»Was machst du denn hier?«
»Deine Bräune bewundern.«
Ohne eine Miene zu verziehen. Vielleicht ein paar Falten mehr, aber er sah so gut aus wie eh und je. Oder sogar noch besser. Es haute mich total um, und ich war sprachlos.
»Komm doch herein.« Eustace hatte angefangen, missbilligende leise Bellgeräusche zu machen, was er immer dann tut, wenn er nicht weiß, ob er bellen soll oder nicht. Deshalb ging ich mit Jack schnell in die Küche und machte meinem Vierbeiner die Tür vor der Nase zu, ehe er sich entscheiden konnte.
»Was war das denn?«
»Mein Hund. Warum ... ich meine, was machst du hier?«
»Dich besuchen natürlich. Ich dachte, ich bleibe ein paar Tage, wenn es dir recht ist.«
Er sah mir direkt ins Gesicht. Ich musste zuerst wegschauen, es war erbärmlich. Total nervös war ich, und er merkte es.
»Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben«, sagte ich und versuchte mich zusammenzureißen.
Jack streckte mir die Blumen entgegen, als hätte ich nichts gesagt.
»Die habe ich dir mitgebracht.«
»Nett von dir«, sagte ich mechanisch.
»Also dann. Wohin?«
Ich beobachtete Jack, wie er sich in der Küche umschaute, und sah sie mit seinen Augen: das schmutzige Linoleum, das Geschirr im Spülbecken, der Sattel auf dem Sessel, Hundehaare auf dem Sofa, und mich selbst, barfuß, in einem schmuddeligen T-Shirt und der Jeans, die über den Knien abgeschnitten war. Ein Wassertropfen aus dem Abtropfgestell im Schrank über der Spüle landete auf seinem Kopf.
»Was ist das, was da hängt?«
»Ein Gurt.«
»Oh. Was für ein Gurt?«
»Ein Sattelgurt. Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem Zug. Das Taxi hat mich am Tor abgesetzt. Ich dachte, ich bleibe ein paar Tage. Du kannst bestimmt ein bisschen Gesellschaft gebrauchen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, hier draußen so ganz allein.«
Ich starrte ihn an.
»Jack, wir haben uns seit Lennys Beerdigung nicht gesehen.«
»Du hast nicht ein einziges Mal an mich gedacht, oder?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Doch, natürlich habe ich an dich gedacht«, sagte ich zurückhaltend. »Erst neulich habe ich mich gefragt, ob du ...«
Um mich abzulenken, ließ ich den winselnden Eustace herein, der es sich auf dem Sofa bequem machte und augenblicklich einschlief.
»Du musst nicht so tun als ob, Alice. Es gibt jemand anderen, oder?«
»Was soll das heißen, jemand anderen?«
»Einen anderen Mann.«
»Einen anderen Mann? Selbst wenn, glaube ich nicht, dass ...«
»Es war ein Witz, Schätzchen.«
»Das klang aber nicht so.«
»War es aber. Du hast nie gerne die Gefühle anderer Menschen verletzt, wie? Bist du deshalb vor all den Jahren mit mir ins Bett gegangen?«
»Nein! Hör auf, Jack! Ich verstehe nicht, was ...«
Jack fiel mir ins Wort. »Lenny hat dieses Haus gekauft, nicht wahr?«
»Ja.«
Zu meiner Bestürzung füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich wandte den Kopf ab, war jedoch nicht schnell genug.
»Schon gut, Schätzchen. Jetzt bin ich ja da.« Als hätte ich ihn gebeten zu kommen. Ehe ich antworten konnte, sagte Jack: »Macht er das immer?«
»Wer?«
»Dein Hund. Lässt er seinen Arsch immer so über die Sofakante hängen, wenn er schläft?«
»Immer. Jack, ich weiß nach wie vor nicht ...«
»Sieht so aus, als ob er gleich abrutscht, findest du nicht? Ich verstehe nicht, wie das bequem sein soll. Wie heißt er?«
»Eustace. Jack, warum bist du eigentlich hier?«
»Ich bin hier, weil ich dich sehen will. Eigentlich. Und London ist wie ein verdammter Hochofen. Egal, wenn ich schon mal hier bin, könntest du mir auch etwas zu trinken anbieten. Und gegen etwas zu essen hätte ich auch nichts.«
»Ich kann dir ein Käsesandwich machen, und ich glaube, ich habe noch etwas Scotch ...«
Ich legte die Rosen ins Spülbecken und begann, Sachen aus dem Kühlschrank zu holen. »Cheddar?«
»Egal. Ein hübsches altes Haus ist das.«
Er ging zum Tisch und nahm eine Trense in die Hand, während ich mich aufs Brotschneiden konzentrierte. »Ich möchte das nicht im Mund haben. Hast du ein Pferd?«
»Zwei. Gurke?«
»Warum nicht. Wo ist der Schnaps?«
»Oh, entschuldige. Schau mal in dem Schrank in der Ecke.«
Jack steckte den Kopf in den Schrank und tauchte mit einer älteren Flasche Johnny Walker wieder auf. Ich hatte gehofft, er würde sich hinsetzen, doch er lehnte sich an den Küchentresen und sah mir zu. »Du bist immer noch umwerfend. Ein wenig zerzaust, aber umwerfend.«
»Danke. Weiß Val übrigens, dass du hier bist?«
»Und immer noch zynisch. Du hast mir noch keinen Kuss gegeben.«
»Stimmt.«
Ich sagte es so belanglos wie möglich und wandte den Blick nicht vom Schneidebrett.
»Ich habe viel an dich gedacht.« Jack legte eine Hand auf meinen Arm, und ich sprang hoch. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Er ließ meinen Arm los und bepustete seine Fingerspitzen, als hätte er sich verbrannt. »Puh! Du warst zu lange allein. Das merkt man deutlich.«
»Tut mir Leid. Es ist nur ...«
»Früher hast du nie so reagiert. Ganz im Gegenteil, soweit ich mich erinnere.«
Ich holte tief Luft. »Jack, bitte nicht.«
»Na gut.« Er deutete auf den Brotlaib. »Was ist das? Ein Hundekuchen?«
»Brot. Ich habe es gebacken.«
»Gebacken? Was glaubst du, wozu es Supermärkte gibt?« Er betrachtete den feuchten Ziegelstein, den ich für ihn zubereitet hatte. »Nicht gerade ein Leckerbissen, oder?«
»Tut mir Leid. Wenn ich es dünner schneide, fällt es auseinander.«
Jack pulte ein Stückchen von der obersten Scheibe, kaute und machte ein überraschtes Gesicht. »Nicht schlecht. Auf jeden Fall schmeckt es braun.«
»Weiß Val, dass du hier bist?«
»In gewisser Weise.«
»Und welche Weise ist das?«
»Na ja, sie weiß, dass ich nicht zu Hause bin, also muss ich woanders sein, aber es kümmert sie nicht, wo ich bin.«
»Ich wette, es kümmert sie doch. Hattet ihr Streit?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Die Sache ist die: Sie ist zurzeit mit ihren Gedanken woanders. Wegen Rosalie. Sie macht mal wieder Examen. Diesmal in Kunst. Sie und ihr Freund haben sich dieses so genannte Projekt ausgedacht, wo sie von jeder Seite im Exchange and Mart, dieser Tauschbörse, eine Sache kaufen. Dann machen sie Fotos davon und fotografieren die Leute, die sie verkaufen, und die Orte, wo sie herkommen. Überall steht Zeug rum, Kinderwägen, Betten, Skistiefel, alles Mögliche. Es sieht aus wie am Set einer Sitcom. Es gibt auch ein Auto. Eine dreckige, alte Rostlaube. Val ist außer sich vor Wut. Nicht wegen Rosalie, wohlgemerkt. Sie sagt, es ist alles meine Schuld, weil ich ihr das Geld geliehen habe.«
»Und warum hast du es ihr geliehen?«
»Ich dachte, es wäre für Farben und so was. Ich habe zu Rosalie gesagt: ›Das ist keine Kunst, das ist Konsum‹, und sie hat geantwortet: ›Das ist der Punkt.‹ Am Ende stellen sie das ganze Zeug auf ein Fließband und filmen es, damit es so aussieht, als wären es Preise in einer Quizshow
Dann habe ich Val gefragt: ›Wer will so etwas sehen? Lieber schaue ich mir das Testbild an.‹
Das Geld habe ich Rosalie nur geliehen, weil ich wollte, dass sie den Sommer über nach Hause kommt und nicht mit ihrem widerlichen Freund weiß Gott wohin trampt. Der Typ sieht aus wie ein Streuselkuchen, so viele Pickel hast du noch nie gesehen. Und er zieht sich an wie eine völlig irre Tunte.«
»Sie ist doch sicherlich alt genug, um selber zu wissen, was sie tut?«
»Ja, aber sie ist meine Tochter, und ich lasse nicht zu, dass dieser ... Troll ... sie misshandelt.«
»Alle Frauen sind die Töchter von irgendjemandem, Jack, ob du es glaubst oder nicht. Warum setzt du dich nicht?«
»Gleich.«
Ich nahm den Rosenstrauß, und während ich die Stiele von den unteren Blättern befreite, um sie besser in eine Vase zu bekommen, stellte Jack sich hinter mich – zu nah. Ich konnte seinen Atem spüren. Ich beugte mich über die Blumen und versuchte, ihn zu ignorieren. Er küsste meinen Nacken. Diesmal war ich vorbereitet. Ich sprang weder hoch noch bewegte ich mich, ich blieb einfach stehen und ließ ihn gewähren. Ich hatte nichts dagegen. Eigentlich war es sogar ganz schön, mal wieder von jemandem berührt zu werden, ich hatte Jack ja immer schon attraktiv gefunden, und es war gut – beruhigend –, jemanden dazuhaben, selbst wenn ich eigentlich nicht wusste, warum er gekommen war ...
»Es tut gut, dich wiederzusehen«, murmelte en »So gut ...« Er legte die Hände auf meine Schultern. Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, und plötzlich sah ich Lennys Gesicht vor mir, seine Augen blickten in meine Augen, als wäre er auf mir, kurz vor ...
»Verspann dich nicht, Alice.«
»Tue ich nicht, es ist nur ...«
Ehe ich mich versah, schossen Jacks Hände an meinen Armen herunter, und er packte meine Hände und verdrehte sie hinter meinem Rücken. »Wirst du dich jemals entspannen?«
»Jack, du tust mir weh.«
»Du wehrst dich.« Es klang, als hätte er Spaß.
»Natürlich wehre ich mich, verdammt noch mal«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Jack, bitte.«
»Sag, dass du dich freust, mich zu sehen.«
»Ich freue mich, dich zu sehen«, keuchte ich. »Und jetzt – lass los.«
Er ließ meine Hände fallen und trat zurück. Ich drehte mich um und fuhr ihn an: »Was hast du dir dabei gedacht? Das hat wehgetan.«
»Entschuldigung«, sagte er. Er sah nicht so aus, als meinte er es. Seine Stimme klang mechanisch, sein Blick war leer.
Ich schob mich an ihm vorbei zur Anrichte. »Du brauchst ein Glas.«
Jack nahm den Whisky und das Sandwich mit zum Tisch und setzte sich, als wäre nichts geschehen. Ich folgte ihm mit einem Glas, dann widmete ich mich wieder den Rosen.
»Was ist los?«, fragte ich und hoffte, nicht so verschreckt zu klingen, wie ich mich fühlte.
»Ich habe versucht, den Text für ein Stück zu lernen, in dem ich spielen soll, aber bei all dem Krach – und dazu noch als persona non grata für Val – hielt ich es für besser, mein Lager woanders aufzuschlagen. Also sagte ich mir, warum besuche ich nicht meine alte Freundin Alice, sie ist bestimmt ganz einsam, so ganz allein da draußen.«
»Ein netter Gedanke, aber mir geht es gut. Ehrlich.«
»Du weißt, dass ich dich immer schon mochte, Süße. Du hast mir Leid getan. Ich habe von deinem wie heißt er gleich noch gehört. Deinem Mann.«
»Jeff Jones. Was ist mit ihm?«
»Wirst du zu ihm zurückgehen?«
Ich seufzte. »Wir sind geschieden.«
»Vernünftiges Mädchen. Einmal ein Ehebrecher, immer ein Arschloch, hör auf meine Worte.«
»Jack! Was du da sagst, ist scheußlich.«
»Tut mir Leid. Es ist nur, weil ich dich so mag, Schätzchen. Ich werde dir nicht im Weg sein. Ich kann mich in den Garten setzen. Und ich kann dir helfen, die Garben einzubringen oder was auch immer du tust. Es ist bestimmt nett, ein paar Tage auf dem Land zu verbringen.«
Ich gab auf. »Hör zu, ich bin müde. Du kannst über Nacht bleiben, und wir reden morgen früh weiter. Ich habe ein Gästezimmer. Ich hole Bettwäsche, während du isst.«
Jack schob das halb gegessene Sandwich beiseite.
»Ich komme mit. Ich bin es nicht gewohnt, solche Mengen zu kauen.«
»Na gut.«
Ohne nachzudenken beugte ich mich vor und wollte nach der Flasche Scotch greifen, um sie zurück in den Schrank zu stellen, doch Jack war schneller. Unsere Blicke trafen sich über der Flasche.
»Ich hätte nichts gegen ein zweites Glas«, sagte er und nahm mir die Flasche aus der Hand. Einen Augenblick später sagte er: »Keine Sorge, ich bin nicht ... es geht mir gut. Es war ein langer Tag, mehr nicht.«
Ich antwortete nicht. Jack sah verärgert aus. »Alice, Herrgott noch mal ... mir geht es gut.«
»Sicher?«
»Ja!«
Er versuchte nicht noch einmal, mich anzufassen, er saß einfach im Gästezimmer auf dem Sessel, goss sich Whisky ein und sah mir zu, wie ich das Bett bezog. Als ich fertig war, sagte er nur: »Gute Nacht, mein Schatz. Morgen kaufe ich dir ein geschnittenes Weißbrot.«
Ich nahm bewusst den Whisky wieder mit nach unten. Die Geschwindigkeit, mit der Jack an die Flasche gekommen war, die Art, wie sich unsere Hände in meinem Nacken berührt hatten, der Ausdruck in seinem Gesicht ... Das alles erinnerte mich so sehr an Lenny. Jack war nie ein großer Trinker gewesen, soweit ich mich erinnern kann. Na ja, er trank, aber eher wie die meisten Menschen, nicht bis zum Exzess. Vielleicht bildete ich es mir ja nur ein.
Was soll's, dachte ich und goss mir einen ein. Ich nahm das Glas mit auf den Hof, lehnte mich an die Mauer zur Küche, hörte zu, wie Eustace unter der Hecke herumschnüffelte, und versuchte herauszufinden, wie ich mich fühlte. Verwirrt? Ja. Aber Angst hatte ich eigentlich keine. Nicht wie vorhin. Ich war eher ... distanziert.
Vielleicht liegt es am Scotch, dachte ich und trank noch einen Schluck. Ich war das Trinken nicht gewohnt. Den Zeitungsausschnitt hatte ich wann bekommen? Am Montag. Und am Donnerstag taucht aus heiterem Himmel Jack hier auf. Vielleicht ist es ein Zufall, aber nach sechs Jahren ... Vielleicht hat er den Ausschnitt geschickt. Aber warum, wenn er sowieso vorhatte herzukommen? Warum hat er ihn dann nicht einfach mitgebracht?
Ich war mir nicht sicher, welche Gefühle ich Jack entgegenbrachte. Eine Mischung verschiedenster Empfindungen. Ihn in meiner Küche zu sehen hatte Lenny so überdeutlich zurückgebracht, dass ich das Gefühl hatte, er könnte jeden Augenblick zur Tür hereinspazieren, als wäre er überhaupt nicht tot, sondern hätte sich in die Kneipe verdrückt oder so. Es war irrational, aber ... Was? Jacks Lebendigkeit, seine Kraft, seine ... O Gott. Was mache ich hier?
Ich hatte Jack seit Lennys Beerdigung nicht gesehen. Zu schmerzlich. Er hatte wahrscheinlich über mich dasselbe gedacht. Und trotzdem fühlte ich mich, als wäre ich sechs Jahre lang im Koma gewesen und gerade erst aufgewacht. Immer mit der Ruhe, Alice, dachte ich. Mit Jack zusammen zu sein – mit Jack ins Bett zu gehen – würde Lenny nicht zurückbringen. Und so wie er sich in der Küche benommen hatte, seine Stimme hatte fast so geklungen, als wollte er mir wehtun. Und er hatte mir wehgetan. Nicht sehr, aber genug. Das hatte ich mir nicht eingebildet.
Trotzdem erregte er mich immer noch. Sinnlos, so zu tun, als wäre es nicht so. Ich hatte schließlich mit ihm geschlafen. Vor ewigen Zeiten. Er hatte angefangen, aber ich hätte schließlich nein sagen können? Ich hatte es auch gewollt, es war genauso meine Schuld wie seine. Er hatte mich getröstet, nach diesem schrecklichen Streit mit Lenny wegen des Nerzmantels, den er mir zum Geburtstag gekauft hatte und den ich mich weigerte anzuziehen. Es war das erste Mal gewesen, dass ich Lenny so rasend gesehen hatte, und es hatte mir Angst gemacht. Wütend tigerte er um mich herum, nannte mich eine undankbare Schlampe, sagte, ich sollte mich zum Teufel scheren, und seine Augen waren eiskalt gewesen, als er das sagte.
Jack war da gewesen, sie hatten an irgendwas gearbeitet, und er hatte angeboten, mich nach Hause zu bringen.
Wir gingen zu mir, ich war immer noch ziemlich außer mir, er gab mir einen Kognak, legte seinen Arm um mich, und eins führte zum anderen. Jack schwor heilige Eide, Lenny niemals zu erzählen, was geschehen war, und Lenny fragte nie. Aber ich hatte mich oft gefragt, ob er einen Verdacht hatte, und wenn ja, ob das ein Grund für ihren Streit gewesen war.
Plötzlich hatte ich wieder das Bild vor Augen: Jack, der meine Handgelenke hinter meinem Kopf festhält und mich auf dem Bett festnagelt. Er war so kraftvoll gewesen. Es gefiel mir, und das wusste er. Aber das war das einzige Mal gewesen. Ich hatte dafür gesorgt, dass es nicht noch einmal geschah. Weil ich nicht darüber nachdenken wollte, würde ich auch nicht darüber nachdenken. Ich leerte das Glas, rief Eustace ins Haus, machte die Lichter aus, ging nach oben ins Bett und schlief ein, der Hund zusammengerollt in meinen Kniekehlen.
Lautes, drohendes Knurren weckte mich. Ich setzte mich auf, knipste die Nachttischlampe an und sah Jack am Fußende meines Bettes stehen. Nackt und blinzelnd, mit offenem Mund, schlaffem Gesicht und wirrem Blick, als wäre er nicht richtig wach. Eustace fixierte ihn grollend wie ein Vulkan. Wie lange stand er schon da? Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören, allerdings hatte ich auch nicht daran gedacht, die Schlafzimmertür zu schließen. Er kam an meine Seite des Bettes. Zitternd vor Entrüstung kletterte Eustace über meine Beine, um ihm die Grenze zu zeigen. »Was ist los, Jack?«
Jack machte einen Schritt auf mich zu. Eustace spannte die Vorderbeine an, warf das Kinn nach vorn und fing an zu bellen; meine Versuche, ihn zu beruhigen, ignorierte er einfach. Von Eustace in Schach gehalten, murmelte Jack: »Kann nicht schlafen ... hast mir gefehlt ... bitte ...«
»Sei still, Eustace!«
Eustace bellte weiter.
».... hast gesagt, du vermisst mich ...«
»Ich habe gesagt, dass ich an dich gedacht habe, Jack«, rief ich, »das ist nicht ganz dasselbe.«
»Ich habe dich nie vergessen. Bitte, Alice – verdammte Töle – lass mich ...«
»Was willst du?«, rief ich über den Krach hinweg.
»... bei dir sein ... kann es nicht ertragen ... bitte, lass mich ...«
»Geh einfach wieder ins Bett, Jack, um Himmels willen. Er wird nicht aufhören.« Jack wich, immer noch vor sich hin murmelnd, einen Schritt zurück.
Ich hörte: »Ich brauche ...«, doch das Bellen war in ein Heulen übergegangen, so dass der Rest unterging.
»Jack, warum gehst du nicht wieder ins Bett, versuchst, ein bisschen zu schlafen, und wir klären das morgen? Du wirst dich erkälten, wenn du hier bleibst.«
Er wandte sich ab. Von hinten sah er kläglich aus, ein geschlagener Mann. Ich hatte Lenny ein paar Mal so gesehen, aber nie Jack. Fast – aber nur fast – wäre ich aufgestanden und ihm nachgegangen. Eustace folgte ihm bis zur Tür und legte sich quer über die Schwelle wie ein Polster gegen Zugluft. Nach all dem Radau lastete die Stille schwer wie eine Decke auf mir.
Seine Verletzlichkeit hatte mir Angst eingejagt. Das war nicht der Jack, den ich kannte. Die Geschichte in der Küche ... ich weiß nicht. Irgendwie konnte ich damit besser umgehen. Das war schon eher der alte Jack ... Aber das hier war anders. Schutzlos. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er war doch immer unerschütterlich gewesen, mit Nerven wie Drahtseile. Und total zuverlässig bei der Arbeit. Egal, was passierte, er war immer pünktlich, sorgte dafür, dass die Zuschauer etwas für ihr Geld bekamen, und schickte sie lachend nach Hause. Durch und durch professionell. Das sagte jeder über ihn.
Als er und Lenny Zebras zum Frühstück im Fortune spielten und Lenny total durchgedreht war, ging Jack Abend für Abend auf die Bühne und blödelte für ihn mit. Einmal hat er beinahe eine Stunde lang altmodische Stand ups gebracht, während Lenny sich in der Garderobe erbrach, weil er zu viel Antabus genommen hatte. Oder eher, weil er Antabus genommen und gleichzeitig getrunken hatte. Ich habe immer zugeschaut. Lenny wollte mich im Theater haben, deshalb arbeitete ich nachmittags – zitternd stand ich da und dachte, was wird diesmal passieren, aber Jack ließ sich nie etwas anmerken ...
Doch jetzt stimmte irgendwas nicht. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Diese Leere in seinem Gesicht in der Küche, als hätte jemand den Schalter in seinem Innern auf Aus gestellt. Und jetzt das hier. Vielleicht hatte ich Recht, und er trank doch. Oder nahm etwas anderes. Drogen?
Soweit ich sehen konnte, war er immer noch ziemlich gut in Form. Ob er wohl noch diese Schlankheitspillen nahm? Er klaute sie den Mädchen aus den Badezimmerschränken, genauso wie er Don Findlaters Sekretärin ständig Schokoladenriegel aus dem Schreibtisch geklaut hatte. So hat es angefangen. Dons Sekretärin hieß Araminta. Minty – wie Minze. Sie war allerdings eher wie eine alte Zitrone, aber sie hatte immer einen Vorrat an Schokoriegeln in einer Schreibtischschublade, weil sie und Don gern Süßes aßen. Minty war sauer auf Jack, aber sie war es leid, jedes Mal aufzupassen, wenn er reinkam, also schrieb sie Fettwanst auf einen Zettel und legte ihn statt der Schokolade in die Schublade.
Lenny fand das zum Brüllen, aber Jack war echt betroffen. Er bekam einen Komplex. Amphetamine halten wach, oder? Und dazu der Whisky ... Aber selbst wenn ... Ich würde die Hand nicht dafür ins Feuer legen, doch irgendwas war da noch.
Er ist total fertig, dachte ich. Ich kann ihn nicht einfach rausschmeißen. Und außerdem ... ich machte das Licht aus. Es war leichter, den Dingen im Dunkeln ins Auge zu sehen. Wenn Eustace nicht gewesen wäre ... Jack brauchte mich. Brauchte irgendjemanden. Und es war zwecklos, mir da was vorzumachen – ich auch. Jack hatte Recht, als er sagte, ich sei zu lange allein gewesen. Und was Val betrifft, Jack ist einfach chronisch untreu. Manche Männer sind so. Ihre Frauen akzeptieren es entweder oder gehen, und Val war geblieben. Wenn ich es nicht bin, dachte ich, ist es eine andere. Deswegen ist es nicht richtig, aber ...
Gar nichts von all dem ist richtig, dachte ich. Lennys Tod war nicht richtig. Anonyme Zeitungsausschnitte mit der Post zu bekommen ist auch nicht richtig. Was geschieht hier?
Morgen früh werde ich mit Jack reden. Wenn er seinen Kater los ist.
Es war stickig im Zimmer. Ich stand auf und ging zum Fenster, um es zu öffnen. An der Türschwelle hob Eustace kurz den Kopf und drehte sich dann auf die andere Seite. Ich hockte mich neben ihn und kraulte seinen Bauch. Das Haus war still. Nach ein paar Minuten begann Eustace sanft zu schnarchen, und ich ging zurück ins Bett.