Romanen allen armen, verlassenen, vergessenen Kindern helfen, die so wie er einst Ungerechtigkeit erlitten durch schlechte Lehrer, vernachlässigte Schulen, gleichgültige Eltern, durch die lässige, lieblose, selbstsüchtige Art der meisten Menschen. Er wollte ihnen die paar farbigen Blüten Kinderfreude retten, die in seiner eigenen Brust verwelkt waren ohne den Tau der Güte. Später hatte ihm das Leben dann alles gewährt, und er wußte es nicht mehr anzuklagen: aber die Kindheit rief in ihm um Rache. Und die einzige moralische Absicht, der innere Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu helfen: hier wollte er die zeitgenössische Lebensordnung verbessern. Er verwarf sie nicht, er bäumte sich nicht auf gegen die Normen des Staates, er droht nicht, reckt nicht die zornige Faust gegen das ganze Geschlecht, gegen die Gesetzgeber, die Bürger, gegen die Verlogenheit aller Konventionen, sondern deutet nur hier und dort mit vorsichtigem Finger auf eine offene Wunde. England ist das einzige Land Europas, das damals, um 1848, nicht revolutionierte; und so wollte auch er nicht umstürzen und neu schaffen, nur korrigieren und verbessern, wollte nur die Phänomene des sozialen Unrechts dort, wo ihr Dorn zu spitz und schmerzhaft ins Fleisch drang, abschleifen und mildern, doch nie die Wurzel, die innerste Ursache, aufgraben und zerstören. Als echter Engländer wagt er sich nicht an die Fundamente der Moral, sie sind dem Konservativen sakrosankt wie das Gospel, das Evangelium. Und diese Zufriedenheit, dieser Absud vom flauen Temperament seiner Epoche, ist so charakteristisch für Dickens. Er wollte nicht viel vom Leben: und so seine Helden. Ein Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt vor ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts ist ihm genug, unersättlich sind sie alle, jeder ein Welteroberer, ein Umstürzler, ein Anarchist und ein Tyrann zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament. Auch die Helden Dostojewskis sind feurig und ekstatisch, ihr Wille verwirft die Welt und greift in herrlichster Ungenügsamkeit über das wirkliche Leben nach dem wahren Leben; sie wollen nicht Bürger und Menschen sein, sondern in jedem von ihnen funkelt durch alle Demut der gefährliche Stolz, ein Heiland zu werden. Ein Held Balzacs will die Welt unterjochen, ein Held Dostojewskis sie überwinden. Beide haben sie eine Anspannung über das Alltägliche hinaus, eine Pfeilrichtung gegen das Unendliche. Die Menschen bei Dickens sind alle bescheiden. Mein Gott, was wollen sie? Hundert Pfund im Jahr, eine nette Frau, ein Dutzend Kinder, einen freundlich gedeckten Tisch für die guten Freunde, ihr Cottagehaus bei London mit einem Blick von Grün vor dem Fenster, mit einem kleinen Gärtchen und einer Handvoll Glück. Ihr Ideal ist ein spießerisches, ein kleinbürgerliches: damit muß man sich bei Dickens zurechtfinden. Hinter dem Werke steht als der Schöpfer nicht ein zorniger Gott, gigantisch und übermenschlich, sondern ein zufriedener Betrachter, ein loyaler Bürger. Das Bürgerliche ist die Atmosphäre aller Romane von Dickens.

 

Seine große und unvergeßliche Tat war darum eigentlich nur: die Romantik der Bourgeoisie zu entdecken, die Poesie des Prosaischen. Er hat als erster den Alltag ins Dichterische umgebogen. Er hat Sonne durch dieses stumpfe Grau leuchten lassen; und wer in England einmal gesehen hat, wie strahlend der Goldglanz ist, den dort die erstarkende Sonne aus dem trüben Knäuel des Nebels spinnt, der weiß, wie sehr ein Dichter seine Nation beseligen mußte, der ihr künstlerisch diese Sekunde der Erlösung aus dem bleiernen Hindämmern gegeben hat. Dickens ist dieser goldene Reif um den englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten Dinge und simplen Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine Helden, seine Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte gesucht, an denen die anderen Dichter achtlos vorbeigingen. Die suchten ihre Helden unter den Kronleuchtern der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den Zauberwald der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen, Ungewöhnlichen und Außerordentlichen. Ihnen war der Bürger die Substanz gewordene irdische Schwerkraft, und sie wollten nur feurige, kostbare, in Ekstasen aufstrebende Seelen, den lyrischen, den heroischen Menschen. Dickens schämte sich nicht, den ganz einfachen Tagwerker zum Helden zu machen. Er war ein Selfmademan; er kam von unten und bewahrte diesem Milieu eine rührende Pietät. Er hatte einen sehr merkwürdigen Enthusiasmus für das Banale, eine Begeisterung für ganz wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des Lebens. Seine Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel, das jeder für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander von Seltsamkeiten und schnurrigen Nichtigkeiten, die jahrzehntelang vergeblich auf den Liebhaber gewartet hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen, verstaubten Dinge, putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte sie in die Sonne seiner Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich an zu funkeln mit einem unerhörten Glanz. So nahm er die vielen kleinen verachteten Gefühle aus der Brust einfacher Menschen, horchte sie ab, fügte ihr Räderwerk zusammen, bis sie wieder lebendig tickten. Plötzlich begannen sie da wie kleine Spieluhren zu surren, zu schnurren und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie, die lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter aus Legendenland und die Kanzonen der Lady vom See. Die ganze bürgerliche Welt hat Dickens so aus dem Aschenhaufen der Vergessenheit aufgestöbert und wieder blank zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder eine lebendige Welt. Ihre Torheiten und Beschränktheiten hat er durch Nachsicht begreiflich, ihre Schönheiten durch Liebe sinnfällig gemacht, ihren Aberglauben verwandelt in eine neue und sehr dichterische Mythologie. Das Zirpen des Heimchens am Herd ist Musik geworden in seiner Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit menschlichen Zungen, der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung dem religiösen Gefühl. Aus den kleinsten Festen hat er einen tieferen Sinn geholt; er hat allen diesen schlichten Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens entdecken geholfen, ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das Liebste war, ihr »home«, das enge Zimmer, wo der Kamin mit roten Flammen prasselt und das dürre Holz zerknackt, wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die wunschlosen Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen, den wilden Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen wollte er alle die lehren, die in den Alltag gebannt waren. Tausenden und Millionen hat er gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut. Helfen wollte er den Armen und den Kindern. Was über diesen Mittelstand des Lebens materiell oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er liebte nur das Gewöhnliche, das Durchschnittliche von ganzem Herzen. Den Reichen und den Aristokraten, den Begünstigten des Lebens war er gram. Die sind fast immer Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten Porträts, fast immer Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft hatte er als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalea, Briefe gebracht, die Pfändungen gesehen, zu sehr die liebe Not des Geldes gekannt; jahraus, jahrein war er in Hungerford Stairs ganz oben in einem kleinen, schmutzigen, sonnenlosen Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse in Tiegel eingestrichen und mit Fäden hunderte und hunderte täglich umwickelt, bis ihm die kleinen Kinderhände brannten und die Tränen der Zurücksetzung aus den Augen schössen. Zu sehr hatte er Hunger und Entbehrung gekannt an den kalten Nebelmorgen der Londoner Straßen. Keiner hatte ihm damals geholfen, die Karossen waren vorübergefahren an dem frierenden Knaben, die Reiter vorbeigetrabt, die Tore hatten sich nicht aufgetan. Nur von den kleinen Leuten hatte er Gutes erfahren: nur ihnen wollte er darum die Gabe erwidern. Seine Dichtung ist eminent demokratisch – nicht sozialistisch, dazu fehlt ihm der Sinn für das Radikale –, Liebe und Mitleid allein geben ihr pathetisches Feuer. In der bürgerlichen Welt – in der mittleren Sphäre zwischen Armenhaus und Rente – ist er am liebsten geblieben; nur bei diesen schlichten Menschen hat er sich wohlgefühlt. Er malt ihre Stuben mit Behaglichkeit und Breite aus, als wollte er selbst darin wohnen, webt ihnen bunte und immer mit sonnigem Feuer überflogene Schicksale, träumt ihre bescheidenen Träume; er ist ihr Anwalt, ihr Prediger, ihr Liebling, die helle, ewig warme Sonne ihrer schlichten, grautönigen Welt.

 

Aber wie reich ist sie durch ihn geworden, diese bescheidene Wirklichkeit der kleinen Existenzen! Das ganze bürgerliche Beisammensein mit seinem Hausrat, dem Kunterbunt der Berufe, dem unübersehbaren Gemisch der Gefühle ist noch einmal Kosmos geworden, ein All mit Sternen und Göttern in seinen Büchern. Aus dem flachen, stagnierenden, kaum wellenden Spiegel der kleinen Existenzen hat hier ein scharfer Blick Schätze erspäht und sie mit dem feinmaschigsten Netz ans Licht gehoben. Aus dem Gewühl hat er Menschen gefangen, oh, wie viele Menschen, Hunderte von Gestalten, genug, eine kleine Stadt zu bevölkern. Unvergeßliche sind unter ihnen, Gestalten, die ewig sind in der Literatur und schon mit ihrer Existenz hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes, Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood, sie alle, deren Namen in uns lächelnde Erinnerung zauberisch entfachen. Wie reich sind diese Romane! Die Episoden des David Copperfield genügten für sich allein, das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten zu versorgen; Dickens' Bücher sind eben wirkliche Romane im Sinn der Fülle und unablässigen Bewegtheit, nicht wie unsere deutschen fast alle nur ins Breite gezerrte psychologische Novellen. Es gibt wenig tote Punkte in ihnen, wenig leere sandige Strecken, sie haben Ebbe und Flut von Geschehnissen, und wirklich, wie ein Meer sind sie unergründlich und unübersehbar. Kaum kann man das heitere und wilde Durcheinander der wimmelnden Menschen überschauen; sie drängen herauf an die Bühne des Herzens, stoßen einer wieder den andern hinab, wirbeln vorbei. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern, befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste Verwicklungen treiben in katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder, alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt die Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit. Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser Romane sind eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle; aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten, in den Felsen der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.

 

Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge: kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgendeinmal, gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen, oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte. Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in »David Copperfield«, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es gibt keine vagen Konturen bei Dickens; er gibt nicht vieldeutige Möglichkeiten der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen Augen hinter den Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen Wolke ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt, sondern einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht nach kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die unter einer dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner in Zorn gerät. Er spürt die Nuancen, tastet die Bewegung jedes einzelnen Fingers bei einem Händedruck ab, die Abschattung in einem Lächeln. Er war Jahre vor seiner literarischen Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte sich dort geübt, das Ausführliche ins Summarische zu drängen, mit einem Strich ein Wort, mit kurzem Schnörkel einen Satz darzustellen. Und so hat er später dichterisch eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt, das kleine Zeichen hingestellt statt der Beschreibung, eine Essenz der Beobachtung aus den bunten Tatsächlichkeiten destilliert. Für diese kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine unheimliche Scharfsichtigkeit, sein Blick übersah nichts, faßte wie ein guter Verschluß am photographischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in einer Bewegung, einer Geste. Nichts entging ihm. Und diese Scharfsichtigkeit wurde noch gesteigert durch eine ganz merkwürdige Brechung des Blicks, die den Gegenstand nicht wie ein Spiegel in seiner natürlichen Proportion wiedergab, sondern wie ein Hohlspiegel ins Charakteristische übertrieb. Dickens unterstreicht immer die Merkzeichen seiner Menschen, er dreht sie aus dem Objektiven hinüber ins Gesteigerte, ins Karikaturistische. Er macht sie intensiver, erhebt sie zum Symbol. Der wohlbeleibte Pickwick wird auch seelisch zur Rundlichkeit, der dünne Jingle zur Dürre, der Böse zum Satanas, der Gute die leibhaftige Vollendung. Dickens übertreibt wie jeder große Künstler, aber nicht ins Grandiose, sondern ins Humoristische. Die ganze, so unsäglich ergötzliche Wirkung seiner Darstellung entwuchs nicht so sehr seiner Laune, nicht seinem Übermut, sondern sie saß schon in dieser merkwürdigen Winkelstellung des Auges, das mit seiner Überschärfe alle Erscheinungen irgendwie ins Wunderliche und Karikaturistische übertrieben auf das Leben zurückspiegelte.

 

Tatsächlich: in dieser eigenartigen Optik – und nicht in seiner ein wenig zu bürgerlichen Seele – steckt Dickens' Genie. Dickens war eigentlich nie Psychologe, einer, der magisch die Seele des Menschen erfaßt, aus ihrem hellen oder dunklen Samen in geheimnisvollem Wachstum sich die Dinge in ihren Farben und Formen entfalten ließ. Seine Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert durch Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten und feinsten, die eben nur einem dichterisch scharfen Auge sichtbar sind. Wie die englischen Philosophen, beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen. Die unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des Seelischen fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig karikaturistische Optik den ganzen Charakter augenfällig. Aus Merkmalen läßt er die Spezies erkennen. Dem Schullehrer Creakle gibt er eine leise Stimme, die mühsam das Wort gewinnt. Und schon ahnt man das Grauen der Kinder vor diesem Menschen, dem die Anstrengung des Sprechens die Zornader über die Stirne schwellen läßt. Sein Uriah Heep hat immer kalte, feuchte Hände: schon atmet die Gestalt Mißbehagen, schlangenhafte Widrigkeiten. Kleinigkeiten sind das, Äußerlichkeiten, aber immer solche, die auf das Seelische wirken. Manchmal ist es eigentlich nur eine lebendige Schrulle, die er darstellt; eine Schrulle, die mit einem Menschen umwickelt ist und ihn wie eine Puppe mechanisch bewegt. Manchmal wieder charakterisiert er den Menschen durch seinen Begleiter – was wäre Pickwick ohne Sam Weller, Dora ohne Jip, Barnaby ohne den Raben, Kit ohne das Pony! – und zeichnet die Eigentümlichkeit der Figur gar nicht an dem Modell selbst, sondern am grotesken Schatten. Seine Charaktere sind eigentlich immer nur eine Summe von Merkmalen, aber von so scharfgeschnittenen, daß sie restlos ineinander passen und ein Bild vortrefflich in Mosaik zusammensetzen. Und darum wirken sie meistens immer nur äußerlich, sinnfällig, sie erzeugen eine intensive Erinnerung des Auges, eine nur vage des Gefühls. Rufen wir in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis beim Namen auf, den Père Goriot oder Raskolnikow, so antwortet ein Gefühl, die Erinnerung an eine Hingebung, eine Verzweiflung, ein Chaos der Leidenschaft. Sagen wir uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein jovialer Herr mit reichlichem Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der Weste. Hier spüren wir es: an die Figuren Dickens' denkt man wie an gemalte Bilder, an die Dostojewskis und Balzacs wie an Musik. Denn diese schaffen intuitiv, Dickens nur reproduktiv, jene mit dem geistigen, Dickens mit dem körperlichen Auge. Er faßt die Seele nicht dort, wo sie geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des Unbewußten steigt, er lauert dem unkörperlichen Fluidum auf, dort, wo es einen Niederschlag im Wirklichen hat, er hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf das Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie ist eigentlich bloß Blick und reicht darum nur aus für jene Gefühle und Gestalten der mittleren Sphäre, die im Irdischen wohnen; seine Menschen sind nur plastisch in den gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle. In den Hitzegraden der Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder in Sentimentalität, oder sie erstarren im Haß und werden brüchig. Dickens gelingen nur geradlinige Naturen, nicht jene ungleich interessanteren, in denen die hundertfachen Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum Tier fließend sind. Seine Menschen sind immer eindeutig, entweder vortrefflich als Helden oder niederträchtig als Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein über der Stirne oder dem Brandmal. Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt der geheimnisvollen Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen, weiß seine Methode keinen Pfad. Das Grandiose läßt sich nicht greifen, das Heroische nicht erlernen. Es ist der Ruhm und die Tragik Dickens', immer in einer Mitte geblieben zu sein zwischen Genie und Tradition, dem Unerhörten und dem Banalen: in den geregelten Bahnen der irdischen Welt, im Lieblichen und im Ergreifenden, im Behaglichen und Bürgerlichen.

 

Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker sehnte sich nach Tragik. Immer wieder hat er zur Tragödie emporgestrebt, und immer kam er nur zum Melodram. Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind unerfreulich: mögen in England die »Geschichte der beiden Städte«, »Bleak House« für hohe Schöpfungen gelten, für unser Gefühl sind sie verloren, weil ihre große Geste eine erzwungene ist. Die Anstrengung zum Tragischen ist in ihnen wirklich bewundernswert: in diesen Romanen türmt Dickens Konspirationen, wölbt große Katastrophen wie Felsblöcke über den Häuptern seiner Helden, er beschwört den Schauer der Regennächte, den Volksaufstand und die Revolutionen, entfesselt den ganzen Apparat des Grauens und Entsetzens. Aber doch, jener erhabene Schauer stellt sich nie ein, er wird nur ein Gruseln, der rein körperliche Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele. Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen, die vor Angst das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen nach der Entladung im Blitz, brechen nie mehr aus seinen Büchern. Dickens türmt Gefahr über Gefahren, aber man fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal plötzlich Abgründe, man jappt nach Luft, wenn man dieses Dunkel, diesen namenlosen Abgrund in der eigenen Brust aufgerissen fühlt; man fühlt den Boden unter den Füßen schwinden, spürt einen jähen Schwindel, einen feurigen, aber süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen, und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß, der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit, werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen. Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik. Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz, Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen, letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte Rührung – etwa der Tod Doras im »Copperfield« – ist das äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet das (oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des englischen Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen. Das Finale muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Diese echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens' grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern die eines anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares Überschäumen, sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend, der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten Roman statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als Dickens starb, wußte der Bischof von Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden, muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem Raufhandel seinem Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller, der Libertin. Wo steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet höchst anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz allen bösen Instinkten blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie, die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne Schwinge besessen, die ihn stolz über die dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen und fast unirdischen Humor.

 

Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge verschneidet die Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt; die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier, wo Dickens frei, unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte, hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten Episoden der Frühzeit. Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können, wie sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft, dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren hinrettend bis ins Verscheiden. Das ist rührend in einem Sinne, der über alle Sentimentalität hinausreicht zum echtesten, lebendigsten Menschengefühl. Da ist Traddles, der fette Junge in seinen geblähten Pumphosen, der den Schmerz über die erhaltenen Prügel im Zeichnen von Skeletten vergißt, Kit, der Treueste der Treuen, der kleine Nickleby und dann dieser eine, der immer wiederkehrt, dieser hübsche, »sehr kleine und nicht eben zu freundlich behandelte Junge«, der niemand anderer ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine eigene Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter unsterblich gemacht hat. Immer und immer wieder hat er von diesem gedemütigten, verlassenen, verschreckten, träumerischen Knaben erzählt, den die Eltern verwaisen ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah geworden, seine sonore Stimme voll und tönend wie Glockenklang. Unvergeßlich ist dieser Kinderreigen in Dickens' Romanen. Hier durchdringt sich Lachen und Weinen, Erhabenes und Lächerliches zu einem einzigen Regenbogenglanz; das Sentimentale und das Sublime, das Tragische und das Komische, Wahrheit und Dichtung versöhnen sich in ein Neues und Nochniedagewesenes. Hier überwindet er das Englische, das Irdische, hier ist Dickens ohne Einschränkung groß und unvergleichlich. Wollte man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich sein. Um der Kinder willen hat er die sogar geliebt, die schon nicht mehr kindlich, sondern kindisch waren, die Schwachsinnigen und Geistesgestörten. In allen seinen Romanen ist einer dieser sanften Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist rührend, zu sehen, wie er diese Menschen schildert. Er faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel Güte um ihr Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil sie ewig im Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn die Kindheit ist das Paradies in Dickens' Werken. Wenn ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren, nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen, die reine Wahrheit mit der englischen Lüge. Und er selbst scheint dieses Gefühl im Innersten zu teilen. Denn nur ungern gibt er seine Lieblingshelden an das Leben. Er begleitet sie nie bis ins Alter hinein, wo sie banal werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt Abschied von ihnen, wenn er sie emporgeführt hat bis an die Kirchentür der Ehe, durch alle Fährnisse in den spiegelglatten Hafen der bequemen Existenz. Und das eine Kind, das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine Nell, in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure Frühverstorbene verewigt hatte, sie ließ er gar nicht in die rauhe Welt der Enttäuschungen, die Welt der Lüge. Sie behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß ihr vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos übergleiten von der Helle der Frühzeit in die Dunkelheit des Todes. Sie war ihm zu lieb für die wirkliche Welt.

 

Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon, eine bürgerlich bescheidene, ein sattes England, ein enger Ausschnitt der ungeheuren Möglichkeiten des Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur reich werden durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig gemacht durch seinen Haß, Dostojewski durch seine Heilandsliebe. Und auch Dickens, der Künstler, erlöst diese Menschen von ihrer lastenden Erdschwere: durch seinen Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche Welt nicht mit objektiver Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen Hymnus der braven Leute, der alleinseligmachenden Tüchtigkeit und Nüchternheit an, sondern er zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch lustig zu, er macht sie wie Gottfried Keller und Wilhelm Raabe ein ganz klein wenig lächerlich in ihren liliputanischen Sorgen. Aber lächerlich in einem freundlichen, gutmütigen Sinne, so daß man sie für alle Schnurren und Skurrilitäten nur noch lieber hat. Wie ein Sonnenblick liegt der Humor über seinen Büchern, macht ihre bescheidene Landschaft plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von tausend entzückenden Wundern; an dieser guten wärmenden Flamme wird alles lebendiger und wahrscheinlicher, selbst die falschen Tränen flimmern wie Diamanten, die kleinen Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand. Der Humor Dickens' hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten. Wie Ariel schwebt er geisternd durch die Luft seiner Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in einen Tanzwirbel, eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig ist er. Selbst aus dem Schacht der finstersten Verwirrungen funkelt er auf wie ein Bergmannslicht, er löst die überstraffen Spannungen, er mildert das allzu Sentimentale durch den Unterton der Ironie, das Übertriebene durch seinen Schatten, das Groteske, er ist das Versöhnende, das Ausgleichende, das Unvergängliche in seinem Werk. Er ist – wie alles bei Dickens – natürlich englisch, ein echtenglischer Humor. Auch ihm fehlt es an Sinnlichkeit, er vergißt sich nicht, betrinkt sich nicht an seiner eigenen Laune und wird nie ausschweifend. Er bleibt in seinem Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst sich nicht wie Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei Cervantes vor tollem Entzücken oder springt kopfüber ins Unmögliche wie der amerikanische. Er bleibt immer aufrecht und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer nur mit dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine Heiterkeit verbrennt sich nicht selbst, sie funkelt nur und zersplittert ihr Licht in die Adern der Menschen hinein, flackert mit tausend kleinen Flammen, geistert und irrlichtert neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in den Wirklichkeiten. Auch sein Humor ist – denn es ist das Schicksal Dickens', immer eine Mitte darzustellen – ein Ausgleich zwischen der Trunkenheit des Gefühls, der wilden Laune und der kaltlächelnden Ironie. Sein Humor ist unvergleichbar dem der anderen großen Engländer. Er hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes, nichts von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und Hände. Er will nicht moralisch sein und nicht satirisch, nicht unter der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst verstecken. Er will überhaupt nicht und nichts. Er ist. Seine Existenz ist absichtslos und selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener merkwürdigen Augenstellung Dickens', verschnörkelt und übertreibt dort die Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. Alles tritt in diesen Kreis von Licht, sie leuchten wie von innen heraus; selbst die Gauner und Schurken haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze Welt scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet. Alles glänzt und wirbelt, die Sonnensehnsucht eines nebligen Landes scheint für immer erlöst. Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze quirlen ineinander, springen weg, spielen Verstecken mit ihrem Sinn, werfen sich einer dem anderen Fragen zu, necken sich, führen sich irre, eine Launigkeit beflügelt sie zum Tanz. Unerschütterlich ist dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er ließ sich nicht verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben. Sein Humor ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich scharfen Auge und verlosch erst mit seinem Licht. Nichts Irdisches vermochte ihm etwas anzuhaben, und auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir Menschen nicht denken, die Novellen wie »Das Heimchen am Herd« nicht lieben würden, die der Heiterkeit wehren könnten bei manchen Episoden dieser Bücher. Die seelischen Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die literarischen. Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird, in den Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille ruht und nur das Gefühl des Lebens sanft seine Wellen in einem rührt, wo man sich nach nichts so sehnt als nach irgendeiner arglosen melodischen Erregung des Herzens, wird man nach diesen einzigen Büchern greifen, in England und überall in der Welt.

 

 

 

Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen, allzu irdischen Werke: es hat Sonne in sich, es strahlt und wärmt. Man soll die großen Kunstwerke nicht allein nach ihrer Intensität fragen, nicht nur nach dem Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach ihrer Extensität, der Wirkung auf die Mengen. Und von Dickens wird man wie von keinem in unserem Jahrhundert sagen können, er habe die Freudigkeit der Welt gemehrt. Millionen Augen haben bei seinen Büchern in Tränen gefunkelt; Tausenden, denen das Lachen verblüht oder verschüttet war, hat er es neu in die Brust gepflanzt: weit über das Literarische hinaus ging seine Wirkung. Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen, als sie von den Brüdern Chereby lasen; Hartherzige wurden gerührt; die Kinder bekamen – es ist verbürgt –, als »Oliver Twist« erschien, mehr Almosen auf den Straßen; die Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte die Privatschulen. Das Mitleid und Wohlwollen in England ist stärker geworden durch Dickens, das Schicksal von vielen und vielen Armen und Unglücklichen gelindert. Ich weiß: solche außerordentliche Wirkungen haben nichts zu tun mit der ästhetischen Wertung eines Kunstwerkes. Aber sie sind wichtig, weil sie zeigen, daß jedes ganz große Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja jeder schaffende Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in der realen Welt Wandlungen hervorbringt. Wandlungen im Wesentlichen, im Sichtbaren und dann in der Temperatur des Gefühlsempfindens. Dickens hat – im Gegensatz zu den Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und Zuspruch bitten – die Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt, ihren Blutkreislauf befördert. Die Welt ist heller geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen zu schreiben. Er hat seiner Zeit die Freude gerettet und den späteren Generationen den Frohsinn jenes »merry old England«, des England zwischen den Napoleonkriegen und dem Imperialismus. Nach vielen Jahren wird man noch zurückschauen nach dieser dann schon altväterischen Welt mit ihren seltsamen, verlorenen Berufen, die längst im Mörser des Industrialismus zerpulvert sein werden, wird sich vielleicht hineinsehnen in dies Leben, das arglos war, voll von einfachen, stillen Heiterkeiten. Dickens hat dichterisch die Idylle Englands geschaffen – das ist sein Werk. Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering gegenüber dem Gewaltigen: auch die Idylle ist ein Ewiges, eine uralte Wiederkehr. Das Georgikon oder Bukolikon, das Gedicht des fliehenden, vom Schauer des Begehrens ausruhenden Menschen ist hier erneut, so wie es immer im Umschwung der Generationen wieder sich erneuern wird. Es kommt, um wieder zu vergehen, die Atempause zwischen den Erregungen, das Kraftgewinnen vor oder nach der Anstrengung, die Sekunde der Zufriedenheit im rastlos hämmernden Herzen. Andere schaffen die Gewalt, andere die Stille. Charles Dickens hat einen Augenblick der Stille in der Welt zum Gedicht gefügt. Heute ist das Leben wieder lauter, die Maschinen dröhnen, die Zeit saust in rascherem Umschwung. Aber die Idylle ist unsterblich, weil sie Lebensfreude ist; sie kehrt wieder wie der blaue Himmel hinter den Wettern, die ewige Heiterkeit des Lebens nach allen Krisen und Erschütterungen der Seele. Und so wird auch Dickens immer wieder aus seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn Menschen der Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den tragischen Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leiseren Dingen die geisterhafte Musik des Dichterischen werden vernehmen wollen.

 

 

 

Dostojewski