Das nächste Mal sah ich Lenny in der Playmate Bar im Klub, ungefähr einen Monat nach unserem »Zusammenstoß«. Es war Samstagnacht, rappelvoll, und ich schlängelte mich gerade mit einem vollen Tablett durch die Gäste, als jemand an meinem Schwanz zog. Ich erschrak und wirbelte herum, denn das war ein absolutes Tabu. Nur mit Mühe jonglierte ich das Tablett über meiner Schulter und ließ es beinahe fallen, auch war ich viel zu sehr damit beschäftigt aufzupassen, dass kein Glas herunterfiel, um herauszufinden, wer es gewesen war. Ich hörte die Männer hinter mir lachen, was mich ärgerte, aber ich würde ihnen nicht die Genugtuung gönnen, sie merken zu lassen, wie wütend ich war.
Gerade hatte ich alles wieder unter Kontrolle und wollte den Geschäftsführer rufen, als ich einen von ihnen sagen hörte: »Sieh mal einer an, was da aus dem Heuhaufen gehüpft ist.«
Ich wusste sofort, wer es war. Kaum hatte er das erste Wort gesagt, starrte ich ihn an.
Gute Manieren hin oder her, ich konnte mich nicht bremsen. Sie waren zu dritt: Donald Findlater und Jack, den ich damals noch nicht kannte, mit Lenny in der Mitte, und alle drei lachten sich schier kaputt.
Ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem ganzen Leben so im Rampenlicht gefühlt. Mein Herz hämmerte, und ich war mir sicher, dass sie es alle sahen. Lenny grinste selbstgefällig, als wüsste er, dass ich nur noch an ihn gedacht hatte, was ja auch stimmte. Ich hatte die ganze Zeit über ihn nachgedacht. Er beugte sich vor, um meinen Namen zu lesen.
»Hallo, Bunny Alice.«
Ich sagte: »Wag es ja nicht, mich Bunny Alice zu nennen, sonst kippe ich dir das ganze Tablett in den Schoß, und es würde dir recht geschehen.«
Lenny sagte: »Aber das tust du nicht, oder?«
Genau das hatte ich geantwortet, als er in der Scheune gesagt hatte, er könnte mich umbringen, und ich fragte mich, ob er sich daran erinnerte. Aber ich war trotzdem noch ziemlich sauer und sagte: »Darauf würde ich nicht wetten«, und stolzierte davon.
Den Rest meiner Schicht ignorierte ich sie. Es war nicht allzu schwer, sie zu meiden, weil sie nicht zu meinem Service gehörten, aber ich war mir ihrer so bewusst, dass ich mich kaum länger als ein paar Sekunden auf meine Arbeit konzentrieren konnte.
Man musste das Tablett mit den richtigen Gläsern und der passenden Garnierung füllen – Oliven für die Martinis, einen Schuss Zitrone, wenn es ein trockener war, eine Cocktailzwiebel für einen Gibson, und manche Drinks bekamen eine Kirsche oder dies oder jenes –, ehe man sie zur Bar trug. Ich konnte die Reihenfolge, in der man die Bestellungen rufen musste, auswendig, ich weiß sie immer noch: Scotch, Canadian, Bourbon, Rye, Irish, Gin, Wodka, Rum, Kognak, Likör, geschüttelt, gerührt, gemixt – die Flaschen waren in derselben Reihenfolge angeordnet, man rief, und der Barkeeper schenkte ein, es sei denn, man hatte seine Gläser von rechts nach links angeordnet und er die Flaschen von links nach rechts, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Wie auch immer, an jenem Abend war ich überall gleichzeitig, was nicht gut war, weil man immer rechts vom Barkeeper stehen musste. Die Barkeeper waren wie die Mafia. Viele von ihnen hatten auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet, sie waren sehr geschickt und erwarteten von uns das Gleiche. Wenn sie fanden, dass man nicht gut war, oder wenn sie jemanden nicht mochten, konnten sie einem das Leben zur Hölle machen. Normalerweise kam ich gut mit ihnen aus, aber an dem Abend – einer machte anscheinend eine Doppelschicht, weil er schon ein paar Drinks intus hatte, und er schrie mich immer wieder an: »Was ist denn in dich gefahren, du blöde Kuh?«
Das machte es noch schlimmer, und jedes Mal, wenn ich zufällig in Lennys Richtung schaute, schien er mich anzustarren, und ich wurde schrecklich unsicher.
In meiner Pause redete ich mit einem der anderen Mädchen, und als ich ihr erzählte, was passiert war, fragte sie mich: »Du weißt schon, wer die beiden sind, oder?«
Ich erwiderte, ich hätte keinen Schimmer, und sie sagte: »Lenny Maxted und Jack Flowers, genau die.«
Und ich sagte: »Wie, die beiden Komiker aus dem Fernsehen? Du nimmst mich auf den Arm«, weil ich dachte, so jemand würde in die VIP Lounge gehen, und ich glaubte ihr erst, als ein paar von den anderen es bestätigten.
Dann fragte ich, wer wer war, und als sie es mir sagte, wurde mir klar – die kleine Balgerei im Heuschober, das musste Lenny gewesen sein. Ich behielt die Details für mich, sagte nur »Ach wirklich?« oder so etwas, als wäre es keine große Sache. Ich ging wieder hinein und arbeitete weiter, und als ich mich irgendwann einmal zu ihnen umschaute, waren sie gegangen. Ich war erleichtert und enttäuscht gleichzeitig, aber ich dachte, na gut, das war das.
Doch das war es nicht, denn als ich um vier aus dem Klub kam, war da dieser Kerl in einem Auto. Ich konnte nicht gleich erkennen, wer es war, weil das Auto nicht unter einer Straßenlaterne stand, aber er hatte die Scheibe heruntergekurbelt, und als ich vorbeiging, lehnte er sich heraus. »Alice?«
Ich erkannte die Stimme sofort. Es war in Ordnung, weil wir am Hintereingang waren, den man nicht einsehen konnte, deshalb ging ich hinüber. Er war allein.
»Hallo.«
Ich sagte: »Du wartest wohl schon eine ganze Weile hier«, weil sie so gegen zwei gegangen waren.
»Steig ein, ich fahre dich nach Hause.«
»Nein, vielen Dank.«
»Bist du selber mit dem Auto da? Ein Rennen gefällig?«
»Nein.«
»Das wird bestimmt lustig. Ich lasse dich auch gewinnen.«
»Letztes Mal hast du nur gewonnen, weil ich dich gelassen habe. Wie auch immer, ich habe dir doch gesagt, dass es nicht mir gehört.«
»Hast es zurückgebracht, bevor er es gemerkt hat, wie?«
»Woher weißt du, dass es ein er war?«
»War es doch, oder?«
»Ja ... aber egal, ich finde, du könntest mir wenigstens deinen Namen sagen, jetzt, wo du meinen kennst.«
Er sagte nur: »Lenny.« Nicht: »Oh, du weißt nicht, wer ich bin?« oder so etwas, nur: »Lenny«, als wäre er vorbeigekommen, um einen Teppich zu verlegen oder so was. Das gefiel mir, obwohl er wahrscheinlich wusste, dass ich seinen Namen kannte.
»Hast du eine Karte?« Nur Klubmitglieder haben eine Karte. Sie durften einen Gast mitbringen, aber man musste sich die Karte zeigen lassen, ehe man die Bestellung entgegennahm.
»Erst seit kurzem.«
»Ich frage nur, weil ich dich noch nie im Klub gesehen habe.«
Nach einer Pause sagte er: »Hör mal, das neulich tut mir Leid.«
»Schon gut«, sagte ich. Na ja, was hätte ich sonst sagen sollen. Aber so leicht würde er mir nicht davonkommen. »Ich nehme an, du hast deinen Freunden erzählt, was wir gemacht haben.«
Er sagte: »Nein«, und machte ein überraschtes Gesicht, aber ich dachte, spiel nicht den Unschuldigen, und sagte: »Der Hase im Heuhaufen – ich wette, da habt ihr alle mal wieder so richtig gelacht.«
»Nein!« Er sah ziemlich verletzt aus, aber irgendwas an der Art, wie sie im Klub gelacht und mich angeguckt hatten, hatte mich verunsichert, und nun wusste ich nicht, ob ich ihm glauben sollte.
»Sicher, dass ich dich nicht nach Hause fahren soll?«, fragte er.
»Ganz sicher. Danke.«
»Wie wär's mit einem Abendessen? Würdest du mit mir essen gehen?« Er klang beinahe demütig, als erwartete er, dass ich ihm einen Korb gebe. Das fand ich süß. Das und die Tatsache, dass er mindestens zwei Stunden gewartet hatte, und deshalb sagte ich ja.
Dann holte er seinen Kalender hervor, fing an ihn durchzublättern und fragte, kannst du da, wie wär's da, und ich sagte, nein, da bin ich im Klub, oder nein, da habe ich schon was vor. Meistens stimmte es, aber ich wollte ihm auch zeigen, dass ich nicht allzeit bereit war, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Schließlich fanden wir einen Termin, und Lenny schrieb ihn auf ein Stück Papier. Als er sich aus dem Fenster lehnte, um es in meine Tasche zu stecken, sprang ich fast einen Meter in die Höhe.
»Tu das nicht!« Die Leitung des Klubs wollte auf keinen Fall ihre Lizenz für das Glücksspiel verlieren, und wenn irgendjemand gesehen hätte, wie er mir direkt vor dem Klub etwas zusteckte, das wie ein Geldschein aussah, könnte er auf die Idee kommen, der Klub sei ein Bordell, und ihn anzeigen, was nicht besonders gut angekommen wäre.
»Willst du mich um meinen Job bringen?«
»Tut mir Leid, entschuldige ... nein, natürlich nicht.« Er hob die Hände, der Zettel klemmte zwischen zwei Fingern, als wollte er »Ich ergebe mich« sagen, und ich warf einen schnellen Blick die Straße hinauf und hinunter, ehe ich ihn mir schnappte und in die Tasche stopfte. Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Heimweg. Jedes Mal, wenn ich mich umschaute, sah ich ihn unbeweglich in seinem Wagen sitzen und mir nachschauen, und die ganze Zeit hielt ich das kleine Stück Papier in meiner Tasche fest umklammert.
Ich habe es immer noch. In einer Schuhschachtel unter meinem Bett, in der ich meine Schätze aufbewahre. Zwar schaue ich selten hinein, aber es ist schön, sie zu haben. Kleinigkeiten, wie etwa Geburtstagskarten von meinem Großvater, mein Ehering aus der Ehe mit Jeff und Lennys letzte Zeilen an mich. Die er geschrieben hat, bevor er sich umgebracht hat.