Wir lagen nebeneinander, jeder den Kopf aufs Kissen gestützt, und starrten an die Decke. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Das passiert schon mal.«
»Mir nicht. Niemals«, widersprach Jack.
»Oh, Liebling, es macht nichts.«
»Natürlich macht es was, verdammter Mist.«
»Es ist wahrscheinlich einfach zu heiß, mehr nicht.«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Jetzt sprach er in dem gleichen verwirrten Tonfall wie vergangene Nacht, als er in mein Zimmer gekommen war.
Ich rollte mich auf die Seite und legte den Kopf auf seine Brust. »Als ich gesagt habe, dass ich mich nicht mehr erinnere – ich meine, an uns beide –, habe ich das nicht ernst gemeint. Das weißt du doch, oder?«
»Du musst deswegen nicht nett zu mir sein.«
»Bin ich nicht, denn es stimmt. Es war toll und wird wieder so sein.«
Ich spürte sein Kinn in meinem Haar, als er den Kopf schüttelte. »Ich bin am Ende, Alice.«
»Was steht an?«
Jack lachte bellend.
»Tut mir Leid. Ich meinte, was ist los?«
Er seufzte. »Dieser Film, nach dem du mich gefragt hast, Lehrerschätzchen. Ich wusste sehr wohl, um was es ging, und habe die Rolle nur angenommen, weil ich nichts anderes kriege. Es war der einzige Job, der mir im letzten Jahr angeboten wurde, der und noch so einer.«
»Was war das andere?«
»Das musst du nicht wissen.«
»Oh, doch.«
»Wer hat den Größten. Das war der Titel. Es ging um eine Blumen- und Gemüseshow. Lauter geile Landfrauen veranstalten einen Wettstreit, wer den größten Gartenkürbis zustande bringt, und da ist natürlich ein junger Sexprotz, der ihnen beim Gärtnern hilft. Der übliche, langweilige alte Quatsch, sie jagen ihn um die Karottenbeete, sein wackelnder Hintern zwischen Himbeersträuchern. Wie ich schon sagte, man will es gar nicht wissen.«
»Und was ist jetzt? Du hast gesagt, du lernst eine Rolle für ein Theaterstück.«
»Charlies Tante.« Er griff nach einem Buch auf dem Nachttisch und hielt es mir unter die Nase. »Bedien dich. Die Proben fangen nächste Woche an, dann geht's auf Tournee. Windsor, Brighton und noch ein paar Orte, danach kommt es nach Richmond und ins West End, wenn es überhaupt gut wird, was ich bezweifle.«
Ich drehte mich auf den Bauch und fing an, in dem Buch zu blättern. »Wer bist du?«
»Charlies Tante. Lord Fancourt Babberly.«
»Da musst du ein Kleid tragen.«
»Zu mehr bin ich heutzutage auch nicht fähig.«
»Ach hör auf ...« Ich drehte das Buch um und las den Text auf dem Einband. »Es klingt ganz lustig.«
Jack schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er leise: »Ich glaube nicht, dass ich es machen kann.«
Ich setzte mich auf und sah ihn an. »Was meinst du?«
»Das Stück. Schon der Gedanke daran jagt mir Todesangst ein. Ich schaffe das nicht.«
»Warum nicht? Es ist doch ein gutes Stück, oder?«
»Ein sehr gutes. Zehnmal besser als der Mist, der sonst im West End gespielt wird. Da hat Findlater ausnahmsweise mal Recht.« Jack seufzte. »Er sagt mir die ganze Zeit, ich bräuchte ein Comeback, als wüsste ich das nicht selber, und liegt mir mit neuen Richtungen in den Ohren. Er meint natürlich, dass das die Gelegenheit ist, zu beweisen, dass ich auch ohne Lenny jemand bin. Der Idiot ist jetzt seit sechs Jahren tot, und die Leute glauben immer noch, wir wären an der Hüfte zusammengewachsen. Als würde ich eine Leiche hinter mir herziehen. Das habe ich oft genug getan, solange er lebte.«
»Jack, bitte nicht.«
»Alice, ich habe ihn jahrelang mitgeschleppt.«
»Das ist nicht fair.«
»Zwei Jahre, mindestens. Weißt du, was er getan hat, Alice, als wir in den Staaten waren? Er ist mitten in der Nacht verschwunden, und man hat ihn völlig besoffen und torkelnd auf der Autobahn aufgelesen. Verdammt große Laster kamen direkt auf ihn zu, und er konnte sich kaum aufrecht halten. Und das passierte drei-, viermal in der Woche.
Ich bin ihm daraufhin immer nachgegangen. Ich glaubte, ich könnte mit ihm reden – weiß Gott, warum ich dachte, er würde mir zuhören. Ich stand auf der Straße, schrie mir die Seele aus dem Leib, wich wie ein Stierkämpfer den Autos aus bei dem Versuch, zu ihm zu kommen, und wenn ich es endlich geschafft hatte, ließ er mich nicht an sich ran. Ich meine, er stieß mich richtig weg, der Verkehr war ihm scheißegal. Er war an dem Punkt angelangt, an dem ihm alles egal war. Das Einzige, was ihn noch interessierte, abgesehen vom Trinken, war das Drehbuch. Er war wie besessen von einzelnen Sätzen, zeigte sie immer wieder allen möglichen Leuten am Set und fragte: ›Ist das komisch? Glaubst du, dass das lustig ist?‹ Egal ob es irgendein Elektriker oder eine Maskenbildnerin war. Was sollten sie sagen? Ich hätte ihm sagen können, dass es ganz und gar nicht komisch war, wenn man es richtig bedachte, sondern tragisch.
Die Hälfte der Zeit wusste er nicht, was er tat, sah nicht mal die Kamera. In der Nacht, ehe sie ihn feuerten, habe ich ihn nach einer Ewigkeit aufgespürt, ich stand irgendwo am Straßenrand und sah zu, wie er sich durch den Verkehr schlängelte, und ich dachte: Ich kann da nicht hingehen, ich habe eine Familie ...«
Jack hielt inne und schloss die Augen, als wollte er die Tränen zurückhalten, dann sagte er schnell: »Ich habe ihn nur angeschrien. ›Mach schon‹, brüllte ich, ›bring dich doch um, es kümmert mich einen Dreck.‹ Sie haben ihn durch einen Komiker namens Bugsy Duffit ersetzt, einen Amerikaner alter Schule. Er war zwar nicht W C. Fields, aber er war in Ordnung. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Wahrscheinlich nichts Besonderes.
Alle Szenen mit Lenny wurden nachgedreht, obwohl sie gewusst haben müssen, dass der Film ein Flop war, denn in Amerika ist er nie gelaufen, geschweige denn irgendwo anders. Ich funktionierte wie auf Autopilot. Es gab einen Punkt, da wusste ich nicht mehr, was ich sagte.«
Ich wusste, ich würde anfangen zu weinen, wenn ich über Lenny redete, deshalb sagte ich: »Aber wenn das ein gutes Stück ist, warum ...«
»Herrje, Alice! Ich. Kann. Keinen. Flop. Brauchen. Kapiert?«
»Aber warum sollte es ein Flop werden?«
»Du hast ja keine Ahnung, wie es ist. Jede Nacht die gleiche Leier. Ich glaube nicht, dass ich das schaffe, das ist alles.«
Jack setzte sich auf, die Arme auf den Knien, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, und sagte: »Diese Kinder, die wir getroffen haben, hatten keine Ahnung, wer ich bin. Vor fünf Jahren hätten sie mich sofort erkannt. Das da ...« Er versetzte Charlies Tante einen Schlag, »ist meine letzte Chance. Das weiß ich.«
»Na ja, vielleicht hast du ein besseres Gefühl, wenn du versuchst, den Text zu lernen. Ich kann dir helfen. Ich meine, wenn es dann leichter ist.«
Jack legte den Arm um mich. »Du bist süß.«
Bei seinen Worten merkte ich, wie sehr mir das gefehlt hat. Mit jemandem im Bett zu liegen, zu kuscheln, berührt zu werden. Plötzlich hatte ich ein Bild vor Augen: Lenny und ich nebeneinander im Bett, wie wir uns die unsinnigsten Wörter an den Kopf werfen und lachen und lachen. Und dann schieben sich andere Bilder davor, ohne dass ich es verhindern kann: Lenny, wie er in den frühen Morgenstunden die Treppe heraufpoltert, mit einer Alkoholfahne ins Bett fällt, anfängt zu fummeln, ohne zuzuhören, in der Annahme, dass ich es genauso will wie er, und dann nicht kann – wie es immer seltener geschah und schließlich ganz aufhörte und ich es vermisste, nicht weil ich gerne gewollt hätte, sondern weil es Kontakt bedeutete und – und weil ich ihn so sehr liebte, und ich habe wirklich versucht, ihm keine Schuld zu geben, und wenn ich heute zurückdenke, habe ich wahrscheinlich alles falsch gemacht, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte ... Und als er tot war, dachte ich, es sei meine Schuld. Ich schloss ganz fest die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Alice? Ist alles in Ordnung?«
»Was? Oh, entschuldige, ich war ganz woanders.«
»Sei ein gutes Mädchen und hol mir meine Zigaretten, ja? Sie sind in der Küche.«
»Na gut.« Ich war so froh, einen Grund zu haben, das Zimmer zu verlassen, dass ich aus dem Bett sprang und hinunterrannte, ohne mir die Mühe zu machen, etwas anzuziehen. Außer Eustace war niemand zu sehen, und der döste jenseits von Gut und Böse in der Diele. Er öffnete träge ein Auge, um zu schauen, wer da kam, dann schlief er weiter.
Eine Spur von hastig ausgezogenen Kleidern führte von der Küche bis zum Fuß der Treppe. Jacks Schuhe, seine Hose, meine Flipflops, meine Shorts, sein Hemd, mein T-Shirt erzählten eine kleine Geschichte über das, was geschehen war. Oder eher, was nicht geschehen war. Auf dem Tisch stand eine volle, braune Papiertüte mitten in der Sonne: Jacks Huhn und der Schinken. In der Hoffnung, dass beides noch genießbar war, stellte ich die Tüte in den Kühlschrank.
Jacks Hose lag an der Tür auf dem Boden, ich hob sie auf und tastete nach Zigaretten und Feuerzeug – nichts. Stattdessen fand ich einen Umschlag. Geöffnet. Neugierig zog ich ihn heraus und sah ihn mir an. Er war an mich adressiert.