Kapitel 9

Auf dem Weg ins Dorf sagte ich: »Du warst in meinem Zimmer, nicht wahr?«

»Was?«

»Während ich reiten war. Du warst drin.«

»Nein, war ich nicht.«

Ich sah ihn an. Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, und der Rest seines Gesichts gab nichts preis. »Wirklich nicht? Meine Sachen waren ganz durcheinander.«

»Das muss er gewesen sein.« Jack nickte in Richtung Eustace, der neben mir hertrottete.

»Nein.«

»Dann warst du es selber. Gib's zu, Süße, du bist nicht gerade eine super Hausfrau.«

»Ich war es aber nicht.«

»Du bist paranoid. Du warst zu lange allein.«

»Na gut, du warst es nicht. Aber ... Hör mal. Hast du mir etwas mit der Post geschickt? Einen Zeitungsausschnitt?«

»Nein.« Jack schüttelte den Kopf. »Auch das war ich nicht.«

»Ich habe ihn vor ein paar Tagen bekommen. Es stand was über ein Skelett, das man in einem See gefunden hat, drin. In einem Auto.«

»Ach ja?«

»In Wiltshire. Das erinnerte mich an diese Party.« Ich machte eine Pause, aber Jack sagte nichts. »Ich dachte, vielleicht warst du das. Es war merkwürdig, mehr nicht.«

»Welche Party meinst du?«

»Die in Ivar Park. Vor einer Ewigkeit.«

»Ich würde mir keine Gedanken machen. Wenn du wüsstest, was ich schon alles mit der Post bekommen habe. Es gibt eine Menge seltsame Menschen da draußen.«

»Dieser seltsame Mensch weiß, wo ich wohne.«

»Das ist kein Geheimnis, oder? Du stehst im Telefonbuch. Mach nicht so ein besorgtes Gesicht. Ich bin da, oder?«

»Ja, aber ...«

»Was aber?«

»Ich weiß auch nicht. Es ist einfach merkwürdig. Ich meine, wenn sie – wer auch immer das geschickt hat – dachten, ich hätte was damit zu tun, oder ...«

»Aber das hast du nicht, oder?«

»Natürlich nicht! Ich habe doch niemanden umgebracht. Und selbst wenn ich es wollte, würde ich denjenigen kaum ertränken ...«

»Stand das da drin? Dass sie ertrunken ist?«

»Nein, nur dass sie ein Skelett gefunden haben. Ich nehme an, sie können es nicht sagen. Und sie haben nicht geschrieben, dass es eine Sie ist.«

»Ach nein?«

»Du erinnerst dich doch, oder? Das Mädchen, das vermisst wurde. Kitty. Lenny kannte sie.«

»Wirklich?«

»Ja! Deswegen habe ich ihn verlassen, erinnerst du dich nicht mehr?«

»Dunkel. Damals war viel los. Lenny war fix und fertig, das weiß ich noch. Aber wer hat dir das Ding geschickt?«

»Keine Ahnung. Sonst würde ich ja nicht fragen.«

»Reg dich ab, man könnte denken, du hast einen Verfolgungswahn.«

»Ich habe es mir nicht eingebildet, Jack. Weder den Zeitungsausschnitt noch das Chaos in meinem Schlafzimmer.«

»Nun, es lohnt sich nicht, sich deswegen Sorgen zu machen. Wenn ich du wäre, würde ich keinen weiteren Gedanken daran verschwenden. Hat Lenny dir je erzählt, wie er mal einen Aufzugschacht hinuntergefallen ist?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Hat er? Es ist eine super Geschichte.«

»Mmm – ich glaube nicht.«

»Also, wir waren im East End, um uns eine Travestieshow anzusehen, Dockyard Doris, lief schon seit Jahren, und landeten anschließend in einem indischen Lokal in der Brick Lane. Wir saßen oben, und es gab dort einen Essensaufzug, der aber leider kaputt war, deshalb stand ein Kind auf einem Stuhl in der Küche, und wir sahen immer wieder eine kleine braune Hand mit einem Currygericht aus diesem Loch auftauchen wie das Schwert Excalibur. Lenny ging hin, um einen Blick hineinzuwerfen, und natürlich hatte er schon ein paar Drinks intus ... Das Nächste, was ich sah, war sein Hintern in der Luft. Er war kopfüber hineingefallen. Hat den armen, kleinen Scheißer da unten beinahe umgebracht. Wir fanden ihn, alle viere von sich gestreckt, auf dem Küchenboden, überall Stuhlteile, und um ihn herum Beschwörungen murmelnde Kellner, die ihn mit Rosenwasser bespritzten ... Herrgott, war das komisch.«

Es klang einfach nicht richtig. Ich war mir sicher, dass Jack in meinem Zimmer gewesen war, und sicher, dass er sich besser an Kitty erinnerte, als er zugab. Rund sieben Jahre sind eine lange Zeit, aber er tat zu vage, zu ablehnend. Er wollte eigentlich gar nicht über Lenny reden, hatte die lustige Geschichte nur dazu benutzt, das Thema zu wechseln – es war eine Art, Menschen auf Abstand zu halten. Jack erzählte noch eine Geschichte über Lenny und dann noch eine. Ich hörte zu, nickte und lächelte und dachte: Ich glaube dir kein Wort.

Als wir bei unserem Dorfladen waren, wartete ich mit Eustace draußen, während Jack hineinging. Aus Langeweile griff ich nach dem Mirror auf dem Zeitungsständer und blätterte ihn durch. BETEN UM REGEN, DENNIS FÜHRT SCHLACHT GEGEN TROCKENHEIT, SKORPION IN DER POST – EHEMANN TERRORISIERT FRAU ... Aber ich fand nichts über Leichen in Seen.

Jack steckte den Kopf aus der Ladentür: »Warum liest du das Witzblatt?« Er entriss mir die Zeitung und stopfte sie zurück auf den Zeitungsständer. »Hast du Pilze?«

»Nein.«

»Dann hole ich welche.«

Er ging zurück in den Laden. Ich wartete einen Augenblick, ehe ich mir die Zeitung wieder nahm. VERGEWALTIGER IN SEXSCHOCKER, WAS ALLE FRAUEN FÜRCHTEN VON MARJE PROOPS, SPAREN SIE ... Rein gar nichts.

Jack kam mit einer Plastiktüte wieder heraus. »Das ging schnell.«

Er schnappte sich die Zeitung aus meiner Hand. »Entschuldige, aber ich lese gerade.«

»Das solltest du nicht tun. Du verdirbst dir die Augen und stirbst, und was ist dann?« Es sollte wie die Ermahnung eines Kindermädchens klingen, aber es klang falsch, gezwungen, und seine Hände zitterten, als er versuchte, die Zeitung zusammenzufalten. Schließlich knüllte er sie zusammen und warf sie in den Papierkorb. Ganz oben entzifferte ich die Worte: LEICHE IN PORNOWOHNUNG GEFUNDEN.

»Schau, was du angerichtet hast.« Ich reichte ihm Eustaces Leine.

»Was hast du vor?«

»Ich werde die Zeitung bezahlen.«

Im Laden sagte Mrs. Brown: »Irgendwoher kenne ich Ihren Freund. War er nicht im Fernsehen? Kommt mir vor wie ein alter Bekannter.«

»Jack Flowers.«

»Genau! Ich wusste doch, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Da war doch noch einer dabei?«

»Lenny Maxted.«

»Genau. Lenny Maxted. War mir ja immer zu hoch, was die so geredet haben. Ich mag's lieber, wenn ein bisschen Tanzen und Singen dabei ist.« Sie lehnte sich über den Tresen. »Er lässt Sie keinen Augenblick aus den Augen, was?«

»Wie bitte?«

»Na ja, er ist andauernd zum Fenster gegangen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er da will. Verzeihen Sie, meine Liebe, aber ich dachte, Sie wissen schon, er ist vielleicht nicht ganz richtig im Kopf. Aber dann habe ich Sie da draußen gesehen.« Sie lächelte und sagte verschwörerisch: »Ist bestimmt schön für Sie, meine Liebe. Es ist nicht gut, allein zu sein. Nicht in Ihrem Alter.«

Mir fiel einfach keine Antwort ein, die nicht jede Menge weiterer Fragen nach sich gezogen hätte, deshalb nickte ich nur und hoffte, sie würde mich für schüchtern halten.

Als ich wieder draußen war, stand Jack immer noch neben dem Papierkorb und starrte hinein. Er musste in der Zwischenzeit die Zeitung umgedreht haben, denn statt der Porno-Überschrift war jetzt PICCADILLY KING SIZE NUR 45P. zu lesen. Er wirkte gereizt.

»Jack? Da steht doch nichts über dich drin, oder?«

»Nein. Herrgott, nimm den Hund und lass uns gehen.«

Er lief so schnell voraus, dass ich praktisch rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten. In meinem Kopf ging alles durcheinander. Was sollte das Getue mit der Zeitung? Er hatte versucht, es als Witz darzustellen, aber er hatte verhindern wollen, dass ich sie las. Vielleicht, weil ich ihm von dem Zeitungsausschnitt erzählt hatte? Wie auch immer, es ergab einfach keinen Sinn: Woher wusste er, was in der Zeitung stand? Es war nicht die heutige, und ich habe keine abonniert, also konnte er es nicht gesehen haben. Es sei denn, er wusste bereits von der Geschichte mit Kitty, wenn es darum überhaupt ging, und fürchtete, ich würde noch mehr herausfinden.

In der Kurve blieb Jack stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und schnippte das Streichholz in die Hecke. Ich sprang hinterher. »Bist du wahnsinnig geworden, du könntest einen Großbrand auslösen!«

»Tut mir Leid.« Er lächelte mich an. Es erinnerte mich an Lenny, damals beim ersten Mal im Heuschober. Er sah mich einen Moment lang an, dann sagte er: »Einen Penny für deine Gedanken.«

»Darf ich dich mal was fragen?«

»Nur zu.«

»Als ... du und ich ... Du hast doch Lenny nichts erzählt, oder?«

»Nein, Schätzchen.«

»Auch nicht, als ihr in Amerika wart, oder ...«

»So ein Mistkerl bin ich nun auch nicht, Alice«, sagte Jack sanft.

Ehe ich antworten konnte, hörte man Hufe klappern, und ein schwarzes Shetlandpony mit wehender Mähne und schlenkernden Steigbügeln schwankte um die Ecke. Als es uns da mitten auf der Straße wie festgewachsen stehen sah, stoppte es so abrupt, dass es sich beinahe auf den Hintern setzte. Ich griff nach den herunterhängenden Zügeln. Mit wild rollenden Augen warf das Pony den Kopf in den Nacken und wich zurück.

»Ist ja gut.« Ich streichelte seine Nase. Es versuchte, mir ein Stück aus dem Arm zu beißen.

»Wo ist das denn hergekommen?«

»Muss den Boyles gehören.«

»Wem?«

»B-O-Y-L-E-S. Meine Nachbarn. Sie haben mehrere solche Ponys. Wahrscheinlich sind sie auch gleich hier.«

Wie aufs Stichwort hörte ich Schreien und das Klappern von Hufen, und drei weitere zottige Ponys, diesmal mit Kindern auf dem Rücken, erschienen im Galopp auf der Bildfläche.

»Wahnsinn«, sagte Jack und drückte sich gegen die Hecke. »Die Kavallerie.«

»Danke, Alice.« Trudy, die älteste Boyle, war vierzehn, sie trug ein orangefarbenes T-Shirt zu ihren leuchtend roten Haaren – und litt unglücklicherweise unter leuchtend roter Akne. Und das kastanienbraune Pony trug auch nicht gerade zur Farbgestaltung bei. Sie sah aus, als würde sie gleich in Flammen aufgehen. »Lee ist runtergefallen.«

»Ist das Ronnie oder Reggie?«, fragte ich sie. »Ich kann die beiden einfach nicht auseinander halten.«

»Hat er dich gebissen?«

»Er hat's versucht.«

»Dann ist es Ronnie. Wir wollten dich besuchen, Alice. Dad lässt ausrichten, dass am Montag der Schmied zu uns kommt, und er würde deine beiden auch beschlagen, wenn du sie rüberbringst.«

»Super. Sag ihm, ich werde da sein.«

Ein kleiner, völlig verstaubter Junge trottete um die Ecke und schlug mit seiner Reitgerte auf die Grasnarben am Straßenrand ein. »Da ist er«, sagte Trudy. »Komm schon, Lee, du Trottel.«

»Immer macht sie sich über mich lustig«, beschwerte sich Lee und nahm mir Ronnies Zügel ab. Das Pony zwickte ihn in den Arm. »Autsch! Verdammte Scheiße!«

Ich schaute ihn stirnrunzelnd an.

»'tschuldigung, Alice. Kannst du ihn noch mal halten?«

Ich schubste Ronnie, damit er von meinen Füßen ging. »Schnell, steig auf.«

Wir verabschiedeten uns und sahen ihnen nach, als sie davonritten. Jack sagte: »Mein Gott, das ist Norman Thelwells schlimmster Albtraum. Turnschuhe, keine Reitkappen, Ponys, die nach diesen Gangstern, den Kray-Zwillingen, heißen ...«

»Das kommt von ihrem Dad. Fred Boyle. Er hat für sie gearbeitet. Sagt er. Vielleicht waren es auch die anderen Schurken, die Richardsons. Jedenfalls, bevor er hierher kam.«

Leichen in Autos in Seen versenkt, dachte ich und fügte hastig hinzu: »Ist wahrscheinlich alles Unsinn.«

Jack zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Ich bin froh, dass du nicht so pferdenärrisch bist, Alice.«

»Was meinst du?«

»Du weißt schon. Kantiges Gesicht, Riesenhintern. Wie diese Springreiter.«

»Die meisten sind Männer.«

»Ja, schon. Aber die haben auch breite Hintern«, sagte Jack, kam neben mich und legte eine Hand auf meinen Hintern. »Du allerdings nicht.«

Eustace zog mich schnüffelnd auf die andere Straßenseite, weg von Jack. »Fred Boyle leidet auch an der Krankheit der wandernden Hände«, sagte ich über die Schulter.

»Ach wirklich?« Kaum hatte Jack mich eingeholt, folgte Eustace, die Nase am Boden und unbeirrbar, im Zickzack einer neuen, unsichtbaren Spur. »Verdammte Töle. Das macht er mit Absicht.«

»Er hat uns doch völlig vergessen.«

»Was sollte das alles über letzte Nacht?«

»Also erinnerst du dich doch. Ich war mir nicht sicher.«

»Ich erinnere mich an dieses Ungeheuer, das sich aufgeführt hat wie der Hund von Baskerville. Du solltest ihn nicht in deinem Bett schlafen lassen. Es ist unhygienisch.«

»Aber schön.«

»Nicht so schön wie mit mir.«

»Wer sagt das?«

»Es war toll mit uns beiden, Alice.« Jack sah verletzt aus. »Weißt du nicht mehr?«

»Mmmm ...« Ich tat so, als zermarterte ich mir das Hirn. »Es nützt nichts. Du musst mir helfen.«

»Wie, hier?« Jack holte mich ein und legte den Arm um mich. »Nichts lieber als das, aber findest du nicht, wir sollten warten, bis wir zu Hause sind? Nur falls der Ponyklub zurückkommt.«

»Der Ponyklub würde die Boyles nicht näher als eine Meile an sich heranlassen«, sagte ich.

Wieder nahm Eustace eine Fährte auf, zerrte mich vorwärts und brachte Jack aus dem Gleichgewicht.

»Ich habe mir nie viel aus Pferden gemacht«, sagte er. »Große, haarige Dinger. Komisch, wenn man bedenkt, dass mein Vater Buchmacher war.«

»Das wusste ich gar nicht.«

»Warum solltest du auch. Sid Flowers war sein Name. Er war nur auf der Rennbahn tätig, hatte keinen Laden oder so was. Ich habe immer gerne gespielt. Deswegen bin ich Mitglied im Klub geworden. – Dort gab es das beste Kasino. Und die aufreizendsten Mädchen natürlich.«

»Gehst du immer noch hin?«

Jack schüttelte den Kopf. »Nur noch Araber dort. Ganz London ist voll davon. Verdammte Schlappschwänze.«

Eustace versuchte, sich auf das Huhn in der Tüte zu stürzen, und Jack versetzte ihm einen Schlag auf die Schnauze. Er legte sich mitten auf die Straße und schmollte. »O Gott, jetzt wird er sich keinen Meter mehr bewegen.«

»Gut.« Jack fing an, mich zu küssen. »Es liegt an der Hitze«, murmelte er in meine Haare. »Als ich dich gestern Nacht gesehen habe ...« Ich entzog mich ihm, griff nach seiner Sonnenbrille, nahm sie ihm ab und trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen.

Sein Blick war nicht mehr leer oder verwirrt, nur noch verliebt. Der alte Jack. Ich kann Lenny nicht mehr wehtun, dachte ich. Ich hatte weder Angst, noch war ich paranoid oder so, nur ... na ja, ich wollte ihn. So einfach war das.

»Was ist?«, fragte er.

Irgendwo in meinem Hinterkopf sagte eine Stimme, dass es keine gute Art von Erregung war, aber ich war erregt.

»Was ist los, Alice?«

Ich zögerte, dann dachte ich, zum Teufel damit, und erwiderte seinen Kuss. »Nichts.«

Es war derselbe Effekt, den die beiden schon immer auf mich gehabt hatten. Lenny und Jack. Jack und Lenny. Ich konnte nichts dagegen tun.

»Du bist wunderbar. Was um alles in der Welt hat dich dazu gebracht, diesen Fotografen zu heiraten?«

»Weiß ich auch nicht mehr. Ach ja. Bei ihm gab's Sammelmarken.«

Er lachte und zauste meine Haare. »Du alberne Gans.«

»Komm«, sagte ich, »bevor wir einen Sonnenstich kriegen.«