Kapitel 5

Der Ruhm gehörte zu Lenny, er war ein Teil von ihm, aber ich war nicht darauf aus, mir einen reichen Mann oder so was zu angeln. Damals wollte ich mich nur amüsieren. Das klingt hohl, ich weiß. Aber ich war zwanzig oder einundzwanzig, und ich dachte, darum geht es im Leben. Ich bin nicht nach London gekommen, weil ich reich und berühmt und die Größte werden wollte. Ich bin gekommen, weil es aufregend war und ich dazugehören wollte.

Eines der besten Dinge am Klub war, dass man sein konnte, wer man wollte. Wir kannten uns nur unter unserem Namen als Bunny, verstehen Sie, und das war nicht immer der echte. Keine durfte den gleichen Namen wie eine andere haben, und wenn es bereits einen Bunny mit deinem Namen gab, suchte man sich einen anderen aus. Ich begann mein Leben als Alison. Ich habe ihn nicht deswegen geändert, weil es noch eine Alison gab, sondern weil »Bunny Alison« nicht gut klang. Ich wählte Alice, weil es ähnlich klang, aber ein bisschen mehr Klasse hatte. Ich gewöhnte mich daran, dass mich jeder im Klub Alice nannte, und es gefiel mir, also stellte ich mich immer als Alice vor, wenn ich als Model arbeitete oder eine neue Freundin hatte, und dabei blieb es. Ehrlich, wenn morgen auf der Straße jemand Alison rufen würde, käme ich nie auf die Idee, dass ich damit gemeint bin. Der einzige Mensch, der mich noch Alison nennt, ist meine Mutter.

Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden im Klub mit Nachnamen kannte. Na ja, nur Susanne Palmer. Sie hatte eine kleine Rolle in einem Film aus den Hammer-Film-Studios, und ich fragte sie nach ihrem Nachnamen, damit ich im Abspann danach Ausschau halten konnte. Es war so eine Geschichte von Dennis Wheatly, und sie war ungefähr drei Sekunden lang als eine der Jungfrauen, die geopfert wurden, zu sehen, haha.

Ach ja, und Candy Knight, der Pornostar. Ich weiß nicht, ob das ihr richtiger Name war, aber sie war immer Candy, Bunny Candy. Als ich vor ein paar Wochen in London war, kam ich am Eros Cinema am Piccadilly vorbei, und da hing ein Plakat für eine von diesen schmierigen Komödien, in denen sie immer mitspielt. Runter mit den Höschen oder so was Blödes. Egal, da stand Jacks Name drauf. Ich traute meinen Augen nicht. Ich weiß, dass er in letzter Zeit nicht im Fernsehen war, aber ehrlich: Wenn Lenny noch da wäre, hätte er das nie gemacht. Da bin ich mir sicher.

Das heißt, wenn sie zusammengeblieben wären, denn Lenny hat meistens geschrieben. Sie haben zwar von Zeit zu Zeit mit anderen Leuten zusammengearbeitet, aber die Hauptarbeit haben die beiden gemacht. Sie verbrachten Stunden in Lennys Wohnung, redeten, warfen sich die Bälle zu und nahmen alles auf Tonband auf. Irgendwann ging Jack nach Hause zu Val, und Lenny setzte sich an die Schreibmaschine und verbrachte die ganze Nacht damit, ein Manuskript zusammenzuschustern, das dann die Grundlage für das Stück oder die Serie war. Es war wirklich so, wie Don Findlater gesagt hatte. Zusammen waren sie besser als die Summe ihrer Teile. Einfach hervorragend. Deswegen war ich so erstaunt zu sehen, dass Jack einen derartigen Schund machte.

Sonst kannte ich nur noch Bunny Kitty mit ihrem vollen Namen. Ihr richtiger Name war Gail McClintock. Im Klub dachte jeder, sie hätte das Handtuch geworfen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, viele Mädchen taten das, aber später haben wir herausgefunden, dass sie nie ihre Papiere abgeholt hat. Ich habe gehört, dass ihre Mitbewohnerin eines Tages nach Hause gekommen ist und gesehen hat, dass ein paar von Kittys Sachen weg waren, aber das könnte auch ein Einbruch gewesen sein, denn es war nirgends ein Brief oder so was von ihr. Und das war's dann eigentlich auch schon. Jedenfalls soweit ich weiß.

Genau genommen wusste ich nicht viel über den Hintergrund von Kitty oder irgendeine der anderen Bunnys, weil man darüber eigentlich nicht redete. Die meisten fuhren wahrscheinlich an den Sonntagen nach Hause, aßen Roastbeef und Dosenpfirsiche und tranken Orangeade, wie ich bei Grandma und Granddad. Was ich meine, ist, dass man ein neuer Mensch sein und das alles hinter sich lassen konnte, wenn man erst mal im Klub arbeitete, und das Kostüm gab einem Selbstvertrauen, sogar Macht. Wohlgemerkt: Wenn diese Kostüme an bestimmten Stellen zwickten, unten an der Seite etwa, stachen sie ganz fürchterlich, und die Füße ... Natürlich musste man der richtige Typ sein. Ich meine, man konnte nicht aus jedem Mädchen einen Bunny machen – es gab jede Menge, die den Kurs gar nicht schafften. Der Punkt ist, dass wir alle nur im Hier und Jetzt lebten und nicht über die Vergangenheit redeten. Als ich dort war, gab es das eine oder andere schicke Mädchen, aber ich fühlte mich nie herablassend behandelt. Soweit ich es verstanden habe, wollten sie sowieso nur die Familiennase noch ein bisschen höher tragen , aber natürlich wussten sie besser über die Drinks Bescheid und so. Ich meine, ich hatte noch nie Champagner oder Gin oder Scotch getrunken, ehe ich im Klub anfing. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in den Klub kam und mir nicht vorstellen konnte, dass es etwas Anspruchsvolleres auf der Welt geben konnte. Und dann lernte ich Blanche kennen, die Bunny-Mutter, sie war der Inbegriff von Perfektion und Glanz und all so was, und ich dachte, wahrscheinlich wohnt sie auch an so einem Ort. Mein Gott, wenn ich heute daran denke, ich war ja so naiv. Aber ich kannte nur den Wohnwagen meiner Mutter und die Doppelhaushälfte meiner Großeltern in Horsham. Alle meine Freundinnen aus der Schule hatten das Gleiche, nicht unbedingt den Wohnwagen, weil meine Mutter – na ja, sagen wir, sie war nicht ganz so wie die anderen Mütter. Zum Beispiel hatte ich keinen Vater. Am Anfang war mir das nicht bewusst, aber dann hörte ich ein paar Bemerkungen, und die Kinder in meiner Klasse redeten über ihre Väter – mein Vater macht dies, mein Vater tut das –, und ich dachte, wo ist mein Vater? Ich fragte sie, ich glaube, da war ich sieben, und sie sagte nur: »Oh, den kannst du vergessen, er ist tot.« Keine Ahnung, ob das stimmte, aber es hätte sein können, weil ich ein Kriegsbaby war. Ich glaube, viele Kriegsbabys wurden zur Adoption freigegeben, und ich weiß eigentlich nicht genau, warum es bei mir nicht so war, aber das könnte erklären, warum ich so oft das Gefühl hatte, ich müsste eine Prüfung bestehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ich weiß noch, wie meine Großmutter mir einmal erzählt hat, dass man in alten Zeiten nicht gleich alles kaufen musste, sondern Dinge »zur Ansicht« mitnehmen konnte. Ich meine nicht eine Lammkeule, sondern ein Kleid oder einen Hut, und wenn es einem nicht gefiel, brachte man es zurück. Ich hatte Mitleid mit den Sachen, wenn die Leute sie nicht wollten und sie zurück in den Laden mussten – ich war noch klein, aber ich glaube, das hatte etwas damit zu tun, dass ich mich selber wie ein Ansichtsexemplar fühlte.

Meine Mutter war immer ein schwieriger Mensch. Sie zieht es vor, allein zu leben, und sie mag Tiere lieber als Menschen, mich eingeschlossen, deshalb war ich die meiste Zeit bei meinen Großeltern. Mum kam nicht mit ihnen klar, also kaufte mein Großvater bei meiner Geburt einen Acker und stellte einen Wohnwagen drauf, und dort zog sie ein. Ein Haus konnte er sich für sie nicht leisten, und sie wollte sowieso lieber auf dem Feld wohnen, weil sie ein Schaf und eine Ziege hatte. Nicht wegen der Milch, es waren ihre Haustiere – die Ziege hatte ein Halsband und eine Leine, und sie ging immer mit ihr auf dem Weg spazieren. Ich glaube, das ist eine meiner frühesten Erinnerungen – ich pflücke Blumen und versuche, Maisy daran zu hindern, sie aufzufressen –, das und wie ich im Wohnwagen im Bett liege und höre, wie der Regen aufs Dach trommelt.

Eine Menge Leute um uns herum hielten Mum für verrückt. Es gab diese merkwürdig lustige Bemerkung über mich, dass ich im falschen Bett gezeugt sei, aber mein Großvater war der Stationsvorsteher und jeder mochte ihn, deshalb hieß es eher: »Armer Mr. Conway, seine Tochter ist ein bisschen seltsam«, und man fragte sich hinter vorgehaltener Hand, ob ich genauso werden würde. Ich kann nicht sagen, dass Granddad begeistert war, als ich ihm erzählte, was für einen Job ich hatte. Ich war nicht mit der Absicht nach London gezogen, ein Bunny zu werden – und das war auch besser so, denn wenn ich ihm das gesagt hätte, hätte er mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens in meinem Schlafzimmer eingeschlossen.

Eine meiner Freundinnen hatte mir die Anzeige für den Klub in The Stage gezeigt, sie wollte sich vorstellen und fragte mich, ob ich mitkommen wollte, und ich dachte, warum nicht? Ich fuhr zum Spaß mit, aber sie hatte erzählt, dass man gut verdiente, und auf dem Weg dorthin begann ich darüber nachzudenken, ob ich das nicht auch konnte, schließlich hatte ich schon ein wenig Erfahrung im Kellnern ... Doch als wir drinnen waren, stand da dieses atemberaubende Mädchen, einfach umwerfend, und ich sagte: »Also, wenn die alle so aussehen, können wir gleich wieder kehrtmachen und nach Hause fahren«, doch meine Freundin sagte: »Quatsch«, und schob mich auf sie zu ... Viel mehr weiß ich nicht mehr. Man musste einen Badeanzug anziehen, es gab ein Bewerbungsgespräch, und ich glaube, das war es eigentlich schon.

Aber ich weiß noch, wie ich das nächste Mal meinen Großvater besuchen fuhr. Ich saß im Zug und konnte nichts anderes denken als: Wie um alles in der Welt soll ich es ihm sagen? In seiner Vorstellung war der Klub eine Art Bordell, und nichts, was ich sagte, konnte ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich glaube, es lag hauptsächlich an meiner Mutter – die Schande, dass sie ein uneheliches Kind hatte, und er hatte Angst, dass mir das Gleiche passieren könnte, aber am Ende sagte er: »Nun, wenn du glücklich bist ...« Was eigentlich recht fortschrittlich für ihn war, denn ich weiß, dass er sich immer Sorgen um mich machte. Er wollte nie etwas über meine Arbeit wissen. Die einzige Frage, die er mir je gestellt hat, war, ob ich auch daran dachte, meine Lohntüte zu überprüfen. Ich habe nie gewagt, ihm zu erzählen, dass ich mehr Trinkgeld als Lohn bekam ...

Und er sagte keinem der Nachbarn etwas. Als ich das erste Mal zu Besuch kam, war ich wild entschlossen, ihm zu zeigen, wie gut ich zurechtkam und dass ich auf mich aufpasste und so. Ich zog all meine neuen Sachen an, wollte richtig angeben, und schminkte mich, was ich zu Hause selten getan hatte, denn Horsham war nicht gerade eine Hochburg der Kultiviertheit. Die anderen Mädchen hatten mir Tipps gegeben, und ich hatte mir abgeschaut, wie sie sich zurechtmachten, und natürlich war ich damals stark geschminkt, ich sah richtig künstlich aus

Wie auch immer, ich fuhr zu meinem Großvater, lief in dieser Aufmachung auf das Haus zu, stand auf der Veranda, fühlte mich wie der Kaiser von China und hörte, wie jemand sagte: »Nun schau sich einer das an. Jetzt wissen wir, was sie in London macht ...« Es waren Mrs. O'Shea und Mrs. Cooper, die weiter oben in der Straße wohnten. Granddad riss mir beinahe den Arm aus, als er mich ins Haus zerrte.

»Was hast du mit dir gemacht?«

Ich schrumpfte innerlich, doch ich wollte ihm zeigen, dass ich immer noch derselbe Mensch war, deshalb sagte ich, ich sei gekommen, um ihm im Garten zu helfen, wie ich es als Kind immer getan hatte. Ich hatte nichts dabei, um mein Kleid zu schützen, also wickelte Granddad mich in ein Stück Sackleinen, aber es muss schmutzig gewesen sein, denn als ich es abnahm, war mein Kleid voller Dreck. Meine Großmutter schnalzte mit der Zunge.

»Warum lässt du sie so etwas machen, Bert? Sie hat sich ihr neues Kleid verdorben. So etwas wächst nicht auf den Bäumen, weißt du?« Als wäre ich sechs Jahre alt.

Aber Granddad zwinkerte mir nur zu und sagte: »Wenn du mich fragst, sieht es so besser aus.« Das Kleid war aus einer dieser Boutiquen in der King's Road, mit Rüschen und grellbunt, so dass es mit dem Dreck nicht mehr so schrill wirkte. Plötzlich dachte ich, du alter ... was auch immer, das hast du mit Absicht getan. Ich hätte wahrscheinlich wütend auf ihn sein müssen, doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mir das Lachen zu verkneifen.

Schade, dass Granddad jetzt tot ist, denn er hätte all das hier geliebt – die Hühner und den Gemüsegarten. Auch könnte ich seinen Rat gut gebrauchen. Allerdings bin ich froh, dass er vor Lenny gestorben ist. Er kam immer gut mit Lenny aus und hätte das Geschmiere in den Zeitungen verabscheut, aber er fehlt mir. Grandma nicht, bei ihr hatte ich immer das Gefühl, dass ich ihr lästig bin. Wohlgemerkt, aus ihrer Sicht war die Zeit der Kindererziehung vorbei, und dann kam ich daher. Mir erzählte sie, Mum tauge nicht zum Muttersein, immer ließ sie mich allein im Wohnwagen und vergaß, mich zu wickeln, also hatte sie die Sache übernommen.

Ich habe einen Film von den beiden, den Lenny gedreht hat. Er wollte die 16-mm-Kamera testen, die er sich gerade gekauft hatte. Er dauert nur ein paar Minuten, aber er zeigt Granddad, wie er im Garten nach seinen Wicken sieht, und dann sieht man Grandma aus der Hintertür kommen und mit ihrer großen Schneiderschere Blumen schneiden. Granddad hasste Schnittblumen, es gab keine einzige Vase im Haus, und normalerweise ließ er niemanden an seine Blumen im Garten. Ich habe nie herausgefunden, ob es ein Vorschlag von Lenny war oder ob sie es mit Absicht getan hat, um Granddad auf die Palme zu bringen. So oder so, Granddad sagt jedenfalls nichts. Dann trottet Mums alter Spaniel Tinker ins Bild und wedelt vor Granddad mit dem Schwanz, und er schaut auf, um nachzusehen, ob Mum auch kommt. Sie steht offenbar außerhalb des Bildes, denn er sagt etwas und winkt, doch sie kommt nicht näher. Und mehr war es eigentlich nicht.

Irgendwo oben muss Lennys Projektor sein, aber ich weiß nicht, wie man ihn bedient. Und ich würde sowieso nur anfangen zu weinen, wozu also. Typisch Mum, dass sie nicht ins Bild kam, nicht mal, um Granddad eine Freude zu machen. Er wollte nett zu ihr sein, doch sie ließ es nicht zu. Sie ist wie Grandma, anderen Menschen gegenüber ganz verschlossen. Im Film sieht man, dass Grandma nicht einmal aufschaut, als der Hund ins Bild kommt und Granddad anfängt, mit Mum zu reden.

Nicht, dass ich meiner Mutter je besonders nahe war. Ich habe versucht, sie öfter zu besuchen, weil sie gesundheitlich nicht auf dem Damm ist, obwohl ich mehr und mehr den Eindruck habe, dass es sie eigentlich gar nicht interessiert. Sie will nicht herkommen und mich besuchen, weil sie ihre Tiere nicht allein lassen will.

Ehrlich gesagt begann ich mich langsam zu fragen, ob meine Besuche die Mühe überhaupt wert sind, doch als ich sie das letzte Mal sah, habe ich ihr von der Farm erzählt, und da sagte sie plötzlich: »Ich habe mir schon oft überlegt, ob du wohl mal so wirst wie ich.« Als ich sie fragte, was sie damit meinte, sagte sie: »Nun ja, du bist jetzt ungefähr sechsundzwanzig, nicht wahr?«

»Dreißig.«

»Ach wirklich? Ich hatte schon mit sechsundzwanzig genug. Du musst ein Spätentwickler sein.«

»Genug von was? Wovon redest du?«

Wir saßen uns am Tisch im Wohnwagen gegenüber, und sie machte eine Handbewegung in Richtung Fenster. »Menschen. Männer.« Und ich dachte plötzlich, sie hat Recht. Aber dann sah ich sie an, wie sie da saß, gekrümmt wie eine Vogelscheuche, in ihrer Jacke, die mit Hundehaaren übersät war, und ich dachte: Ich will nicht so sein wie du. Also sagte ich: »Wie kannst du nur hier leben wollen? Jedes Mal, wenn es regnet, läuft das Wasser die Wände herunter.« Ich habe ihr oft genug Geld für die Reparatur angeboten, doch sie nimmt es nicht.

»Es ist alles in Ordnung.«

»Der Wohnwagen fällt auseinander.«

»Es ist schön. Mir gefällt es. Egal, was andere Leute denken, eins habe ich gelernt: Tiere sind die einzigen Lebewesen, die dich nicht im Stich lassen.«

Ich bin nie richtig entspannt in Gegenwart meiner Mutter, und ich finde es eher schwierig, mit ihr zu reden, aber ich dachte, zum Teufel damit, sie wird nicht jünger, deshalb fragte ich: »Hat mein Vater dich im Stich gelassen?«

»Oh, das ist alles Gerede. Er hat nichts damit zu tun. Oder mit dir. Er war kaum richtig da, als du gezeugt wurdest, geschweige denn später.«

»Was meinst du damit?«

»Er war betrunken.«

»Warum hast du nicht ...«

»Er war verheiratet. Verheiratet und betrunken. Egal, ich bin gern allein.«

»Du klingst wie Greta Garbo.« Sie zuckte mit den Schultern: »Du hast nie viel auf das Gerede von anderen Leuten gegeben, oder?«

»Du trägst ein bisschen dick auf für jemanden, der mit einem Hasenschwanz am Hintern gearbeitet hat.«

»Du hast mir nie gesagt, dass du damit nicht einverstanden warst.«

»Ich war weder dafür noch dagegen. Es ist dein Leben. Komm, es ist Zeit, nach den Tieren zu sehen. Mach dich jetzt lieber auf den Weg.«

Sie schob die Katze von ihrem Schoß und hielt mir die Tür auf. Ich hätte gerne weiter geredet, aber ich wusste, dass sie es nicht wollte, deshalb stand ich auf und ging die Stufen hinunter. Als ich mich umdrehte, um mich zu verabschieden, stand sie mit ihren beiden Jack-Russell-Terriern an der Tür und stülpte sich Plastiktüten über die Schuhe, um sie gegen den Dreck zu schützen. Sie wirkte so unabhängig, dass ich dachte, sie braucht mich nicht, deshalb fragte ich aus einem plötzlichen Impuls heraus: »Willst du, dass ich dich wieder besuchen komme? Ich frage nur, weil ich nicht sicher bin, ob du mich hier überhaupt haben willst, mehr nicht.«

Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Natürlich will ich dich hier haben. Ich freue mich immer auf deine Besuche.«

Das hättest du mir eher sagen sollen, dachte ich. Als ich aber später noch einmal darüber nachdachte, wurde mir klar, dass sie auch einsam sein musste. Mir erschien sie immer wie eine Art unbezwingbare Festung – nein, das ist das falsche Wort, weil ich ja hier bin. Früher dachte ich immer, mein Vater sei die große Liebe ihres Lebens gewesen. Nicht, dass sie das je gesagt hätte, ich hatte es mir einfach vorgemacht, es gehofft, aber er hätte wenigstens ein umwerfender junger Soldat sein können, nicht irgendein verheirateter Lustmolch mittleren Alters, der nachts durch die Straßen streunt, wie sie es darstellt. Es klingt jedenfalls nicht so, als hätte sie ihn besonders gemocht. Sie hat gesagt, dass er tot ist, so dass ich ihn sowieso nicht suchen könnte, selbst wenn ich wollte. Aber ich will es gar nicht.

Vor kurzem habe ich mich gefragt, ob die Leute mich so sehen. Unabhängig. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich hierher gezogen bin. Alle meine Freunde dachten, ich wäre verrückt geworden. Ständig riefen sie an und fragten, ob es mir gut ging, so allein. Doch jetzt lebe ich schon fast neun Monate hier, und ich glaube immer noch, dass es die richtige Entscheidung war. Ohne Eustace wäre ich allerdings einsam.

Der Tag, an dem ich ihn bekam, war einer der seltsamsten Tage meines Lebens, und glauben Sie mir, ich kenne genug solcher Tage aus meiner Zeit mit Lenny. Ich wollte einen Streuner oder einen Hund, den niemand haben wollte, also ging ich ins Tierheim und lief die Käfige ab, und all diese wunderbaren Hunde kamen ans Gitter gerannt, wedelten mit dem Schwanz, machten Männchen und versuchten, meine Hand abzulecken. Am liebsten hätte ich sie alle genommen. Aber erst ganz am Ende war ein Hund, der sich nicht von der Stelle rührte. Ein Basset, braunweiß. Er lag ganz hinten im Käfig auf dem Bauch, die Hinterbeine ordentlich angelegt, wie eine Zuckermaus, die großen, knubbeligen Vorderpfoten rechts und links der Schnauze, die gewaltigen, samtenen Ohren auf dem Boden ausgebreitet wie zwei Schüsseln mit Soße. Die Augen hatte er geschlossen, doch er muss mich gehört haben, denn er schaute mich unter seinen Augenbrauen heraus an, streckte sich, gähnte ausgiebig und schlenderte gemächlich in Richtung Gitter. Ich dachte, er wollte mich begrüßen, aber er legte sich einfach wieder hin und drückte seine Nase genau auf den Türspalt, so als wollte er mit seinem ganzen Körper darauf zeigen. Dann seufzte er, und es klang wie: »Du hast dir wirklich Zeit gelassen.«

Sie meinten, ich sollte mit ihm spazieren gehen, um herauszufinden, ob er mir gefiel, doch ich wusste bereits, dass ich ihn mit nach Hause nehmen würde, weil er sich mich ausgesucht hatte, und ich würde ihn nicht enttäuschen. Wir waren ungefähr die Hälfte des kleinen Weges gegangen, als er stehen blieb und mich aus diesen riesigen, ernsten Augen ansah. Das erinnerte mich an Granddad. Ich weiß nicht, was mit unserer Seele geschieht, wenn wir sterben, aber wenn es so etwas wie Wiedergeburt gibt ... Die Daten stimmten jedenfalls überein. Deshalb habe ich ihn Eustace genannt – das war Granddads zweiter Name.

Lenny hat dieses Haus ein paar Monate vor seinem Tod gekauft. Wir wollten zusammen hier leben. Ich hatte mir Häuser angeschaut, während er in den Staaten einen Film drehte, und sobald ich Maynard's Farm gesehen hatte, wusste ich: Das ist es. Es musste einmal ein blühender Hof gewesen sein, aber der Farmer, dem er gehörte, hatte sich längst zur Ruhe gesetzt. Seine Frau war schon seit dreißig Jahren tot, und er hatte das meiste Land verkauft und das Anwesen herunterkommen lassen. In einigen Schlafzimmern hatte er sogar die Dielen herausgebrochen, um sie zu verheizen. Aber es war ein großes Haus – fünf Schlafzimmer –, und es hatte einen Garten, Ställe und eine vier Hektar große Koppel.

Alles war ziemlich baufällig, doch es schien, als wäre ein Traum Wirklichkeit geworden; an der Vorderseite und der großen Eingangstreppe aus Eiche rankten Glyzinien, die Steinmauern im Garten und die wunderschöne alte Scheune waren mit Efeu bewachsen. Ich verliebte mich auf der Stelle in das Haus und wusste, dass es Lenny auch gefallen würde. Er war immer noch in den Staaten, doch ich rief ihn an, und sobald ich ihm den Namen des Dorfes, Duck End, nannte, sagte er: »Klar, kauf es.« Aus Duck End wurde sofort Duck Arsch und später die Abkürzung D. A.

Das erste Wochenende, das wir dort verbrachten, war wie zelten, weil das Haus total chaotisch war, mit Pfützen auf dem Boden und Tapeten, die in Klumpen von den Wänden fielen. Es war einfach alles hinüber. Im Esszimmer, das im vorderen Teil des Hauses liegt, der georgianisch ist, der Rest ist im Tudorstil gebaut – eigentlich sind es zwei Häuser, die aneinander gebaut sind –, waren die Wände mit braunem Sackleinen bespannt, aus dem lauter kleine Nadeln herausschauten, mit denen das Sackleinen befestigt war. Als wir sie nacheinander herauszogen, entdeckten wir, dass es alte Grammophonnadeln waren, hunderte davon, und darunter verbarg sich eine wunderschöne alte Wandbespannung aus kobaltblauer, mit einem Wasserzeichen versehener Seide. Sie war sehr alt und an manchen Stellen völlig zerfetzt, doch Lenny sagte: »Sie ist wunderschön, wir behalten sie«, also entfernten wir sämtliches Sackleinen und aßen dort bei Kerzenlicht zu Abend. Lenny hatte einen Lieblingstrinkspruch, den er immer ausbrachte: »Ein echter Freund kriegt bei uns Wein und Sekt, ein falscher wird erschossen und verreckt.« Er war so glücklich, dass er sich tatsächlich einmal nicht betrank. Üblicherweise war es so, dass ich ihn völlig weggetreten auf dem Sofa fand, wenn ich aus dem Klub kam.

An jenem Abend machte ich uns ein Bett auf dem Wohnzimmerboden zurecht. Es gab keinen Strom, deshalb nahmen wir den großen silbernen Kerzenleuchter mit, legten uns auf meine Matratze und ließen alle Fenster offen, weil es so warm war. Es war Mai, glaube ich. Wir kicherten und redeten und liebten uns, und ich dachte, ja, ich habe wirklich gedacht: Jetzt fängt es richtig an. Ich glaubte, wenn wir hier leben konnten, weit weg von London, würde Lenny glücklich sein, und ich konnte ihm helfen, damit es ihm besser ging. Na ja, ich war romantisch. Ich glaubte an die Liebe. Wie kann man so blöd sein? Denn ich hatte keine Entschuldigung. Da nicht mehr.

Das erste Mal versprach er mir, mit dem Trinken aufzuhören, wenn ich bei ihm einzog. Ich glaubte ihm, aber nach einigen Monaten waren wir wieder am Anfang. Dann sagte er, es läge an der Wohnung, also suchten wir ein Haus. Auch das funktionierte nicht, und er behauptete, es läge am Leben in London, und es würde ihm gut gehen, wenn er einen ruhigen, friedlichen Ort fände. Deshalb wollte er dieses Haus.

Aber es war nicht nur das. Er machte auch andere Menschen für alles verantwortlich. Er hatte eine Liste mit Namen, die am Kühlschrank hing. Er nannte sie seine Erschießungsliste, und ab und zu strich er einen Namen durch und ersetzte ihn durch einen anderen. Die Hälfte der Leute kannte ich nicht, aber die Liste hielt ihn nie davon ab, mit ihnen zu reden – die üblichen Geschäfte halt – und sie zum Abendessen einzuladen. Ich achtete panisch darauf, dass sie nicht in der Küche auftauchten und die Liste »Menschen, die es verdienen, erschossen zu werden« mit ihren mit schwarzem Kugelschreiber darauf gekritzelten Namen zu Gesicht bekamen. Auch mein Name stand einige Male dort. Ich habe es nie unter die ersten zehn geschafft, aber Jack war ein Dauerkandidat, seit sie aus den Staaten zurück waren. Er hatte allerdings keine Chance, zum Abendessen eingeladen zu werden – zu der Zeit stritten sie sogar über die Uhrzeit.

Selbst danach dachte ich immer noch, Lenny brauchte nur genug Liebe, um gesund zu werden, und dass ich ihn retten konnte, wenn ich ihn nur bedingungslos liebte und ihm Sicherheit gab. Ich muss verrückt gewesen sein, denn damit machte ich es ihm nur leichter zu trinken. Aber ich fühlte mich schuldig, weil ich glaubte, dass ihre Trennung zum Teil an mir lag. Lenny hatte nie mit mir darüber geredet, und Jack schwor immer, kein Wort gesagt zu haben – über uns, meine ich –, aber ich bin mir nicht sicher.

Die Wandbespannung, oder was davon noch übrig ist, gibt es immer noch. Ich habe sie nie entfernt, weil sie Lenny gefiel und es das einzige Mal war, dass er einen Kommentar zur Einrichtung abgegeben hat. Er hat mir das Haus hinterlassen. Geld natürlich auch, sonst könnte ich hier nicht leben. Die meisten Renovierungsarbeiten waren abgeschlossen, bevor er starb, aber es war einfach zu früh, und ich konnte es nicht ertragen, hier allein zu sein. Ich wollte es nicht verkaufen, weil es Lenny gehört hatte, deshalb behielt ich es. Dann heiratete ich Jeff und wohnte in London und kam selten hierher. Ich bin erst letzten November richtig eingezogen.

Es war unglaublich kalt. Eine Woche nach meinem Einzug ging der Boiler kaputt, und ich fror vierzehn Tage lang, weil es eine halbe Ewigkeit dauerte, bis der Installateur das Ersatzteil bekam. Wahrscheinlich war es draußen wärmer als drinnen. Ich schlief in all meinen Kleidern und Eustace dicht neben mir als Wärmflasche, sonst wäre er auch erfroren. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und habe so gefroren, dass ich dachte: Was zum Teufel tue ich hier eigentlich? Aber wenn ich morgens aufwachte und noch einmal darüber nachdachte, wusste ich, dass ich nicht wegwollte. Zum einen wollte ich nicht nach London zurück, und zum andern war es meine Entscheidung gewesen, und ich wollte, dass es klappte. Auf eine gewisse Art war es wie mit dem Job als Bunny, etwas, das ich für mich tat. Sonst war ich immer diejenige, die ausgewählt wurde, von Lenny, von Jeff, sogar von dem Hund. Bei Lenny und Eustace hatte ich natürlich nichts dagegen. Jeff war zwar nicht gerade so toll, aber wie gesagt, es war eigentlich nicht seine Schuld.

Auch er war älter als ich, ungefähr zehn Jahre. Ich weiß: ältere Männer, der Vater, den ich nie hatte, etwas in der Art würde der Psychiater sagen. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, wenn es das ist, was sie bei ihren Vätern suchen, glaube ich offen gesagt nicht, dass ich diejenige bin, die das Problem hat. Aber es ist leicht, das Leben eines anderen zu betrachten und sich mit vorgefertigten Antworten über das Wie und Warum zu produzieren. Ich weiß nicht, ob sie in meinem Fall stimmen oder nicht, und ehrlich gesagt ist es mir auch egal.

Lenny und ich verstanden uns auf Anhieb. Er führte mich in The Ark aus und bestellte Bœuf en Daube für uns beide – damals habe ich noch Fleisch gegessen – und gleich zwei Flaschen Wein. Am Anfang fühlte ich mich ein wenig unbehaglich, weil ich nicht sicher war, wohin das alles führen würde – was eigentlich lächerlich war, wenn man bedenkt, dass wir was miteinander hatten, ehe wir uns einander überhaupt vorgestellt hatten –, aber ich hatte halb erwartet, Jack dort zu sehen, und das Ganze hatte so etwas, Sie wissen schon: Was will dieser bekannte Komiker mit mir, worüber sollen wir reden? Was eigentlich ungewöhnlich für mich ist, denn ich bin von super Typen angebaggert worden und habe einige von ihnen stehen lassen. Aber ... na ja, ich würde nicht so weit gehen zu sagen, ich war in Lenny verliebt, da noch nicht. Sagen wir einfach, ich wusste bereits, dass das, was geschehen würde, viel bedeutete.

Als wir das Restaurant betraten, konnte ich nicht aufhören, seinen Kopf anzustarren. An einer Seite waren zwei große Haarbüschel herausgeschnitten. Im Taxi hatte ich es nicht bemerkt, aber es sah bizarr aus, der ganze Kopf voller schöner, welliger schwarzer Haare, und direkt über dem Ohr klafften zwei kahle Stellen. Ich wollte nichts sagen, ich dachte, bestimmt hat er das für irgendeinen Film oder so etwas gemacht, aber er war offensichtlich etwas unsicher, denn er fasste sich immer wieder an den Kopf.

Schließlich sagte er: »Entschuldige die Haartracht. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, mit mir so in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, aber ich habe sie mir versengt.«

»War es eine Gasflamme?«, fragte ich.

»Nein, nichts dergleichen. Ich wurde in der Tat von einem brennenden Dildo am Kopf getroffen.«

Ich dachte, er macht einen Witz, und sagte ganz ernst: »Jedem das Seine. Verdirbt allerdings die Frisur.«

»Nein, das stimmt. Er wurde über einen Zaun geworfen.«

»Einen Zaun

»Ja, einen Gartenzaun. Jack und Val haben ein Haus in Cuffley, mit einem riesigen Garten, und nebenan wohnt eine Frau, fünfundachtzig Jahre alt und komplett aus Tweed, eine Stütze der Gesellschaft. Wie auch immer, es war der einundzwanzigste Geburtstag ihrer Enkelin, und irgendjemand hat ihr dieses Ding geschenkt. Sie hat es ausgepackt und damit herumgewedelt. ›Hey, seht euch das an‹, aber plötzlich hat sie begriffen, was es ist. Das alte Mädchen hatte keine Ahnung. Sie haben versucht, ihr weiszumachen, es sei ein afrikanisches Kultobjekt, aber sie war ein bisschen in den afrikanischen Kolonien herumgekommen und glaubte ihnen nicht, weil es aus Gummi war, und afrikanisches Zeug ist offensichtlich immer aus Holz. Schließlich kam sie ihnen auf die Schliche und sagte: ›Oh, so etwas kommt mir nicht ins Haus, ich bringe es augenblicklich auf die lange Koppel und verbrenne es.‹ Was sie auch tat, und zwar in einer Tonne, in der Gartenabfälle verbrannt werden. Sie holte einen großen Benzinkanister, schüttete ihn über das Ding und warf ein Streichholz hinein.

Tja, und wir spielten ganz sorglos Tennis, als uns plötzlich eine übel riechende Rauchwolke einhüllte und dieses große, schwarze Ding aus dem Nichts angeflogen kam und mich am Kopf traf. Die Rauchentwicklung war außer Kontrolle geraten, und die liebe Alte hatte Panik bekommen, das Ding über den Zaun gehievt und Fersengeld gegeben. Jack rannte zum Zaun und sah, dass sie trotz Gehstock wie ein Wiesel zum Haus rannte. Er raste zum Grill, um eine Zange zu holen, hob das Ding hoch, erkannte, was es war, bellte: ›Herrgott noch mal‹ und marschierte geradewegs zum Haus und klingelte.

Val löschte mich, indem sie ihre Strickjacke in den Fischteich tauchte und um meinen Kopf wickelte, dann eilten wir hinter Jack her, denn von nebenan war schreckliches Geschrei und Gebrüll zu hören, und Val war überzeugt, dass er der alten Dame etwas angetan hatte. Wir kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er den Dildo in einen Sektkübel steckte – sie tranken Champagner. Die Enkelin hatte sich auf dem Klo versteckt, und die Frau war in einem fürchterlichen Zustand, rannte würgend herum und riss die Fenster auf, weil es so stank.

Zuerst leugnete sie alles, aber ihre Gäste wussten natürlich Bescheid, und da stand ich mit der nassen Jacke um den Kopf und tropfte auf den Axminsterläufer.

Jack sagte: ›Madam, Sie sollten wenigstens den Anstand besitzen, Ihre lasterhaften Bedürfnisse zu unterdrücken, bis Sie in der Privatsphäre Ihres Schlafzimmers sind‹, und natürlich sagte sie: ›Wie können Sie es wagen‹, und ihr Sohn sagte: ›Unterstehen Sie sich, so mit meiner Mutter zu reden‹, so dass Jack sagte: ›Nun, sie ist diejenige, die brennende Dildos nach Fremden schmeißt, nicht ich.‹

Das regte sie nur noch mehr auf, weil sie Friedensrichterin ist und die Leute sie normalerweise mit gnädige Frau anreden und ihr Tee anbieten und all das, und da kommt Jack daher und erzählt ihr, sie sei pervers.

Als sie es dann zugab, tat er so, als glaubte er ihr nicht. Val war das Ganze schrecklich peinlich. Sie sagte später, sie fürchtete, die alte Dame würde umkippen und einen Herzinfarkt bekommen, und man würde Jack dafür verantwortlich machen, deshalb begann sie zu vermitteln und bot an, den Stein des Anstoßes zu entfernen.

Wir mussten Jack praktisch aus dem Haus tragen, und er schrie Val immer wieder an: ›Warum hast du es auf dich genommen, das Ding wegzuschaffen? Ich will ihre schwelenden ehelichen Hilfsmittel nicht in meinem Mülleimer haben. Warum wirft sie das Ding nicht in ihren eigenen? Was ist, wenn die Leute von der Müllabfuhr es finden? Wir werden sie dafür bezahlen müssen, dass sie schweigen. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: Jack Flowers' scharfe Liebesnacht bringt Sexspielzeug zum Schmelzen ...‹

Er zwang Val, das Ding in so viel Zeitungspapier einzuwickeln und zu verkleben, dass wir es kaum in die Mülltonne bekamen. Später hat sie mir erzählt, dass er unbedingt wissen wollte, an welchem Tag die Müllabfuhr kommt. Damit er sich hinter dem Vorhang verstecken konnte, um sich zu vergewissern, dass sie die Tonne leerten, ohne hineinzusehen ... Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja ... bestens ... entschuldige ...« Ich musste so lachen, dass ich kaum sprechen konnte.

Als ich endlich wieder Luft bekam, sagte ich: »Du sagtest ... Val ... Ist das Jacks Frau?«

»Ja, warum?«

»Er benimmt sich nicht so, als wäre er ... Bist du verheiratet?«

»Nein ... Nein! Du brauchst gar nicht so die Nase zu rümpfen. Du glaubst mir kein Wort, oder?«

»Zum Teil. Ich will dich was fragen. Als du mit mir im Mirabelle warst und Jack auch da war ...«

»Ja-a?«

»Wolltest du, dass wir alle drei zusammen im Bett landen?«

»Zusammen?« Lennys Gesichtsausdruck war so unbezahlbar, dass ich wieder lachen musste.

»Was sonst?«

»Na ja, also ...« Er sah mich nicht an.

»Das meintest du doch ... meintet ihr beide, oder? Ménage à trois

»Nicht gleichzeitig! Nur, du weißt schon ...«

Ich schüttelte den Kopf. »Du musst es mir schon erklären.«

»Eher ... abwechselnd.«

Ich sagte: »Oh, ich verstehe, immer abwechselnd«, ganz ironisch. »Werft ihr eine Münze, wer zuerst darf?«

Lenny machte ein verlegenes Gesicht, dann fing er an, sich zu verteidigen, und sagte: »Du wärest überrascht, wenn du wüsstest, wie viele Frauen auf solche Sachen stehen.« Und dann nannte er die Namen einiger bekannter Schauspielerinnen und eines Models. Ich kannte sie natürlich nicht persönlich, der Name einer der Schauspielerinnen überraschte mich allerdings, denn sie macht immer einen so prüden Eindruck und spielt sehr geradlinige Rollen. Bei der anderen wäre ich vielleicht selbst drauf gekommen, wenn ich darüber nachgedacht hätte.

»Wirklich? Stimmt das?«

»Na ja, sie haben doppelt so viel davon, oder? Doppelt so viel Aufmerksamkeit, doppelt so viel ...«

»Ich kann es mir vorstellen, du musst es nicht weiter beschreiben. Was hast du davon?«

Lenny dachte einen Augenblick nach und sagte dann, »Wahrscheinlich eine alte Gewohnheit. Als wir auf Tournee waren ... Wir waren immer pleite und mussten uns ein Zimmer teilen, also haben wir zusammengelegt und ein Mädchen ausgeführt anstatt zwei, aber wir haben nie ... nicht beide. Hast du das schon mal gemacht?«

»Was gemacht?«

»Mit zwei Männern gleichzeitig geschlafen?«

Ich sagte: »Nein, willst du es ausprobieren?«

»Mit zwei Mädels würde ich es tun.« Er verdrehte die Augen. »Zwei Typen und ein Mädchen klingt für mich ein bisschen schwul.«

Lenny war ganz anders als im Mirabelle, und ich ertappte mich dabei, dass ich ihm alles über ... na ja, alles Mögliche erzählte. Es war etwas ganz anderes, als immer nur nickend dazusitzen, ja, ja, ach, wie interessant, während irgendein Mann mich zu Tode langweilt. Oder es zumindest versucht. Ich aß kaum etwas, war viel zu sehr mit Reden beschäftigt, und dann kam der Kaffee, und Lenny begann, mir von seinem Vater zu erzählen.

»Er hat nie viel geredet, weil er ein Problem hatte, er vergaß immer die Bezeichnungen für alles Mögliche, und wenn er wütend wurde, war es noch schlimmer. Das Beste war, als ich einberufen wurde. Ich dachte, man könnte sich die Einheit aussuchen, was auch stimmte, aber die meisten landeten bei der Infanterie. Ich erklärte meinem Vater, ich wollte zur Marine, und er schaute mich an, sein Mund begann zu arbeiten, und dann sagte er: ›Was willst du denn bei denen? Da geht's doch nur ... um ... Wein, Weiber und Wichsen!‹

Er meinte Wein, Weib und Gesang. Das werde ich nie vergessen – Wein, Weiber und Wichsen. Zum Totlachen.«

»Was hat dein Vater gemacht?«

»Er hat in einer Chemiefabrik geputzt. Dort wurde viel mit Phosphor gearbeitet, und man bekam mehr Geld, wenn man diese Bereiche putzte, weil es gefährlich war. Wenn man Phosphor nicht feucht hält, ist er leicht entflammbar, und sie mussten damit im Trockenen arbeiten. Alle Arbeiter mussten Haare und Kleider nass machen, ehe sie anfingen, und nach der Arbeit mussten sie duschen und die Kleider wechseln.

Mein Dad war total verrückt nach Cowboyfilmen. Gott weiß, warum. Ich glaube nicht, dass der alte Knabe jemals in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hat, geschweige denn eins geküsst hat. Aber wenn es im Rialto einen Western gab, setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn sich anzusehen.

Eines Abends gab es einen Film mit Tom Mix. Das Problem war nur, dass er um sechs anfing und mein Vater nicht wusste, wie er es rechtzeitig schaffen sollte. Schließlich beschloss er, das Duschen wegzulassen und sich, so nass wie er war, aufs Fahrrad zu schwingen. Er trat wie ein Verrückter in die Pedale und schaffte es gerade noch, seinen Platz mitten in der ersten Reihe einzunehmen, wo er immer saß, weil er schlechte Augen hatte.

Er schaute sich also den Film an, und natürlich wurden seine Kleider langsam trocken. Auf dem Höhepunkt des Films steht Tom Mix hinter den Felsen, einen Arm um die Hüfte des Mädchens gelegt, und ballert rum, und die Rothäute schießen mit brennenden Pfeilen auf ihn ... Du kannst dir wahrscheinlich denken, was als Nächstes passiert ist. Dads Kleider waren von kleinen Phosphorteilchen übersät, die anfingen sich zu entzünden. Nicht alle auf einmal, sie flammten eher auf wie Streichhölzer. Die Kamera war so positioniert, dass es aussah, als schössen die Indianer ihre Pfeile direkt in den Zuschauerraum, und genau an der Stelle ging Dads Arm in Flammen auf.

Natürlich dachten die Zuschauer, der Film wäre Wirklichkeit geworden, alle schrien, und es gab eine panische Flucht aus dem Kino. Dad lief hinterher und schrie: ›Wasser, Wasser!‹ Einige Stellen an seinen Kleidern waren noch feucht, aber an seiner Jacke und der Hose züngelten immer wieder Flammen auf, je mehr sie trockneten, und all diese Leute warfen nur einen Blick auf ihn und ... keine Ahnung, ob sie glaubten, es wäre Zauberei, jedenfalls ergriffen alle die Flucht.

Irgendwann kam er zu einer Metzgerei, und der Inhaber überschüttete ihn eimerweise mit Wasser, aber es reichte nicht. Am Ende rief der Metzger einen Drogisten an: ›Wir haben hier einen Mann, der ständig in Flammen ausbricht, können Sie herkommen und ihn löschen?‹«

An der Stelle entstand eine Pause, und ich saß da, die Hand vor den Mund geschlagen, und dann sagte Lenny: »Du hast schon wieder diesen ungläubigen Blick.«

»Nein, nein, das ist es nicht ... aber ... dein Vater, hat er sich denn nicht verbrannt?«

Lenny runzelte die Stirn. »Weißt du was, ich glaube, das hat mich noch nie jemand gefragt. Die meisten glauben, es ist eine lustige Geschichte, und belassen es dabei.«

»Tut mir Leid. Aber was war jetzt? Hat er sich verbrannt?«

»Ja, an den Armen. Aber es war nicht übermäßig schlimm, denn sie haben ihn problemlos wieder zusammengeflickt. Mach nicht so ein besorgtes Gesicht, Bunny Alice. Weißt du was, warum gehen wir nicht zu mir und vergessen das Ganze?«

Und das taten wir. Es war wunderbar. Nicht ganz so aufregend wie das erste Mal, langsamer, aber in mancher Hinsicht sogar besser. Lenny küsste mich mitten auf den Bauch, und dann sagte er: »Jetzt werde ich herausfinden ... was genau ich tun muss ... damit du rot wirst.« Niemand hat das je zuvor mit mir gemacht, und es war wundervoll.

Nachher sagte ich, dass ich Hunger hätte, und wir gingen hinunter in die Küche. Ich machte Toast mit Sardinen, und Lenny fand im Kühlschrank eine Flasche Champagner, wir nahmen alles mit nach oben ins Bett und aßen dort. Anschließend leckten wir uns die Finger ab – eigentlich leckten wir einander gegenseitig die Finger ab –, und ich sagte: »Du hast es übrigens nicht geschafft.«

»Was?«

»Dass ich rot werde.«

»Nun, wenn es beim ersten Mal nicht klappt ...«

»Wie wäre es mit einem Sardinenkuss?«

»Wir riechen bestimmt wie zwei Katzen, die gerade eine Mülltonne inspiziert haben.«

»Wenn in Comics eine Mülltonne vorkommt, zeichnen sie doch immer Fischgräten, oder? Immer sehr groß ... so groß wie ... eine Katze ...«

»Alice?«

»Mmm ...?«

»Sei still.«

Das zweite Mal war noch besser. »Jetzt wirst du rot«, rief Lenny triumphierend.

»Werde ich nicht.«

»Wirst du doch. Siehst du?« Er reichte mir einen ganz kleinen Spiegel.

»Gar nicht. Den hast du wohl einem Wellensittich stibitzt, wie? Hast du das kleine Glöckchen auch mitgenommen?«

»Ha, ha.« Lenny nahm ihn mir aus der Hand und versuchte, seine kahle Stelle darin zu sehen. »So schlimm ist es gar nicht, oder? Wir drehen nächste Woche.«

»Kannst du dich nicht so hinstellen, dass die Kamera es nicht erfasst?«

»Ich kann wohl kaum die ganze Zeit nur mein Profil zeigen. Nicht die ganze Show über. Vielleicht können wir irgendetwas damit machen.«

»Du meinst, mit der Geschichte?«

»Mein liebes Kind, kannst du dir vorstellen, was geschehen würde, wenn einer von uns im Fernsehen eine Geschichte über einen Dildo erzählen würde? Wir wären auf der Stelle arbeitslos, und der Moralapostel der Nation, Mrs. Whitehouse, säße uns im Nacken.«

»Ich bin nicht dein liebes Kind. Ich bin zweiundzwanzig.«

»So alt schon? Das hätte ich nie gedacht.«

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen. Wie alt bist du?«

»Vierunddreißig.«

Er schaute wieder in den Spiegel. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, kann ich mir immer noch einen Fiffi beschaffen.«

»Häh?«

»Einen Fiffi. Eine Perücke, du Dummchen. Sie fallen sowieso bald alle aus. Das war bei meinem Dad genauso.« Er hörte auf, in den Spiegel zu grimassieren, und schaute mich an.

»Er hat uns erzählt, dass er seine Arme in ein Wasserbecken tauchen musste, während man den Phosphor abkratzte, und dann haben sie ihn in einen abgedunkelten Raum gesteckt, um zu sehen, ob seine Arme noch leuchten, so erkennt man eine Phosphorverbrennung – sie leuchtet im Dunklen. Muss eine echte Qual gewesen sein. Der Phosphor hat ihn umgebracht, nachdem er ihm so viele Jahre lang ausgesetzt war. Hat ihn vergiftet.«

»Oh, Lenny ...«

Eine Woche später erfuhr ich aufgrund irgendeiner Bemerkung von Jack, dass Lenny mich hinsichtlich seines Alters angelogen hatte. Er war nicht vierunddreißig, sondern siebenunddreißig.

Aber es war mir egal, denn ich hatte mich bereits in ihn verliebt.