Kapitel 1

WASSERLEICHE GEFUNDEN

Der konstant niedrige Wasserstand führte gestern zu einem grausigen Fund: Aus einem See auf dem Gutshof Ivar Park in Wiltshire wurde ein Wagen mit menschlichen Überresten gefischt. Ein Polizeisprecher sagte, dass das Skelett noch nicht identifiziert sei und möglicherweise seit mehreren Jahren im Wasser gelegen habe.

Ich weiß nicht, wer ihn geschickt hat. Es war kein Brief dabei, nur der Zeitungsausschnitt, über den oben das Datum gekritzelt war: 14. August '76. Die Schrift kenne ich nicht. Abgestempelt in London. Kann jeder gewesen sein. Aber warum schickt jemand mir den Ausschnitt? Das ist es, was ich nicht verstehe.

Ich erinnerte mich an das Mädchen, das verschwunden war. Auch ein Bunny. Kitty. Lenny hatte mit ihr geschlafen. Gott bewahre, er war nicht der Einzige, bei weitem nicht. Es war im Sommer 1969, als es uns nicht so gut ging – sieben Jahre zuvor also. Ich dachte, ich hätte das alles weit hinter mir gelassen. Jedenfalls habe ich es versucht. Deswegen bin ich hierher gezogen.

Es hat überhaupt niemand bemerkt, dass Kitty fehlte. Was eigentlich auch keine Überraschung war, denn auf der Party müssen über zweihundert Leute gewesen sein, und so weit ich mich erinnere, waren die meisten derart jenseits von Gut und Böse, dass sie wahrscheinlich nicht mal wussten, auf welchem Planeten sie selbst gerade waren, geschweige denn jemand anderes. Ich glaube, es hat ein paar Wochen gedauert, ehe von ihrem Verschwinden berichtet wurde, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Polizei nie jemanden gefunden hat, der sie nach dieser Nacht noch einmal gesehen hat. Das haben jedenfalls alle gesagt.

Ivar Park ist in der Nähe der Salisbury Plain. Ein massives Gutshaus mit Ställen, einem Park, Wald, einfach allem. Und einem See. Mit Sicherheit gab es einen See. Kitty trug ihr Bunnykostüm. Wir durften es eigentlich nicht aus dem Klub mitnehmen, aber irgendwer – vielleicht sogar Lenny, denn er hat sie mitgebracht – muss dem Wachmann was zugesteckt haben, damit er ihre Tasche nicht kontrolliert. Ich weiß noch, wie sie die riesige Treppe in Ivar herunterkam und die Leute gelacht haben, aber mehr auch nicht.

Doch seltsam war es trotzdem, weil man niemanden fand, der Kitty mitgenommen oder gesehen hat, wie sie die Party verließ, und sie war nicht gerade eine graue Maus. In der Zeitung stand nichts über das Kostüm, aber nach so langer Zeit ist es wahrscheinlich verrottet, oder die Fische haben es gefressen. Ich nehme an, es wäre nie wieder aufgetaucht, wenn wir nicht eine solche Trockenheit gehabt hätten. Da draußen muss es jemanden geben, der wünscht, es wäre so.

Ehrlich gesagt, habe ich damals gar nicht so genau hingehört. Ich und Kitty waren nicht gerade das, was man Busenfreundinnen nennt, aber wie auch immer, unser Leben – unsere Welt, wenn man so will – war ziemlich frei und unbeschwert, und die Menschen kamen und gingen. Sogar Kittys Mitbewohnerin dachte, sie wäre bei ihrem Freund, sie wusste nur nicht, wer es war. Auch nicht überraschend, denn Kitty war kein Kind von Traurigkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Wenn ich hätte raten müssen, hätte ich gesagt, sie hat sich irgendeinen reichen Börsenspekulanten geangelt und ist mit ihm auf Reisen gegangen. Man kommt ziemlich gut durch, wenn man seine Karten richtig ausspielt, und sie war immer recht gut darin, sich die Nummer eins auszugucken.

Ich weiß nicht, ob sie es ist. Da sind nur Überreste. Skelett. Aber anscheinend sollte ich es wissen – wer soll es also sonst sein? Ich mochte Kitty nicht. Aus gutem Grund, könnte ich hinzufügen, weil sie ein richtiges Miststück war. Mein Großvater hätte gesagt: »Die hat es faustdick hinter den Ohren«, und ich war ganz schön froh – nein, mehr als froh, ich war hocherfreut, als sie nicht in den Klub zurückkehrte. Aber so einen Tod würde man nicht mal seinem schlimmsten Feind wünschen. Schon der Gedanke ist unerträglich. Und jetzt geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Manche Dinge kann man einfach nicht ausblenden. Man versucht es, macht die Tür zu, aber sie sind immer da und warten darauf, dich anzufallen. Wie Lennys Tod. Als ich ihn gefunden habe. Ich meine, normalerweise denke ich an Lenny, wie er war, als er noch lebte, aber wenn ich nachts aufwache oder wenn ich nicht damit rechne oder so, dann ist alles wieder da.

Wenn sich der Tag jährt und in der Woche davor ist es am schlimmsten. Schon die Furcht, das Wissen, wie es sein wird. Jedes Jahr, wenn er näher kommt, denke ich, diesmal wird es besser, aber das wird es nie.

Ich bin in Lennys Körper reingelaufen. Es war ziemlich dunkel im Zimmer, und ich wusste nicht, was es war, doch als ich hochschaute, sah ich ein paar Sekunden lang nur diese hervorquellenden Augäpfel, die mich direkt anstarrten. Sein Kopf war aufgeblasen wie ein Ballon, dunkelrot, oben unter der Decke, und sein Körper hing wie ein Sack herunter. Er hatte es mit einem Gürtel getan. Einem breiten Ledergürtel. Aber das habe ich erst später erfahren, denn ich habe nur einmal hingesehen und bin sofort wieder rausgerannt. Der Mann, der bei mir war – der Taxifahrer –, hat die Polizei geholt. Er sagte, ich hätte geschrien, aber daran erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur an so ein stumpfes Gefühl – als müsste mein Verstand geschärft werden. Man hatte mir ein Beruhigungsmittel gegeben, und als ich später versuchte zu schlafen, waren ständig diese Augen da, die aussahen, als würden sie aus den Höhlen fallen. Und ich habe mir immer wieder gesagt: Das ist nicht mein Lenny. Mein Lenny ist tot.

Eigentlich habe ich Jeff deswegen geheiratet. Ich habe mir einzureden versucht, dass ich mein Leben meistere und darüber hinwegkomme, aber in Wirklichkeit konnte ich mich nicht von Lenny lösen oder wollte wenigstens das Gefühl von Nähe haben, das Leben, das ich mit ihm gehabt hätte. Irgendwie habe ich versucht, dieses Leben weiter zu leben. Erst als alles kaputtging, wurde mir klar, dass das der Grund war, und vielleicht ... oh, mag sein, dass ein Teil von mir immer wusste, dass es nicht funktionieren würde, aber nach dem, was mit Lenny geschehen war, war ich völlig fertig und brauchte jemanden, und er war da.

Ich meine natürlich nicht, dass ich jeden genommen hätte. Jeff sah super aus, war charmant und begabt – er ist Fotograf, darüber haben wir uns überhaupt kennen gelernt. Er erklärte, sich um mich kümmern zu wollen, und Gott weiß, das brauchte ich. Ich habe natürlich nicht so getan, als wäre er Lenny, aber ich glaube, etwas in der Art habe ich von ihm erwartet, was nicht fair war. Jeff hatte keinen sehr ausgeprägten Sinn für Humor und war ein ziemlich verschlossener Mensch. Rau. Eher wie Jack als wie Lenny, wenn ich es jetzt bedenke. Er war auf eine Art schwierig, die ich nicht gewohnt war, und ich dachte, das heißt, dass er stark ist, weil Lenny so ... nicht schwach, aber ... nun, auf Lenny hat man aufgepasst.

Nicht nur die Frauen – jeder hat auf ihn aufgepasst, sogar Jack. Die Leute haben ihm jeden Gefallen getan, und weil er so bezaubernd und freundlich und schrecklich dankbar war, hatten sie das Gefühl, etwas Nützliches und Gutes zu tun. Er hat es natürlich ausgenutzt, es im richtigen Moment eingesetzt, aber manchmal war er wirklich ein hoffnungsloser Fall. Ich werde nie vergessen, wie ich ihn einmal bei dem Versuch, eine Dose Baked Beans zu öffnen, beobachtet habe, und da war er nüchtern. Aber der Punkt war, Lenny hatte einen Draht zu den Menschen und Jeff nicht. Nicht so. Er wollte den anderen immer etwas voraushaben, und ich habe das nie verstanden. Ich glaube, deswegen hatte er ständig Affären, ihm gefiel das Geheimnis besser als der eigentliche Sex. In der Lage zu sein, sich mit jemandem zu unterhalten und zu wissen, dass er es mit dessen Frau oder Freundin trieb und der andere keinen blassen Schimmer davon hatte. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass es unwichtig ist – nicht die Affären, von denen habe ich erst nach ein paar Jahren erfahren – nein, einfach seine Art. Ich meine, man darf jemanden nicht verurteilen, nur weil er nicht jemand anderes ist, oder? Und wir hatten ein hübsches Heim und ein schönes Leben, nur dass es nie richtig zusammenpasste. Ich mache Jeff keinen Vorwurf, es war genauso meine Schuld. Schon der Zeitpunkt, abgesehen von allem anderen, war schlecht, denn wir haben nicht mal zwei Jahre nach Lennys Tod geheiratet, und ich war einfach noch nicht so weit.

Ich hatte mal einen Kalender mit Sinnsprüchen, und einer lautete: »Das Leben wird nach vorne gelebt und im Rückblick verstanden.« Das stimmt doch, oder? Wenn man es überhaupt versteht. Langsam fange ich an, mich das zu fragen. Ich meine, ich habe Lennys Tod in Gedanken hundert Mal durchgespielt und nie irgendwelche Antworten gefunden. Außer dass ich versagt habe. Darauf läuft es immer hinaus. Es ist wie diese Worte, die man manchmal auf Grabsteinen sieht: Wenn Liebe ihn hätte retten können, wäre er nicht gestorben. Aber man kann Menschen mit Liebe nicht retten, oder? Es sollte so sein, und es geschieht in Büchern und so, aber nicht im richtigen Leben.

Das Cottage, in dem Lenny sich umgebracht hat, war auf demselben Besitz. Es gehörte dem Kerl, der die Party gegeben hat. Marcus' Vater war der Earl of Ivar. Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Marcus meine ich, nicht sein Vater. An einer Überdosis Drogen. Er kann nicht älter als fünfunddreißig gewesen sein.

Der Zeitungsausschnitt ist aus dem Mirror. Das ist die Zeitung, die ich kaufe, wenn ich mir überhaupt eine kaufe. Und selbst wenn, komme ich selten dazu, sie zu lesen. Ich benutze sie nur für den Meerschweinchenstall. Mit dem Ausschnitt könnte man nicht mal eine Streichholzschachtel auslegen. Am besten werfe ich ihn weg, konzentriere mich wieder mehr auf den Alltag. Die Tiere versorgen, reiten – mein Leben.

In die Hände spucken und weitermachen, wie mein Großvater immer zu sagen pflegte.

Nicht leicht, wenn man meistens allein ist. Ich wünschte, es gäbe jemanden, mit dem ich reden könnte, dem ich vertrauen könnte, aber ich kenne eigentlich niemanden.

Ich dachte, ich wäre hier in Sicherheit, aber ich fühle mich nicht mehr sicher.

Ich habe Angst.